Einleitung
Lateinamerika und Menschenrechte – wie soll das zusammenpassen im Kontinent der Diktaturen von Generälen wie Pinochet, Videla und vielen anderen, die nicht weltweite Bekanntheit erreichten? Tatsächlich prägten die grausamen und planmäßig durchorganisierten Militärdiktaturen in Chile, Argentinien, Brasilien oder Uruguay das Gesicht des Kontinents ab den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Hinzu kamen die eher "traditionellen" Diktaturen in Ländern wie Paraguay, Bolivien und in Zentralamerika, die in ihrer ganzen Geschichte nur kurze demokratische Perioden erlebt hatten. Doch dieses Bild ist nicht die ganze Wirklichkeit. Ein weltweiter Vergleich zeigt, dass Lateinamerika über die zwei Jahrhunderte seit seiner Unabhängigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts die friedlichste Weltregion gewesen ist: Hier fanden lediglich drei größere internationale Kriege statt. Vielleicht noch überraschender ist, dass hier auch die Zahl der Opfer politischer Gewalt seit Ende des Zweiten Weltkriegs im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung um zwei Drittel niedriger ist als im Rest der Welt.
Alle lateinamerikanischen Staaten haben sich nach ihrer Unabhängigkeit republikanische Verfassungen gegeben, die Menschenrechte garantierten und zum Teil zu den fortschrittlichsten ihrer Zeit gehörten. Zwar wurden diese Verfassungen häufig mit Füßen getreten. Als Ideal blieben sie aber immer gegenwärtig. Als erste Weltregion hat Lateinamerika noch im 19. Jahrhundert mit der Errichtung regionaler Staatensysteme begonnen, in dem auch demokratische und menschenrechtliche Prinzipien wachsendes Gewicht erhielten. Als gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die Diskussion um eine neue Weltordnung begann, spielten lateinamerikanische Staaten eine führende Rolle. Bei vielen Fragen konnten sie auf die bereits existierenden Prinzipien der Panamerikanischen Union verweisen, die zwischen 1910 und 1948 existierte. Lateinamerikanische Delegierte trugen zudem entscheidend dazu bei, dass der Menschenrechtsschutz in der UN-Charta verankert wurde. Als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte diskutiert wurde, konnten sie auf die bereits existierende Interamerikanische Menschenrechtserklärung verweisen. Auch in den folgenden Jahrzehnten kamen aus Lateinamerika immer wieder wegweisende Beiträge zur Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzsystems. Dass heute z.B. das "Verschwindenlassen" von Personen ein völkerrechtlich geächtetes Verbrechen gegen die Menschheit ist, geht auf Initiativen aus Lateinamerika zurück.
Als nach dem 11. September 1973 in Chile über Nacht Tausende verhaftet wurden, in Folterlagern verschwanden und viele schließlich umgebracht wurden, saß der Schock tief. Vom ersten Tag an organisierte sich jedoch eine Gegenbewegung. Diese war nicht mehr ausschließlich politisch oder gar militärisch organisiert. Was nach dem Putsch in Chile entstand, war tatsächlich eine neue Bewegung, die sich um die Idee der unteilbaren Menschenrechte entfaltete. Angesichts des Terrors fanden sich Kräfte zusammen, die sich vorher mit großem Misstrauen begegnet waren: Bischöfe und Priester verschiedener Konfessionen, christliche Laien, eher konservative Juristen und Politiker, Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschafter. Die einzige gemeinsame Plattform für ihre Arbeit unter der Diktatur waren die Menschenrechte. Was sie einte, war die Überzeugung, dass elementare menschliche Rechte niemandem genommen werden dürften. Diese Allianz war nur möglich, weil in der Verfassung und in der politischen Kultur des Landes ein Bewusstsein für diese Rechte existierte. Zum politischen Willen dieser gegensätzlichen Kräfte kam ein hohes Maß an Professionalität, die der neuen Bewegung schnell erstaunliche Erfolge brachte. Dazu gehörte auch die Vernetzung mit dem interamerikanischen Menschenrechtssystem und den entsprechenden Instanzen der UN. Aufgrund der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, deren juristischer Bewertung und der Anklage vor nationalen sowie internationalen Instanzen konnte auf die massiven Verbrechen aufmerksam gemacht werden. In der Folge geriet die chilenische Diktatur international schnell in die Defensive.
Zugleich gewann der Menschenrechtsschutz im interamerikanischen System an hoher Relevanz. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte wurde zu einem energischen Widerpart der Diktaturen, und der lange Zeit untätige Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica schwang sich zu bahnbrechenden Urteilen auf. Nach dem Ende der meisten Militärregime stand Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts die Achtung der Menschenrechte bei den neuen Regierungen ganz oben auf der Liste der proklamierten Ziele. In der Praxis gestaltete sich das allerdings schwieriger als von den Nichtregierungsorganisationen erhofft. Eine der wichtigsten Forderungen war die Ahndung der während der Diktaturen begangenen Verbrechen. "Nunca más" – "Nie wieder" sollten solche Verbrechen möglich werden. Eine Straffreiheit für die Täter wurde als Beleidigung und erneute Verletzung der Opfer betrachtet. Doch die Diktatoren hatten vorgesorgt und Amnestiegesetze für sich selbst erlassen, die von der Justiz der Nachfolgeregierungen auch respektiert wurden. In anderen Fällen – der bekannteste war Argentinien – konnten die Diktatoren ihren Einfluss auch nach dem Machtwechsel geltend machen und von den Übergangsregierungen Straflosigkeit erzwingen. Die Verbrechen der Vergangenheit wurden so zu einer offenen Wunde der sich nach demokratischer "Normalität" sehnenden Gesellschaften.
Einmal mehr war es die internationale Vernetzung der lateinamerikanischen Menschenrechtsbewegung, die eine Wende brachte. Der Einsatz der zahlreichen Organisationen führte dazu, dass im Jahr 2001 der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof in Übereinstimmung mit dem seit den "Nürnberger Prinzipien" geltenden Völkerrecht die Amnestie von schweren Menschenrechtsverbrechen für ungültig erklärte. Damit hatten Gerichte und Parlamente die Möglichkeit, die entsprechenden Amnestiegesetze auch rückwirkend für unwirksam zu erklären. Auf diese Weise war zumindest ein wichtiges juristisches Hindernis für die Bestrafung der einstigen Diktatoren beseitigt. Auch in politischer Hinsicht gab es in zahlreichen Ländern Fortschritte. Unterstützt wurde dieser Prozess durch eine Reihe von Verfahren vor ausländischen Gerichten, die aufgrund der "universellen Gerichtsbarkeit" für Verbrechen gegen die Menschheit ermöglicht wurden. Eines der bekanntesten Verfahren ist der Prozess gegen den ehemaligen chilenischen General Augusto Pinochet in Madrid und London. Die große internationale Aufmerksamkeit führte dazu, dass auch im Innern des Landes die Anstrengungen der Justiz zunahmen.
Während die Vergangenheit noch immer ihre Schatten wirft, sehen sich die Menschen in Lateinamerika vor einer Reihe neuer Menschenrechtsprobleme. Doch häufig sind diese Probleme nicht neu. Nach dem Ende der Diktaturen treten sie jedoch wieder offen zutage. In erster Linie geht es nun um wirtschaftliche und soziale Menschenrechte. In keiner Weltregion sind Einkommen und Zugang zu Ressourcen so ungleich verteilt wie in Lateinamerika. Zwar hatten die tief in die Geschichte reichenden sozialen Auseinandersetzungen auch die Entstehung von repressiven Regimen begünstigt. Allerdings spielten diese gegenüber dem Kampf gegen Folter, Mord und "Verschwindenlassen" nur eine untergeordnete Rolle.
Seit der Rückkehr der meisten lateinamerikanischen Staaten zu demokratischen Regierungsformen haben die sozialen Konflikte wieder an Bedeutung gewonnen. In der Vergangenheit wurden diese – teils gewaltsam – als soziale Kämpfe ausgetragen. Inzwischen macht es die Erfahrung jahrzehntelanger Menschenrechtsarbeit möglich, die sozialen Forderungen als menschenrechtliche Ansprüche zu formulieren. Die Bewegung der indigenen Völker, die in einer Reihe von Staaten ungeahnt an Einfluss gewonnen hat, kann sich heute auf internationale Abkommen berufen. Gleiches gilt für den Kampf gegen Landvertreibung, gegen Umweltverschmutzung, Obdachlosigkeit oder Hunger. Allerdings stoßen diese menschenrechtlich begründeten Forderungen auch unter den postdiktatorischen Regierungen oft genug auf Abwehr und werden repressiv beantwortet. Am stärksten scheint dies in den Ländern der Fall zu sein, die in den vergangenen Jahrzehnten keine Militärdiktatur erlitten haben – insbesondere Mexiko und Kolumbien. Beide Staaten führen heute in Lateinamerika die Statistiken an, wenn es um die Verletzung der elementaren Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Schutz vor Verfolgung geht. Gerade weil es hier keine Militärdiktaturen gegeben hat, sind die Fronten weit weniger offensichtlich: Hier fehlen Erfahrungen im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen. Umso schwieriger ist es für die Menschenrechtsverteidiger, in diesen Ländern menschenrechtliche Standards durchzusetzen. Zudem erschwert ein kaum durchschaubares Netz aus staatlichen und parastaatlichen repressiven Akteuren die Menschenrechtsarbeit. Diese Situation erfordert neue Analysen und rechtliche Instrumente, die nicht nur den Staat als zentralen Adressaten von Menschenrechtspolitik im Visier haben. Gut möglich, dass die lateinamerikanische Menschenrechtsbewegung dafür erneut den Anstoß gibt.