bpb.de: Sie beschäftigen sich beide mit Jugendkriminalität – aus unterschiedlichen Perspektiven: Herr Reinecke, Sie als Wissenschaftler und Soziologe; Herr Kuperion, Sie als Jugendrichter. Wo sehen Sie beide zurzeit das dringendste Problem beim Thema Jugendkriminalität?
Stephan Kuperion: Das dringendste Problem sehe ich in der Erwartungshaltung der Politik und der Gesellschaft. Da wird erwartet, dass wir hier am Jugendgericht das verkorkste Leben eines Jugendlichen mit ein, zwei oder drei Prozessen wieder in die entsprechenden Bahnen lenken. Aber die Problemerkennung müsste viel früher einsetzen, noch weit vor den Straftaten, die sich oft ankündigen. Und natürlich haben wir auch das Problem, dass wir im Jugendstrafvollzug nicht das tun können, was wir tun könnten oder auch müssten. Denn hier fehlen die entsprechenden Ressourcen.
Jost Reinecke: Das sehe ich ähnlich. Der präventive Aspekt beim Phänomen Jugendkriminalität ist ungeheuer wichtig. Wir können anhand von Untersuchungen zeigen, dass man da, wo die Entwicklung bei Jugendlichen schiefläuft, schon frühzeitig mit Maßnahmen eingreifen könnte und müsste – zum Beispiel durch Sozialarbeit. Die polizeiliche oder justizielle Kontrolle wäre dann gar nicht nötig.
Die Forderung nach mehr Prävention ist nicht neu. Warum passiert auf diesem Gebiet nicht mehr? Warum gibt die Politik nicht mehr Ressourcen frei?
Kuperion: Da bin ich der falsche Ansprechpartner. Aber ich glaube, dass die Politik vor Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendkriminalität zurückschreckt, eben weil es ein Problemfeld ist, dem sie nie wirklich Herr werden kann. Es gibt kein Land, keine Insel auf dieser Welt ohne Kriminalität. Auch nicht ohne Jugendkriminalität. Ich würde mir mehr Ressourcen für Präventionsarbeit wünschen. Auch weil die Bevölkerung ein gewisses Unbehagen und Angstgefühl entwickelt ob dieser Vorfälle von Jugendkriminalität, die wir gerade auch in Berlin haben. Zum Beispiel Überfälle an Bahnhöfen: Von der Politik wird ein Rückgang der Zahlen propagiert. Diese Sichtweise kann ich nicht nachvollziehen. Denn es geht immer um einzelne Fälle und um einzelne Opfer. Ob das nun 80 oder 100 solcher Vorfälle sind. Jedes Opfer von massiver Gewalt ist eines zu viel.
Jugendkriminalität in Berlin
2013 wurden in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) Berlin 23 781 Tatverdächtige zwischen 8 und 21 Jahren erfasst. Das waren 3,4 Prozent weniger als noch 2012 und insgesamt die niedrigste Zahl seit 2003. Auch bei den Rohheitsdelikten (Körperverletzung, Raub- und Freiheitsdelikt) kommt es seit 2007 zu einem Rückgang. 2006 gab es mit über 10 000 Tatverdächtigen zwischen 8 und 21 Jahren einen Höchststand; 2013 waren es knapp 7000. Demografische Entwicklungen können den Rückgang allein nicht erklären, denn der Anteil der unter 21-Jährigen an der Berliner Bevölkerung wächst.
Weitere Informationen: Externer Link: Polizeiliche Kriminalstatistik Berlin PKS 2013 Jahresbericht Jugenddelinquenz 2013
Dennoch: Seit wenigen Jahren ist ein Rückgang der Jugendkriminalität festzustellen. Noch ab den 1990er-Jahren bis Mitte der 2000er-Jahre hatte es einen stetigen Anstieg gegeben. Was sind die Gründe dafür, dass wir seither einen Rückgang bei der Jugendkriminalität erleben?
Reinecke: Hier muss man zunächst fragen, ob es ein „echter“ Rückgang ist. Wir haben es hier mit Hellfeld-Statistiken zu tun. Es geht also um angezeigte Kriminalität. Bei dem Rückgang kann eine gesunkene Anzeigebereitschaft eine Rolle spielen, auch demografische Entwicklungen oder eine polizeiliche Fokussierung weg von jugendlichen Straftäterinnen und Straftätern. Aber wir sehen eher einen echten Rückgang als wahrscheinlich. Das belegen auch unsere Dunkelfeld-Statistiken. Der Rückgang hat zum Teil mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun: Bei der Mehrheit der Jugendlichen nimmt die Missbilligung von Gewalt und Kriminalität unter Gleichaltrigen zu. Auch gibt es mehr Engagement gegen Gewalt und Kriminalität an Schulen. Und wir können feststellen, dass der Konsum von Gewaltmedien eher rückläufig ist.
Hell- und Dunkelfeld
Das Hellfeld umfasst Straftaten, die bei der Polizei angezeigt werden. Diese polizeilich registrierte Kriminalität ist auch Grundlage für die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Dabei handelt es sich um die Erfassung von Tatverdächtigen. Dunkelfeld-Statistiken umfassen nicht registrierte Kriminalität und damit Straftaten, die nicht angezeigt werden. Angaben zum Dunkelfeld basieren auf Befragungen zum kriminellen Verhalten.
Bleiben wir bei den jugendlichen Kriminellen. Herr Kuperion, Sie arbeiten als Jugendrichter am Amtsgericht Berlin-Tiergarten. Wer steht da im Gerichtssaal vor Ihnen? Gibt es den typischen jugendlichen Kriminellen?
Kuperion: In Berlin sind die derzeit 28 Jugendrichterinnen und Jugendrichter für einzelne Stadtbezirke zuständig. Die zwölf Bezirke sind sehr unterschiedlich geprägt. Wir haben in allen fast die gleichen Straftaten, aber natürlich haben wir Problembezirke. Dazu gehört Neukölln mit einem hohen Anteil arabischer Großfamilien. Aber Gewaltkriminalität haben wir auch in den anderen Bezirken, mit nicht minderer Brutalität. Aus unserer Sicht als Praktiker können wir keine Typisierung jugendlicher Krimineller vornehmen. Wir stellen aber fest, dass der Anteil der Gewalttäter in der Migrantenszene im Vergleich zur Bevölkerung relativ hoch ist. Insgesamt sind es aber nicht DIE Jugendlichen, die kriminell sind. Es gibt eine kleine Gruppe Jugendlicher, die viele Straftaten auf sich vereinigt und immer wieder straffällig wird. Seit einiger Zeit sind diese als Intensivtäter bekannt.
Duisburger Verlaufsstudie "Kriminalität in der modernen Stadt"
Die Studie der Universitäten Bielefeld und Münster wird in Duisburg seit 2002 durchgeführt. Zu Beginn wurden 3 411 Jugendliche anonym befragt, die im Schnitt 13 Jahre alt waren. Diese wurden bis zum 20. Lebensjahr jährlich zu ihrem delinquenten Verhalten befragt. Danach – bis zum 24. Lebensjahr – jedes zweite Jahr. Die Studie bietet damit Einblick in das Dunkelfeld, also die nicht registrierte Kriminalität. Rund 84 Prozent der Jungen und 69 Prozent der Mädchen bis zum 18. Lebensjahr gaben zu, mindestens einmal eine meist leichte oder mittelschwere Straftat wie Ladendiebstahl begangen zu haben. Die Delinquenz geht bereits ab dem 15. bis 16. Lebensjahr wieder weitgehend zurück, ohne Eingriff von Polizei oder Justiz. Die Forscher gehen davon aus, dass sich viele Ergebnisse auf andere Großstädte übertragen lassen.
Weitere Informationen:
Externer Link: http://www.krimstadt.de/
Website der Studie "Kriminalität in der modernen Stadt"
Herr Reinecke, deckt sich das mit den Ergebnissen Ihrer Studie? Sie haben in Duisburg wiederholt über mehr als zehn Jahre hinweg dieselben Schülerinnen und Schüler über ihr delinquentes Verhalten befragt. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass sich Jugendkriminalität quasi auswächst und damit ein alterstypisches Phänomen ist. Was hat ihre Studie genau gezeigt?
Reinecke: Unsere Studie ist die einzige größere Langzeitstudie in Deutschland, die auf der wiederholten Befragung der gleichen Schüler basiert. Wenn man die gleichen Personen befragt, kann man auch Veränderungen sehr gut untersuchen. Wir haben nicht nur Straftäterinnen und Straftäter befragt, sondern eine repräsentative Untersuchung Jugendlicher für die Stadt Duisburg vorgenommen. Wir können eine weite Verbreitung von Delinquenz nachweisen. Bis zum vierzehnten oder fünfzehnten Lebensjahr steigt die Delinquenz an und dann erleben wir eine Spontanbewährung, so der kriminologische Ausdruck. Der überwiegende Anteil der Delinquenz geht wieder zurück und wächst sich entwicklungstypisch aus. Das betrifft nicht die Gruppe der Intensivtäter, die Herr Kuperion angesprochen hat. Eine kleine Gruppe von Intensivtätern ist darunter, die konsistent delinquent bleibt. Aber auch diese Gruppe zeigt, zumindest in unserer Studie, rückläufige Tendenzen, was das delinquente Verhalten angeht.
Das klingt, als ob es einerseits „normale“ Jugendkriminalität gebe als alterstypisches Phänomen und andererseits einen harten Kern an Intensivtätern. Was braucht es denn, um die einen nicht zu hart zu bestrafen und aus der Bahn zu werfen und die anderen früh und konsequent zu erreichen?
Kuperion: Ja, das ist das große Problem. Alle Entscheidungen und erzieherischen Maßnahmen sind letztlich nichts anderes als Prognose-Entscheidungen. Natürlich gibt es einen Großteil von jungen Menschen, für die Kriminalität eine Episode ist und die ein gewisses Maß an Intensität gar nicht überschreiten. Dagegen muss man nicht mit aller Härte vorgehen. Wobei keiner von uns Härte fordert, in dem Sinne, dass wir sagen, unter sechs Monaten Jugendstrafe läuft gar nichts. Entscheidend ist die Konsequenz. Und was noch wichtiger ist als die erzieherischen Maßnahmen ist der Umstand, was passiert, wenn ein Jugendlicher der erzieherischen Maßnahme fernbleibt. Da krankt es in vielen Bereichen. Es dauert sehr lange, bis etwas passiert, wenn etwa die Freizeitmaßnahme oder das Anti-Gewalt-Seminar nicht absolviert werden. Oder in einer Weise, die nicht sinnvoll ist. Und nochmal: Es gibt Anzeichen, die noch vor der Straftat liegen. Auffälligkeiten in der Schule, Schulversäumnisse. Nicht jeder Schulschwänzer wird zum Intensivtäter, aber eines ist klar, die Schulsäumnis ist ein Alarmzeichen. Wir müssten zum Beispiel viel mehr Betreuung durch Sozialarbeiter und Psychologen an den Schulen haben. Wir haben auch noch lange nicht das nötige Ausmaß an Zusammenarbeit zwischen Jugend- und Familiengerichten erreicht. Da laufen oft Maßnahmen parallel oder sogar gegeneinander.
Reinecke: Dazu habe ich volle Zustimmung. Man muss viel früher eingreifen. Hier hat die Politik das Instrumentarium, um etwas zu tun. Es geht nicht darum, Strafen härter zu machen. Es geht um die Koordination von Maßnahmen. Gerade auch beim Schulschwänzen: Das ist einer der frühen Indikatoren, wo man sagen kann, hier läuft etwas falsch.