Frau Mihr, haben Menschenrechte und Coca-Cola etwas gemeinsam?
Anja Mihr: Auf den ersten Blick natürlich nicht. Aber beides wird ähnlich wahrgenommen. Das erlebe ich häufig, wenn ich mit Studenten aus nicht europäischen Ländern spreche. Die Menschenrechte werden als westliches Produkt angesehen, das ähnlich wie Coca-Cola für einen westlichen Lebensstil steht und an alle Orte der Welt exportiert wird. Einen Satz höre ich immer wieder: Es ist schön, dass es die Menschenrechte gibt, aber bei uns würden sie nicht funktionieren.
Sind Menschenrechte demnach eine Erfindung des Westens?
Das ist ein Mythos. Die Geschichte der Menschenrechte fängt vor mehr als sechstausend Jahren in Mesopotamien und Indien an. Allerdings ist das gegenwärtige Menschenrechtssystem eindeutig westlich dominiert. Was wir heute unter Menschenrechten verstehen, ist seit 1945 und mit der Gründung der Vereinten Nationen unter Interpretationshoheit des Westens entstanden. Das schürt diesen Mythos.
Der palästinensische Intellektuelle Edward Said hat dem Westen vorgeworfen, den Orient permanent aus einem Überlegenheitsgefühl heraus zu beurteilen. Sehen wir Menschen aus fremden Kulturen wirklich in erster Linie als Opfer?
Das glaube ich nicht. Aber Westler werden umgekehrt oft als rechthaberisch wahrgenommen. Warum? Weil wir häufig zu unreflektiert mit der eigenen Vergangenheit umgehen. Mit den Nationalsozialisten hatten wir in Europa vor erst 65 Jahren eines der größten Unrechtsregimes in der Geschichte der Menschheit. Gleichzeitig tun wir aber im Ausland häufig so, als hätten wir die Menschenrechte mit der Muttermilch aufgesogen. Klar sorgt das für Unverständnis und Misstrauen.
Wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht, wird häufig mit dem Finger auf China gezeigt. Sie arbeiten derzeit an der Peking-Universität. Wie werden westliche Vertreter für Menschenrechte dort aufgenommen?
Bis vor wenigen Jahren kamen viele westliche Dozenten kurz nach China, um ihre "Weisheiten" zu verkünden und mit dem Gefühl nach Hause zu fahren: "Endlich hat es den Chinesen mal einer gesagt!" Das hat viel Schaden angerichtet. Mittlerweile gibt es aber eine neue Generation von westlichen Experten und Wissenschaftlern, die verloren gegangene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, indem sie zuhören, Selbstkritik üben und auf Dialog setzen. Das zahlt sich aus.
Die Menschenrechte sind universell und unteilbar. Sie gelten also für jeden und lassen sich nicht gegeneinander aufwiegen. Warum tun sich Länder wie China so schwer mit diesem Anspruch?
Die Universalität der Menschenrechte ist seit 2004 in der chinesischen Verfassung verankert. Dennoch werden in China täglich Menschen- und Freiheitsrechte verletzt. Die allgemeine Argumentation hier ist: Menschenrechte sind zwar wichtig, aber Sicherheit und Wohlergehen des Staates sind wichtiger und stehen an erster Stelle. Kurz gesagt: Das Individuum steht hinter dem Kollektiv zurück.
Kritiker weisen immer wieder auf kulturelle Besonderheiten hin. Ihre Argumentation lautet: Kulturen sind unvergleichlich. Sie entziehen sich Hierarchien und lassen sich nicht am Universellen messen. Muss der Westen auch bei den Menschenrechten mehr Rücksicht auf kulturelle Unterschiede nehmen?
Die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte liegt genau darin begründet, dass sie vor allen kulturellen Eigenarten stehen. Die Annahme dahinter lautet: In allen Kulturen gibt es ein universelles und vorkulturelles Verständnis für Recht und Unrecht. Keine Kultur belohnt Diebstahl, Mord oder Lüge – alle verurteilen das. Wenn der Einzelne zum Wohle der Gesamtheit diskriminiert, misshandelt oder mundtot gemacht wird, widerspricht das der Universalität der Menschenrechte. Dieser Annahme haben inzwischen alle 192 UN-Mitgliedsstaaten zugestimmt.
Das Interview führte Andreas Braun.
Aus: fluter, Nr. 29 - 2008