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Endstation Calais

Serge Debrebant

/ 7 Minuten zu lesen

Von Calais aus sind es nur noch 34 Kilometer bis nach England. Doch die meisten Flüchtlinge erreichen ihr Traumland nicht. Serge Debrebant berichtet von einer Flüchtlings-Endstation.

Improvisierte Moschee in einem Flüchtlingscamp in Calais. (© AP)

Zwei Stunden hatte Sher im Gebüsch gehockt, als ihm ein Schleuser endlich ein Zeichen gab. Sher rannte los, überquerte den Parkplatz einer Raststätte und stieg mit sechs, sieben anderen Afghanen in einen Laster. Der Fahrer machte gerade Pause und bemerkte nicht, dass sie in seinen Laderaum schlüpften. Er war auf dem Weg zum Hafen von Calais, von dem die meisten Fähren nach Großbritannien abfahren. Die Fähre war Shers Ziel. Bei der ersten Kontrolle fiel der Wagen nicht auf, dann aber schöpften die französischen Grenzschützer Verdacht. Sie fanden die blinden Passagiere zusammengekauert hinter einer Kiste und sperrten sie ein. Die Nacht verbrachte Sher nicht auf der Fähre, sondern auf einer Wache in Calais. Am nächsten Morgen ließ ihn die Polizei wieder frei. Mittlerweile sind die Nächte auf der Wache für Sher Routine. Sechs oder sieben gescheiterte Fluchtversuche hat er hinter sich. Und dennoch wird er wieder versuchen, den Ärmelkanal zu überwinden, diese gerade mal 34 Kilometer, die doch eigentlich ein Klacks sind, verglichen mit der Strecke, die Sher auf seinem Weg von Afghanistan in ein besseres Leben schon hinter sich hat. 34 Kilometer, die ihn vom Ziel seiner Reise trennen, von dem Ort, wo er sich ein bisschen zu Hause fühlen kann: Denn er hat in England einen Onkel und ein wenig Englisch spricht er auch. Mehr als 500 Flüchtlinge leben derzeit in Calais. Entlang der französischen und belgischen Ärmelkanalküste sind es sogar rund 2.000, die in der Nähe von Häfen und Raststätten lagern, um von dort aus unbemerkt auf Lastwagen oder Fähren zu klettern. Die meisten sind nach Europa gekommen, weil sie vor Krieg und Verfolgung geflüchtet sind, einige auch nur, weil sie in Europa arbeiten wollen – aber was heißt schon nur: Auch die Anstrengung, den täglichen Hunger zu besiegen, kann ja ein zermürbender Kampf sein.
Hinter vielen von ihnen liegen strapaziöse Wochen und Monate – sie haben sich durch halb Afrika geschlagen, in den Lagern an der nordafrikanischen Küste campiert und schließlich mit kaum seetauglichen Booten das Mittelmeer überquert. Sie haben es geschafft, den spanischen und italienischen Küstenwachen zu entkommen. Doch in Spanien oder Italien wollten sie sowieso nicht bleiben, und auch in Deutschland nicht. Großbritannien ist für sie der Sehnsuchtsort, weil sie von allen Sprachen noch am ehesten Englisch sprechen und gehört haben, dass man Flüchtlinge wie sie in Großbritannien gut behandelt, während die italienische Marine schon mal mit einem Flüchtlingsboot kollidierte, wobei es Tote gab. Diese Hoffnung lassen sie sich auch nicht durch schnöde Zahlen nehmen, die besagen, dass im vergangenen Jahr nur 23 Prozent der Bewerber in Großbritannien Asyl erhalten haben. Lieber vertrauen sie den Versprechungen der Schleuser. Sie sind schon viel zu weit gekommen, um jetzt noch umzukehren. An schönen Tagen, wenn der Himmel klar ist, kann man auf der anderen Seite des Meeres die Kreidefelsen von Dover leuchten sehen. Es sieht fast so aus, als könne man dorthin schwimmen.

16 sei er, sagt Sher, aber mit seiner gegerbten Haut sieht er eher aus wie 26. Wahrscheinlich hat ihn die Reise altern lassen, die ihn hierher geführt und ein halbes Jahr gedauert hat und an deren Anfang sein Vater beschloss, dass der älteste der sieben Söhne nach Europa gehen solle, um es besser zu haben. Dass Sher, ausgestattet mit dem Ersparten der Familie, am besten die 6.000 Kilometer von Afghanistan nach London schaffen werde – zum Onkel, der dem Leben im Krieg schon entflohen war. Den ersten Teil der Strecke versteckte sich Sher in Lkws, die in den Iran fuhren. Wenn er in die Nähe einer Straßenkontrolle kam, sprang er zuvor ab und ging zu Fuß weiter. An der Grenze zur Türkei habe man auf ihn geschossen, sagt er. Von dort sei er schließlich in einem Schlauchboot nach Griechenland gebracht worden, wo ihn die Polizei festgenommen und geschlagen habe. Aber immerhin ging es weiter – mit dem Schiff nach Italien und von dort mit dem Zug nach Frankreich, bis er schließlich in Calais landete und die 8.000 Euro fast gänzlich aufgebraucht waren, die er in Afghanistan eingesteckt hatte. Nun hat er nur noch ein paar Hundert im Portemonnaie für die letzte Etappe und ein zerknicktes Bild seiner Freundin: Darauf hat sie ein grün-gelb geblümtes Sommerkleid an und keinen Schleier, sodass man ihr Lächeln sieht.

Wann und wo er sie wiedersieht, weiß Sher nicht. Das Geld für die Schleuser will er in London verdienen, um es seinem Vater zurückzuzahlen. Vorher wird er sich dort nicht blicken lassen können. Aber erst muss er die letzte Hürde nehmen, die plötzlich von Tag zu Tag höher zu werden scheint. Mit jedem Tag, den er in einer Baracke ohne Strom und Wasser in einem Gewerbegebiet von Calais verbringt – geschützt gegen die atlantische Kälte mit den drei T-Shirts, zwei Hemden und einer dunkelblauen Daunenjacke, die er seit zwei Wochen nicht mehr ausgezogen hat. Es führt eine verlassene Straße dorthin, aus deren Fugen das Unkraut meterhoch herauswächst. Neben einem eingedrückten Maschendrahtzaun liegt der Verschlag aus Ästen, Holzpaletten und Plastikplanen, in dem sich zwei alte Matratzen befinden. Hunderte von diesen Unterschlupfen gibt es hier. In diesem dürren Wald sehen sie aus wie die verlassenen Zelte verirrter Camper. "Wir nennen das Gebiet den Dschungel", sagt Sher, "und das hier ist der Dschungel der Afghanen."

Es ist, als hätten sich die Gesandten aus den Kriegsländern hier im Gewerbegebiet von Calais einen neuen Kontinent geschaffen: Es gibt den Dschungel der Iraker, der Sudanesen, der Eritreer und der Kurden und in allen kursieren die Geschichten darüber, wie schön es in England wird. Es ist fast eine Art Märchenwald. Aber vor ihnen liegt nicht nur der Ärmelkanal, der so bezwingbar aussieht – vor allem, wenn man auf einem Gummiboot über das Mittelmeer gekommen ist – vor ihnen liegt eine der letzten Grenzen Europas, die ohne Dokumente unpassierbar sind. Denn Großbritannien ist nie dem Schengen-Abkommen beigetreten, infolgedessen die Personenkontrollen an den innereuropäischen Grenzen weggefallen sind. Das hat seit den 90er-Jahren immer wieder zu Streit mit Frankreich geführt.

Schon als 1999 der Krieg im Kosovo ausbrach, strömten so viele Flüchtlinge nach Calais, dass in der Nähe des Eurotunnels ein Auffanglager eröffnet wurde. Teilweise lebten mehr als 2.000 Menschen in diesem Lager, die fast alle nach Großbritannien einwandern wollten. Heute halten mehrere Hilfsorganisationen dort eine Notversorgung aufrecht. Sie teilen zweimal am Tag Essen aus, verteilen Medikamente an die Kranken, und manchmal dürfen die Flüchtlinge auch duschen. Sher hat sich zum Mittagessen aufgemacht, das die Hilfsorganisationen auf einem Quai in der Innenstadt verteilen. Hier halten sich die Behörden zurück, ein Polizeiwagen steht abseits – lieber kommen die Polizisten in der Nacht, wenn alles im Dschungel schläft. Sie schrecken die Flüchtlinge mit Tränengas auf und nehmen sie mit zur Feststellung der Personalien. Und während das passiert, räumen Reinigungskräfte in weißen Anzügen und Gasmasken die Hütten und all den Müll fort, und wenn Sher und die anderen von der Wache zurückkommen, ist der Dschungel einfach weg und es dauert lange, bis sie sich einen neuen aufgebaut haben. Die Strategie der Polizei zielt darauf, den Flüchtlingen das Leben so schwer wie möglich zu machen, damit sie irgendwann woanders hinziehen. Ansonsten ist der Spielraum der Behörde begrenzt: Zumindest die Afghanen dürfen nicht abgeschoben werden, seit Frankreich 2002 ein Abkommen unterschrieb, weil ihr Land, das im Krieg zwischen Amerikanern und Talibanen versinkt, nicht mehr als sicher gilt.

Dennoch kursieren im Camp immer wieder Gerüchte, dass die Abschiebung von über 50 Afghanen vorbereitet werde, die in einem Asylbewerberheim in der Nähe des Eurotunnels leben. Die Deportation würde gegen das Abkommen verstoßen, aber die Hilfsorganisationen befürchten, dass sich der Staat darum nicht schert. Um die Flüchtlinge von Calais fernzuhalten, wurde außerdem der Hafen abgeschottet, elektrisch geladene Gitter versperren den Weg zu den Docks. Polizisten patrouillieren mit Hunden und durchleuchten die Lastwagen mit Wärme- und Kohlendioxidmeldern. Zwölf Millionen Euro kosten die Sicherheitsmaßnahmen jährlich, rund 500 Polizisten sind mittlerweile im Einsatz. Weil aber auch das zu wenige Grenzschützer sind und die Melder nicht immer anschlagen, gelingt es Flüchtlingen immer noch, auf die Fähren zu gelangen. Manche brechen sich bei dem Versuch, auf einen Lkw zu springen, die Knochen. Andere geben irgendwann auf, ein Schiff zu erwischen, und versuchen mit einem Boot den Ärmelkanal zu überqueren.

Bei der nächsten Essensausgabe ist Sher nicht mehr da. Auch am folgenden Tag fehlt er in der Schlange, im Dschungel weiß niemand, wo er ist. Ein Afghane erzählt, ein Freund habe ihm berichtet, dass es Sher geschafft hat. Dass er im gelobten Land angekommen sei – das so wenige Kilometer westlich liegt. "Das gibt mir Hoffnung", sagt einer, der weiß, wie oft Sher hier gestanden hat und wie häufiger auf der Polizeiwache war. Wenn Sher es geschafft hat, dann schaffen es auch andere. "Man muss es nur versuchen, nur immer wieder versuchen", sagt einer. Doch am nächsten Morgen ist Sher wieder da. Er steht einfach da – vor einem Supermarkt, seine Haare sind durchnässt und seine Daunenjacke glänzt vom Regen. Er erzählt, dass er vor zwei Tagen mit anderen Afghanen in einen Laster gestiegen sei, dessen Fahrer die Polizei verständigt habe. Alle seien sie rausgeholt worden – bis auf ihn. Ihn hatten sie nicht gefunden, weil er sich in einem Karton versteckt hatte. Nach der Durchsuchung fuhr der Wagen wieder los und als er nach drei Stunden stoppte, sprang Sher aus dem Laderaum und lief davon in die neue Freiheit. Bis er merkte, dass er nicht in England, sondern in Paris gelandet war. Von dort ist er am Morgen mit dem Zug zurückgekehrt. Sein ganzes Geld hat er für die Fahrkarte ausgegeben.

Aus: fluter, Nr. 29 - 2008

Fussnoten

Weitere Inhalte

Serge Debrebant, geb. 1974, ist freier Journalist. Er hat u.a. für das Magazin der Süddeutschen Zeitung, das Financial Times Magazine, die Frankfurter Rundschau und Dummy geschrieben. Seit 2009 lebt er in London.