Zwei Stunden hatte Sher im Gebüsch gehockt, als ihm ein Schleuser endlich ein Zeichen gab. Sher rannte los, überquerte den Parkplatz einer Raststätte und stieg mit sechs, sieben anderen Afghanen in einen Laster. Der Fahrer machte gerade Pause und bemerkte nicht, dass sie in seinen Laderaum schlüpften. Er war auf dem Weg zum Hafen von Calais, von dem die meisten Fähren nach Großbritannien abfahren. Die Fähre war Shers Ziel. Bei der ersten Kontrolle fiel der Wagen nicht auf, dann aber schöpften die französischen Grenzschützer Verdacht. Sie fanden die blinden Passagiere zusammengekauert hinter einer Kiste und sperrten sie ein. Die Nacht verbrachte Sher nicht auf der Fähre, sondern auf einer Wache in Calais. Am nächsten Morgen ließ ihn die Polizei wieder frei. Mittlerweile sind die Nächte auf der Wache für Sher Routine. Sechs oder sieben gescheiterte Fluchtversuche hat er hinter sich. Und dennoch wird er wieder versuchen, den Ärmelkanal zu überwinden, diese gerade mal 34 Kilometer, die doch eigentlich ein Klacks sind, verglichen mit der Strecke, die Sher auf seinem Weg von Afghanistan in ein besseres Leben schon hinter sich hat. 34 Kilometer, die ihn vom Ziel seiner Reise trennen, von dem Ort, wo er sich ein bisschen zu Hause fühlen kann: Denn er hat in England einen Onkel und ein wenig Englisch spricht er auch. Mehr als 500 Flüchtlinge leben derzeit in Calais. Entlang der französischen und belgischen Ärmelkanalküste sind es sogar rund 2.000, die in der Nähe von Häfen und Raststätten lagern, um von dort aus unbemerkt auf Lastwagen oder Fähren zu klettern. Die meisten sind nach Europa gekommen, weil sie vor Krieg und Verfolgung geflüchtet sind, einige auch nur, weil sie in Europa arbeiten wollen – aber was heißt schon nur: Auch die Anstrengung, den täglichen Hunger zu besiegen, kann ja ein zermürbender Kampf sein.
Hinter vielen von ihnen liegen strapaziöse Wochen und Monate – sie haben sich durch halb Afrika geschlagen, in den Lagern an der nordafrikanischen Küste campiert und schließlich mit kaum seetauglichen Booten das Mittelmeer überquert. Sie haben es geschafft, den spanischen und italienischen Küstenwachen zu entkommen. Doch in Spanien oder Italien wollten sie sowieso nicht bleiben, und auch in Deutschland nicht. Großbritannien ist für sie der Sehnsuchtsort, weil sie von allen Sprachen noch am ehesten Englisch sprechen und gehört haben, dass man Flüchtlinge wie sie in Großbritannien gut behandelt, während die italienische Marine schon mal mit einem Flüchtlingsboot kollidierte, wobei es Tote gab. Diese Hoffnung lassen sie sich auch nicht durch schnöde Zahlen nehmen, die besagen, dass im vergangenen Jahr nur 23 Prozent der Bewerber in Großbritannien Asyl erhalten haben. Lieber vertrauen sie den Versprechungen der Schleuser. Sie sind schon viel zu weit gekommen, um jetzt noch umzukehren. An schönen Tagen, wenn der Himmel klar ist, kann man auf der anderen Seite des Meeres die Kreidefelsen von Dover leuchten sehen. Es sieht fast so aus, als könne man dorthin schwimmen.
16 sei er, sagt Sher, aber mit seiner gegerbten Haut sieht er eher aus wie 26. Wahrscheinlich hat ihn die Reise altern lassen, die ihn hierher geführt und ein halbes Jahr gedauert hat und an deren Anfang sein Vater beschloss, dass der älteste der sieben Söhne nach Europa gehen solle, um es besser zu haben. Dass Sher, ausgestattet mit dem Ersparten der Familie, am besten die 6.000 Kilometer von Afghanistan nach London schaffen werde – zum Onkel, der dem Leben im Krieg schon entflohen war. Den ersten Teil der Strecke versteckte sich Sher in Lkws, die in den Iran fuhren. Wenn er in die Nähe einer Straßenkontrolle kam, sprang er zuvor ab und ging zu Fuß weiter. An der Grenze zur Türkei habe man auf ihn geschossen, sagt er. Von dort sei er schließlich in einem Schlauchboot nach Griechenland gebracht worden, wo ihn die Polizei festgenommen und geschlagen habe. Aber immerhin ging es weiter – mit dem Schiff nach Italien und von dort mit dem Zug nach Frankreich, bis er schließlich in Calais landete und die 8.000 Euro fast gänzlich aufgebraucht waren, die er in Afghanistan eingesteckt hatte. Nun hat er nur noch ein paar Hundert im Portemonnaie für die letzte Etappe und ein zerknicktes Bild seiner Freundin: Darauf hat sie ein grün-gelb geblümtes Sommerkleid an und keinen Schleier, sodass man ihr Lächeln sieht.
Wann und wo er sie wiedersieht, weiß Sher nicht. Das Geld für die Schleuser will er in London verdienen, um es seinem Vater zurückzuzahlen. Vorher wird er sich dort nicht blicken lassen können. Aber erst muss er die letzte Hürde nehmen, die plötzlich von Tag zu Tag höher zu werden scheint. Mit jedem Tag, den er in einer Baracke ohne Strom und Wasser in einem Gewerbegebiet von Calais verbringt – geschützt gegen die atlantische Kälte mit den drei T-Shirts, zwei Hemden und einer dunkelblauen Daunenjacke, die er seit zwei Wochen nicht mehr ausgezogen hat. Es führt eine verlassene Straße dorthin, aus deren Fugen das Unkraut meterhoch herauswächst. Neben einem eingedrückten Maschendrahtzaun liegt der Verschlag aus Ästen, Holzpaletten und Plastikplanen, in dem sich zwei alte Matratzen befinden. Hunderte von diesen Unterschlupfen gibt es hier. In diesem dürren Wald sehen sie aus wie die verlassenen Zelte verirrter Camper. "Wir nennen das Gebiet den Dschungel", sagt Sher, "und das hier ist der Dschungel der Afghanen."