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Menschenrechte unter Druck: Wie frei ist die Zivilgesellschaft?

Jonas Wolff

/ 8 Minuten zu lesen

Der Handlungsraum für zivilgesellschaftliche Akteure wird weltweit kleiner. Im Fokus stehen Einschränkungen der Versammlungs-, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit. Was sind die Gründe dafür? Und warum ist die Einordnung als Menschenrechtsverletzung nicht so einfach wie es auf den ersten Blick scheint?

Demonstrierende tragen georgische Nationalflaggen und EU-Flaggen während einer Protestaktion der Opposition gegen das „russische Gesetz“ im Zentrum von Tiflis, Georgien, am 14. Mai 2024. (© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Shakh Aivazov)

Gegenwärtig bestimmen Krisendiagnosen die Debatte um den globalen Zustand der Demokratie. Von einer demokratischen „Rezession” oder „Regression“ ist dabei die Rede, mitunter auch von einer „Welle der Autokratisierung”, die die Welt erfasst habe. Im Zentrum dieser Debatte steht das Phänomen der sogenannten Shrinking Civic Spaces: Seit den frühen 2000er Jahren beobachten Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen eine weltweite Zunahme staatlicher Maßnahmen, die die Organisations- und Handlungsfähigkeit zivilgesellschaftlicher Akteure einschränken. Das gängige Spektrum restriktiver Maßnahmen reicht dabei von der Delegitimierung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) als Interner Link: „ausländischen Agenten“ über administrative Schikanen, die NGOs das Leben schwer machen, bis hin zu Einschränkungen zentraler Finanzquellen aus dem Ausland (foreign funding) sowie der Kriminalisierung und gewaltsamen Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Akteure.

Der gegenwärtige Trend der Einschränkung zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume begann mit der Verabschiedung restriktiver NGO-Gesetze im post-sowjetischen Raum in Reaktion auf die Interner Link: „Farbrevolutionen” in Georgien (2003), Ukraine (2004) und Kirgistan (2005). Schnell wurde daraus aber ein weltweites Phänomen, dass sich in allen Weltregionen beobachten lässt und Länder unterschiedlichster politischer Regime und Wohlstandsniveaus erfasst hat.

Die Forschung verweist weiterhin auf drei allgemeine Ursachen, die zur Verbreitung von Shrinking Civic Spaces beigetragen haben. Erstens führte der so genannte Interner Link: „Krieg gegen den Terror“ in Folge der Anschläge vom 11. September 2001 zu Politiken und repressiven Sicherheitsdiskursen, die sich im Namen der Terrorismusbekämpfung mitunter auch gegen zivilgesellschaftliche Akteure und ihre (Auslands-)Finanzierung wenden. Zweitens führten neben den genannten „Farbrevolutionen“ auch die Externer Link: späteren Aufstände in der arabischen Welt zu präventiven Gegenmaßnahmen politischer Regime, um entsprechende zivilgesellschaftliche Protestbewegungen und deren internationale Unterstützung zu unterbinden. Drittens spielt die Verschiebung globaler Machtverhältnisse und konkret die Interner Link: wachsende Rolle Chinas eine Rolle, erleichtern sie doch Maßnahmen, die sich gegen liberale Prinzipien wie die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wenden und etablierte Praktiken westlicher Zivilgesellschaftsförderung offen herausfordern.

Shrinking Civic Spaces als Menschenrechtsverletzungen

In der Debatte über das Phänomen der Shrinking Civic Spaces bilden die Menschenrechte den zentralen normativen Rahmen, auf den sich Wissenschaft, Politik und zivilgesellschaftliche Akteure beziehen. Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume werden dabei als Verletzung zentraler, international etablierter Menschenrechte verstanden. Konkret betroffen sind die Interner Link: Vereinigungsfreiheit, die Interner Link: Versammlungsfreiheit und die Interner Link: Meinungsfreiheit.

Dem jüngsten „Atlas der Zivilgesellschaft“ zu Folge, der sich auf Daten des CIVICUS Civic Space Monitor stützt, gilt der zivilgesellschaftliche Raum in lediglich 37 Staaten als „offen“, in 43 Staaten als „beeinträchtigt“, in 40 Staaten als „beschränkt“, in 50 Staaten als „unterdrückt“ und in 27 Staaten als „geschlossen“.

Am direktesten betroffen ist die Vereinigungsfreiheit. Die viel diskutierten Interner Link: NGO-Gesetze schränken den Zugang von NGOs zu Auslandsfinanzierung ein und/oder delegitimieren international finanzierte NGOs als „ausländische Agenten“. Sie zielen darauf ab, die Organisations- und Handlungsfähigkeit von zivilgesellschaftlichen Gruppen zu reduzieren. Wie der damalige UN-Sonderberichterstatter für Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit Maina Kiai 2013 in einem Bericht argumentierte, verstoßen solche Einschränkungen in aller Regel klar gegen die Vereinigungsfreiheit. Das gilt genauso für das breite Spektrum rechtlicher, administrativer und außerrechtlicher Maßnahmen, die die Vereinigungsfreiheit einschränken - durch übermäßig komplizierte Berichtspflichten, komplexe und politisierte Verwaltungsverfahren, politische Einschüchterung, Strafverfahren, die Schließung von NGOs und die Verhaftung oder gar Ermordung von Aktivist:innen. Mit Blick auf die Versammlungsfreiheit bilden Einschränkungen von Protesten das am meisten diskutierte Phänomen. Dabei geht es wiederum sowohl um allgemeinere, rechtliche bzw. administrative Restriktionen, die das Protestieren erschweren oder unterbinden als auch um die gezielte Repression konkreter Proteste und Protestgruppen durch staatliche Sicherheitskräfte. Die Meinungsfreiheit ist der Bereich, der global am stärksten von Autokratisierungstendenzen betroffen ist. Restriktionen der Meinungsfreiheit betreffen dabei zivilgesellschaftliche Akteure direkt, wirken aber vor allem indirekt. Indem Staaten gegen unabhängige Medien und individuelle Journalist:innen vorgehen, erschweren sie breitere Prozesse gesellschaftlicher Mobilisierung, die auf dem Zugang zu einer pluralen öffentlichen Sphäre basieren. Zudem behindern Einschränkungen der Meinungsfreiheit die Koordination unter NGOs und sozialen Bewegungen.

Die Kontroverse um Shrinking Civic Spaces als Menschenrechtspolitik

Zwar gibt es in der Debatte um Shrinking Civic Spaces einen breiten Konsens, dass es sich bei den Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume um Menschenrechtsverletzungen handelt. Bei genauerem Blick ist die Lage allerdings nicht ganz so eindeutig. Denn zivilgesellschaftliche Akteure sind immer und überall rechtlichen und administrativen Regeln unterworfen. Streng genommen ist es überhaupt erst die effektive Regulierung durch den Staat, die die Arena öffentlicher, zwischenmenschlicher Interaktion etabliert, die wir üblicherweise Zivilgesellschaft nennen. Da jegliche Regulierung stets auch einschränkenden Charakter hat, genügt das Vorliegen von Restriktionen der Vereinigungs-, der Versammlungs- und/oder der Meinungsfreiheit per se nicht, um von einem Verstoß gegen die Menschenrechte zu sprechen.

In juristischer Sprache geht es hier um die Frage, welche Arten von Freiheitsbeschränkungen unter welchen Bedingungen nach den internationalen Menschenrechtsnormen zulässig sind. Wie der bereits zitierte Maina Kiai mit Verweis auf den Externer Link: Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1976 argumentiert hat, müssen Einschränkungen einem „legitimen Interesse“ dienen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein, um als menschenrechtskonform gelten zu können. Dies sind nun aber alles andere als eindeutige Kriterien, die ohne größere Kontroverse überprüft werden können.

Noch komplizierter wird es, wenn man in Rechnung stellt, dass zumindest einige der Argumente, die zur Rechtfertigung von Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume vorgebracht werden, ihrerseits auf Demokratie- und Menschenrechtsstandards verweisen. Dies zeigt sich insbesondere in der Kontroverse um die Auslandsfinanzierung zivilgesellschaftlicher Organisationen. Hier haben Regierungen des globalen Südens einen Punkt, wenn sie betonen, dass die Unterstützung lokaler NGOs von außen potenziell nicht nur die nationale Souveränität beeinträchtigt, sondern auch ein Kernprinzip der Demokratie, die kollektive Selbstbestimmung bzw. Volkssouveränität. Ein entsprechendes Recht der Völker auf Selbstbestimmung steht in Artikel 1 des genannten Menschenrechtspakts, und es ist schwer von der Hand zu weisen, dass finanzstarke externe Akteure durch die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Gruppen demokratisch nicht legitimierten Einfluss auf innergesellschaftliche Kräfteverhältnisse nehmen.

Die politische Auseinandersetzung um Shrinking Civic Spaces lässt sich vor diesem Hintergrund zumindest auch als Ausdruck von Menschenrechtspolitik verstehen, als Streit um das, was Menschenrechte unter den gegenwärtigen weltpolitischen Bedingungen bedeuten sollen. Aus juristischer und normativer Perspektive mag es dabei um die Einstufung der Einschränkung zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume als Menschenrechtsverletzungen gehen. Die Aushandlungsprozesse, die sich im Zusammenhang der Shrinking Civic Spaces entfalten, drehen sich jedoch vor allem um die alt bekannte Spannung zwischen individuellen Menschenrechtsnormen und kollektiven Rechten der Staaten (oder „Völker“). Zudem geht es um konkurrierende Interpretationen der Menschenrechtsnormen selbst. Für den früheren UN-Sonderberichterstatter Kiai etwa beinhalten die internationalen Menschenrechte ein Recht zivilgesellschaftlicher Organisationen auf Auslandsfinanzierung, während die Tatsache, dass es hier um Unterstützung von außen geht, keinerlei Relevanz besitzt. Regierungen, die die Auslandsfinanzierung von NGOs einschränken, betonen hingegen üblicherweise, dass Maßnahmen gegen „ausländische Einmischung“ auch zum Schutz der Menschenrechte und der Demokratie notwendig sind.

„Ausländische Einmischung“ im Kontext globaler Machtverschiebungen

Die internationale Kontroverse um die Einschränkung internationaler Zivilgesellschaftsförderung war bisher im Kern eine zwischen einer Reihe von Regierungen Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und Osteuropas, die sich gegen „ausländische Einmischung“ wendeten und einer um die USA und die EU zentrierten Staatengruppe, die solche Einschränkungen im Namen der internationalen Menschenrechte zurückwies. Mittlerweile ist das Bild aber weniger klar. In Reaktion auf Interner Link: Aktivitäten Chinas und Russlands, die nun ihrerseits in Europa und Nordamerika als „bösartige ausländische Einmischung“ angesehen werden, hat etwa die EU Schritte zur Kontrolle der ausländischen Finanzierung innereuropäischer Organisationen eingeleitet – explizit, um Demokratie und Menschenrechte zu schützen. Eine Resolution des Europäischen Parlaments (EP) vom März 2022 bezeichnet „ausländische Einmischung“ als „einen schweren Verstoß gegen die universellen Werte und Prinzipien“, auf denen die EU beruhe sowie als „Missbrauch“ fundamentaler Freiheiten. Entsprechend fordert das EP Maßnahmen, um sicherzustellen, dass „alle gemeinnützigen Organisationen, Denkfabriken, Institute und nichtstaatlichen Organisationen“, die in irgendeiner Weise auf die politische Entwicklung der EU einwirken, „in Bezug auf ihre Finanzierung und ihre Eigentumsverhältnisse vollkommen transparent, unabhängig und frei von Interessenkonflikten sind“.

Die EU-Kommission hat diese Forderung mittlerweile aufgegriffen und ein Programm zur Verteidigung der Demokratie in der EU vorgelegt. Mit Blick auf Maßnahmen gegen „ausländische Einmischung“ wurden einige Bedenken zivilgesellschaftlicher Organisationen aufgenommen. Trotzdem bleibt das Risiko, dass die EU selbst oder zumindest Mitgliedstaaten solche Maßnahmen zur Kontrolle „unliebsamer“ NGOs nutzen. Außerdem, und nicht weniger wichtig: Das Engagement gegen „ausländische Einmischung“ im Innern untergräbt das internationale Engagement der EU, wenn sie sich etwa im Namen der Menschenrechte gegen das neue NGO-Gesetz in Georgien einsetzt.

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Jonas Wolff ist Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt und Leiter des Programmbereichs „Interstaatliche Konflikte“ am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF).