Fast jede dritte Familie mit minderjährigen Kindern und rund ein Drittel der unter 18-Jährigen in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Wie viele von ihnen im Kontext von Flucht und Asyl nach Deutschland gekommen sind, ist nicht exakt nachvollziehbar. Ihre familiären Lebenslagen sind aufgrund unterschiedlicher Flucht- und Aufnahmebedingungen sowie diverser soziokultureller Hintergründe und Familienkonstellationen vielfältig. Fest steht, dass gegenwärtig wieder zahlreiche Menschen aufgrund existenzieller Konflikte die Flucht ergreifen und ihre Heimat verlassen müssen. Im Vergleich zu den von diesen Kriegen direkt betroffenen Nachbarstaaten (wie dem Libanon oder der Türkei) oder den EU-Außenstaaten (wie Malta oder Griechenland) gelangen jedoch wenige Flüchtlinge bis nach Deutschland. Je nach asyl- und aufenthaltsrechtlichem Status sind ihre Lebenslagen dann dauerhaft sicher, vorübergehend sicher oder insgesamt unsicher.
Bangen zwischen Rückkehr und Neuanfang
Flüchtlingsfamilien im Asylverfahren oder mit Duldung (das heißt mit einer temporär ausgesetzten Abschiebung) leben unter besonders belastenden Umständen, da unter anderem die Wahl des Wohnorts, der Zugang zu Bildung, Arbeit und medizinischer Versorgung, sowie der finanzielle Spielraum rechtlich stark begrenzt werden. Zurzeit leben rund 113 000 Menschen mit Duldung in Deutschland; im Jahr 2014 wurden 202 834 Asylanträge gestellt (davon waren 173 072 Erstanträge und 29 762 Folgeanträge). Das generelle Arbeitsverbot für Flüchtlinge wurde seit 2000 im Vergleich zu früheren Jahrzenten zunehmend gelockert. Neuregelungen sehen vor, dass das absolute Beschäftigungsverbot auf drei Monate beschränkt wird. Außerdem soll nach 15 Monaten eine Beschäftigung im gesamten Bundesgebiet auch ohne Vorrangprüfung erlaubt werden – durch diese Prüfung wird ermittelt, ob es für eine freie Stelle nicht auch einen geeigneten deutschen Bewerber gibt.
Geduldete Familien müssen teils über viele Jahre (oder auch Jahrzehnte) mit der rechtlichen Unsicherheit zwischen der Hoffnung auf Rückkehr und einem Neuanfang in Deutschland leben. Flüchtlinge, die vor der Polizei untergetaucht sind, um einer Abschiebung zu entgehen, leben weitgehend rechtlos und unter extrem prekären Umständen. Selbst Flüchtlingsfamilien, die über humanitäre Aufnahmeprogramme eingereist sind, leben hier unter prekären Umständen – trotz formeller Arbeitserlaubnis und Sprachförderung. So finden beispielsweise die zugebilligten Sprach- und Integrationskurse erst nach langer Wartezeit statt. Viele leben über Monate in Sammel- beziehungsweise Massenunterkünften für Asylbewerber, da die Kommunen keinen Wohnraum bereitstellen können.
Außerdem bleibt nach der Flucht – neben einem Leben in großer Verunsicherung und mit zum Teil schwerer Traumatisierung – die Herausforderung, eine neue Sprache, Gesellschaft und Kultur zu bewältigen. Flüchtlinge sind dabei nicht selten alltäglich und strukturell mit offenen und versteckten Formen von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus oder auch Islamophobie konfrontiert. Nicht nur in diesem Zusammenhang prangern Menschenrechtsorganisationen regelmäßig Menschenrechtsverletzungen an.
Eltern-Kind-Verhältnis in Flüchtlingsfamilien
Eltern und Kinder mit Fluchthintergrund bringen meist eigene Vorstellungen von Familie, Elternschaft und Erziehung aus ihrem Herkunftskontext mit, die in Deutschland bisweilen auf Unverständnis treffen, anders gehandhabt oder erwartet werden. Gemeinsam ist den Eltern, dass sie ihren Kindern in einer schwierigen Lebenslage nicht nur Schutz und Sicherheit bieten wollen, sondern auch gute Entwicklungs- und Bildungsperspektiven.
Dabei verändern sich oftmals ihre Elternrollen und -erwartungen. Väter können ihre traditionelle Rolle als Familienernährer als große Belastung empfinden. Häufig können sie diese wegen der Hürden im Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt faktisch auch gar nicht ausüben. Meist obliegt den Müttern die Verantwortung für die Kindererziehung, doch auch sie suchen zügig Wege in den Arbeitsmarkt. Zugleich werden die "mitgebrachten" teilweise (hohen) Bildungs- und Berufsqualifikationen in Deutschland in der Regel nicht oder nur (teil-)anerkannt.
Eltern und Kinder, die aufgrund der Bedrohung und/oder dem Erleben von psychischer und physischer Gewalt und Verfolgung aus ihrem Heimatland fliehen mussten, sind häufig traumatisiert. Hinzu kommen Traumata, die während der Flucht, in Flüchtlingscamps oder auch im Aufnahmeland entstehen. Einige Untersuchungen weisen übereinstimmend nach, dass sich Traumatisierungen auf die elterliche Erziehung(skompetenz) auswirken und Störungen des Verantwortungsbewusstseins hervorrufen können. Eltern fällt es dann sehr schwer, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen und ihnen Grenzen aufzuweisen. Sie fühlen sich überfordert, hilf- und machtlos und orientieren sich beispielsweise an "patriarchalischem Verhalten", dem Verbergen von Gefühlen oder an einer unbewussten Weitergabe der Probleme an die Kinder. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass Kinder in Flüchtlingsfamilien mit überdurchschnittlich viel Gewalterfahrungen aufwachsen oder dass die erlebte Gewalt innerfamiliär weiter gegeben wird.
Geschwächte Eltern – überlastete Kinder!?
Flüchtlingskinder werden häufig als "unsichtbare Kinder" und "kleine Erwachsene" beschrieben. Sie erleben ihre Eltern oft nicht mehr als starke Persönlichkeiten, die sie schützen und alles im Griff haben und fühlen sich deshalb selbst für alles verantwortlich. Sie unterstützen ihre Eltern und wollen ihnen nicht zur Last fallen. Dies kann auch zu Überforderungen der Kinder führen, so zum Beispiel, wenn Kinder als Dolmetscher und Vermittler bei Behördengängen, Elternabenden/-gesprächen oder auch Arztterminen eingesetzt werden.
Andererseits zeigen viele Studien eine enge emotionale Verbundenheit mit der Familie und einen starken Zusammenhalt innerhalb der Familie, was für die Bewältigung der Fluchterfahrung und Aufnahmesituation eine wichtige Ressource darstellt. Die erlebten Belastungen können, auch wenn sie zunächst negativ anmuten, bei Kindern aus traumatisierten Flüchtlingsfamilien gleichzeitig auch frühe Selbstwirksamkeit, Reife und Selbstvertrauen bewirken, was unter günstigen Vorzeichen den Bildungserfolg verstärkt. Die Flucht selbst und das Leben in einem unsicheren Status können bei Kindern und Jugendlichen zu einer Ausprägung besonderer Kenntnisse und Fähigkeiten führen und einen "Habitus der Überlebenskunst" (Seukwa 2006) befördern. Eltern und Kinder sind trotz schwieriger und prekärer Lebenslagen immer auch handlungsfähige Subjekte.
Trotz (oder gerade wegen) dieser vielen Herausforderungen belegen diverse Studien, dass positive familiäre und institutionelle Bedingungen das Aufwachsen von Flüchtlingskindern unterstützen können. Schule und Kita können für Kinder und Jugendliche einen eigenen Ort jenseits traumatisierender Erlebnisse und Erinnerungen darstellen und ihnen somit Entwicklungsperspektiven anbieten. Doch stehen hier pädagogische Fachkräfte häufig vor dem Dilemma zwischen faktischer Perspektivlosigkeit im Alltag von Flüchtlingskindern und dem pädagogischen Ziel, individuelle Zukunfts- und Entfaltungsmöglichkeiten zu entwickeln. Auch können die fehlende Vertrautheit mit den Erwartungen des Schul- beziehungsweise Bildungssystems, Hürden im Zugang zum Bildungs- und Ausbildungssystem und anderes mehr die Bildungsperspektiven von Flüchtlingen erheblich beeinträchtigen. Unter weiteren Druck kann die Familie geraten, wenn von den Schul- und Integrationsleistungen der Kinder der Aufenthalt der gesamten Familie abhängig ist, wie es neue Gesetze vorsehen.
Es braucht differenzierende Angebote und mehr Fachpersonal
Viele Flüchtlinge suchen über ihre sozialen und familiären Netzwerke hinaus den Kontakt zu Kulturvereinen, Kirchen, Moscheevereinen, internationalen Eltern- und Frauenvereinen, um Orientierung, Austausch, Hilfe und Informationen zu bekommen. Die Unterstützung von Flüchtlingsfamilien beispielsweise bei Behördengängen, Arztterminen, Wohnungssuche und so weiter findet häufig ehrenamtlich organisiert (zum Beispiel durch Sprach- und Kulturmittler) statt. Neben Sprachkursangeboten bieten einige Wohlfahrtsverbände (unter anderem Caritas oder Diakonie) und Nichtregierungsorganisationen (wie zum Beispiel Pro Asyl) kostenlose Beratungen zum Asyl- und/oder Anerkennungsverfahren an und versuchen Abschiebungen zu verhindern.
Doch Eltern und Kinder brauchen mehr. Sie sind auf differenzierende und sensible Förder- und Unterstützungsangebote in ganz besonderem Maße angewiesen, eben aufgrund ihrer Fluchterfahrung und dem unsicheren Leben in Deutschland – insbesondere in der Phase bis zur Flüchtlingsanerkennung als Asylsuchende. Bedingt durch hohe psychosoziale Belastungen bis hin zu Traumata ist ein ausreichender Zugang zur medizinischen beziehungsweise psychotherapeutischen Versorgung zu entwickeln. Viele Behandlungszentren sind jedoch seit Jahren völlig überlastet und pädagogisches Fachpersonal im Erziehungs- und Bildungssystem verfügt über mangelnde Expertise. Verständigungsschwierigkeiten erschweren zusätzlich das Erkennen von Traumatisierungen und psychischen Erkrankungen. Ziel sollte es sein, frühzeitig nach der Ankunft in Deutschland den Flüchtlingsfamilien auch migrations- und kultursensible Angebote der Familien- und Elternbildung zu ermöglichen. Das Erziehungs- und Bildungssystem muss die Bedürfnisse, aber auch die formellen und informellen Kompetenzen und Ressourcen von Eltern und Kindern (insbesondere von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen) wahrnehmen. Es sind Fähigkeiten, die die Menschen mitgebracht oder während der Flucht und in der Aufnahmesituation häufig unter enormen Anstrengungen entwickelt haben.
Weiterführende Literatur
Behrensen, B./ Westphal, M.(2009): Junge Flüchtlinge – ein blinder Fleck in der Migrations- und Bildungsforschung. In: Krappmann, L. et al. (Hg.): Bildung für junge Flüchtlinge – ein Menschenrecht, Bielefeld.
Behrensen, B./ Westphal, M. (2009): Beruflich erfolgreiche Migrantinnen. Rekonstruktion ihrer Wege und Handlungsstrategien. In: IMIS-Beiträge, 35, Osnabrück.
Irmler, D. (2009): Schwer traumatisierte Flüchtlingskinder, -jugendliche und ihre Familien als Zielgruppe der Resilienzförderung. In: Sozial Extra, 33, S. 26-32.
Lennertz, I. (2011): Trauma und Bindung bei Flüchtlingskindern. Erfahrungsverarbeitung bosnischer Flüchtlingskinder in Deutschland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Polat, A. (2013): Traumatisierung und Sozialisation – wie werden Verfolgungserfahrungen innerfamiliär tradiert? In: Migration und Soziale Arbeit, 04, S. 370-380.
Seukwa, L. H. (2006): Der Habitus der Überlebenskunst. Zum Verhältnis von Kompetenz und Migration im Spiegel von Flüchtlingsbiographien. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann.
UNICEF/Berthold, T. (2014): IN ERSTER LINIE KINDER. Flüchtlingskinder in Deutschland, Köln.
Weiterführende Links
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Externer Link: http://www.bamf.de/DE/Startseite/startseite-node.html
Bundesministerium des Innern (BMI) (2014): Humanitäre Aufnahmeprogramme des Bundes Externer Link: http://www.bmi.bund.de/DE/Themen/Migration-Integration/Asyl-Fluechtlingsschutz/Humanitaere-aufnahmeprogramme/humanitaere-aufnahmeprogramme_node.html
Institut für Menschenrechte (2014): Deutsche Asylpolitik: Gesetzesvorhaben unter-laufen Menschenrechte von Flüchtlingen (PDF) Externer Link: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detailansicht.html?tx_commerce_pi1%5BshowUid%5D=522&cHash=9d7fdb93950b723a41d5f995f60f092a
Mediendienst Integration Externer Link: http://mediendienst-integration.de
Niedersächsischer Flüchtlingsrat. Leitfaden für Flüchtlinge in Niedersachsen Externer Link: http://www.nds-fluerat.org/leitfaden/