bpb: Können Sie sich erinnern, wie Sie die Ereignisse des Loveparade-Unglücks am 24. Juli 2010 in Duisburg, als die ersten Bilder in den Nachrichten verbreitet wurden, wahrgenommen haben? Oder wurde dieser Augenblick erst im Nachhinein bedeutsam für Sie?
Dominik Wessely: An dem Tag der Katastrophe war ich im Ausland und habe das nur nebenbei wahrgenommen. Auch in den folgenden Monaten und Jahren war ich bei dem Thema nur medialer Zaungast. Für mich ist das Unglück erst konkreter zum Thema geworden, als der Prozess näher rückte. Dafür waren maßgeblich die WDR-Redakteurin Jutta Krug und Antje Boehmert verantwortlich.
Antje Boehmert: Ich war an dem Tag im Sabbatical auf Sardinien. Ich bin Duisburgerin, und meine Verwandten haben mir noch am selben Tag von dem Unglück erzählt. Wir sind dann die Verwandten und Bekannten durchgegangen, von denen wir dachten, dass sie vielleicht auf der Veranstaltung gewesen wären. Danach haben mich die ganzen medialen Blitzgewitter aber nicht mehr interessiert. Als 2017 die Meldung kam, dass der Prozess im Laufe des Jahres eröffnet wird, saß ich mit Jutta Krug zusammen. Sie meinte sofort zu mir: „Schreib das auf“, und hat uns damit auf den Weg gebracht. Denn man hätte natürlich weiter scheibchenweise über das Unglück berichten können, aber Jutta, Dominik und ich haben schnell gemerkt, dass der Prozess auch ein Mittel der Versachlichung ist. Ein dokumentarischer Rahmen.
Schon früh zeichnete sich ab, dass ein möglicher Prozess kompliziert werden würde. Dass er historische Ausmaße annehmen würde, zeigte sich aber wohl erst in seinem weiteren Verlauf. Ab wann haben Sie sich konkret für das Thema als Filmemacher interessiert, und ab wann wurde aus diesem Interesse die Idee, den Prozess für einen Dokumentarfilm filmisch zu begleiten?
DW: Die Dimension des Verfahrens zeigte sich schon nach der Zulassung der Hauptverhandlung. Sie stand wegen der Verjährungsfrist vom ersten Tag an unter einem außerordentlichen Zeitdruck, und auch die große Anzahl der am Prozess Beteiligten machte uns schnell klar, dass es wohl eines der aufwändigsten Verfahren in der Geschichte der Bundesrepublik werden würde. Wenn man sich als Filmemacher mit einem solchen Thema beschäftigt, dann braucht es eine sorgfältige Form.
AB: Als wir uns im April 2017 Gedanken darüber gemacht haben, wie wir es erzählen können, wurde uns klar, dass wir uns von den Bildern entfernen möchten, die die Menschen bis dahin fast sieben Jahre lang von der Katastrophe gesehen haben – Live-Bilder, Nachrichtenbilder, Bilder für Politmagazine – also ein Fernsehen, das unter großem Produktionsdruck steht und jedes noch so kleine Kapitel der Geschichte erzählen muss. Dominik und ich wollten stattdessen das große Tableau erzählen. Dass wir dafür eine andere Form brauchen, war uns schnell klar. Wir haben uns für die Recherche tatsächlich sehr wenig des Materials angesehen, das es schon gab. Wir wollten uns ganz auf das einlassen, was nun neu beginnt: das Gerichtsverfahren. Einer der ersten Sätze, den wir aufgeschrieben haben, lautete: Wir wollen im Film nur das verhandeln, was auch vor Gericht verhandelt wird. Wir wollten nicht „uferlos“ sein in unserer Erzählung.
Es muss Ihnen klar gewesen sein, dass Sie für einen Dokumentarfilm über den Prozess keine Filmbilder von der Verhandlung selbst haben würden ...
DW: Dass die Kamera in einer Verhandlung nicht anwesend sein darf, ist nun mal im deutschen Gerichtsverfassungsgesetz so geregelt. Für mich als Filmemacher war das aber auch die Herausforderung und der Reiz: Wie kann man von einem Ereignis erzählen, das man nicht zeigen kann? Eine Besonderheit des Verfahrens lag darin, dass es nicht in einem klassischen Gerichtssaal stattgefunden hat, sondern in einer Messehalle., Die Richterbank und die drei großen Leinwände, auf denen Beweismittel und Dokumente gezeigt wurden – das alles wurde ja von Messebauern extra für den Prozess entworfen und geplant. Es gab eine Art von „Set Design“, und dieses „Bühnenbild des Rechtsstaates“ wurde im Verlaufe des Prozesses mehrfach ab- und wieder aufgebaut, weil die Messehalle zwischendurch auch für andere Veranstaltungen benötigt wurde, z.B. die Messe „Caravan und Boot“. Dadurch, dass die Messehalle extra zu einem Gerichtssaal umgebaut wurde hatte der Raum eine gewisse Theatralik und deswegen brauchten wir Bilder, in denen der Raum selbst zum Protagonist wird.
Wie entwickelten sie dann Ideen, diesen Mangel an Bildern zu kompensieren – mit anderen Bildern, mit einer anderen Erzählung, die den Prozess weiträumiger umkreist?
DW: Unsere erste Entscheidung war: Der Film fängt mit dem ersten Prozesstag an und hört mit dem letzten Prozesstag auf. Es gibt zwar Rückblenden zu dem Tag des Unglücks, aber wir haben versucht, sie so in den Film zu integrieren, dass sie als Erzählungen der Zeugen verstanden werden können, die im Gericht davon berichten. Das Problem war natürlich, dass man bei der großen Zahl der zu erwartetnden Prozesstage vorher nicht wissen konnte, welche dieser Tage für den Film entscheidend sein werden. Das hatte zur Konsequenz, dass wir ein vollständiges Protokoll des Prozesses benötigten. Es war toll, dass Antje Boehmert als Produzentin das gestemmt hat. Am Ende war unser Protokoll 3600 Seiten lang. Denn nur mit einem vollständigen Protokoll hatten wir die Möglichkeit zu überprüfen, wer wann was gesagt hat. Und es war uns bewusst, dass man im Zweifelsfall auch uns überprüfen würde. Eine der Merkwürdigkeiten in der deutschen Strafprozessordnung ist ja, dass es bei Verfahren wie dem Loveparade-Prozess kein offizielles Gerichtsprotokoll gibt, jedenfalls nicht in dieser Vollständigkeit. Jede Prozesspartei schreibt ihr eigenes Protokoll. Indem wir das für uns machten, waren wir in der Lage, im Sinne der filmischen Erzählung Gewichtungen vorzunehmen, das sind ja immer auch dramaturgische Entscheidungen. Damit haben wir nicht bis zum Ende des Prozesses gewartet, weil wir parallel zum Verfahren schon an der Montage gearbeitet haben. Somit war schon früh klar, dass wir zu bestimmten wichtigen Zeugenaussagen Bilder benötigen werden. Wir haben viel herumexperimentiert, zum Beispiel auch mit Schriften im Bild, bis wir dann zu der Lösung gekommen sind, die im Film zu sehen ist: wir haben uns auf den Verhandlungsraum konzentriert.
AB: Dass die Verhandlung in den Räumlichkeiten der Messe Düsseldorf stattfand, hatte für uns den Vorteil, dass wir ihn mieten durften. An einem verhandlungsfreien Tag haben wir alles aufgefahren, was man sich nur vorstellen kann: Kran, Dolly, zwei Kameraleute, die parallel gearbeitet haben. Wir haben dann mit einem Stab von 15 Leuten wie in einem Spielfilm diesen leeren Raum gedreht. Da hatten wir aber auch schon die wichtigsten Zeugenaussagen und wussten ganz genau, was wir erzählen wollen und wie das in einer Schuss-Gegenschuss-Montage in dem leeren Verhandlungsraum aussehen soll. Wir haben es so gedreht, als wären wir während der Zeugenaussagen mit der Kamera dabei gewesen – nur die Menschen haben gefehlt. Es gibt in diesem Film zwei Orte, die sehr prägnant sind. Das sind der Gerichtssaal und der Tunnel, den wir für Aufnahmen auch haben sperren lassen.
Jetzt haben Sie von dem leeren Verhandlungssaal gesprochen, aber es gibt im Film auch Bilder mit Menschen im Saal – kurz vor Verhandlungsbeginn und kurz nach Verhandlungsende, wenn die Teilnehmer*innen den Saal verlassen. Aber – das klang gerade so an – Sie waren ja sicher nicht jeden einzelnen Prozesstag dort?
AB: Doch! Unsere Protokollantin und entweder Dominik oder ich oder auch wir beide waren immer vor Ort. In diesen drei Jahren haben wir unser Leben an den Prozess angepasst. Es ist nämlich etwas vollkommen anderes, ein solches Protokoll zu lesen, oder tatsächlich anwesend zu sein und im Anschluss darüber zu sprechen. Wir waren als Fernsehteam akkreditiert. Dadurch konnten wir immer vor Prozessbeginn drehen. Nach 15 Minuten sagt dann der Richter „Guten Morgen, bitte nehmen Sie Platz“ und der Gerichtssprecher sagt zu den Kamerateams: „Bitte gehen Sie jetzt raus“. Das ist wenig Zeit für Aufnahmen. Die Bilder, die dann schließlich im Film zu sehen sind, haben wir uns in den drei Jahren des Prozesses Sekunde für Sekunde erarbeitet.
DW: Am ersten Drehtag hatten wir sechs Filmteams gleichzeitig vor Ort, die parallel all die Beteiligten, die dort ankamen, gefilmt haben.
AB: Oft waren wir aber auch nur zu viert unterwegs – Regie, Kamera, Ton, Buch, manchmal noch mit einer Regieassistentin. Bei den großen Interviews war es uns wichtig, dass wir zusammen vor Ort sind. Einige der Interviews hätten wir nicht ein zweites Mal bekommen.
Nur mit den Bildern des Verhandlungssaals hätte der Film wohl nicht funktioniert. Daher gibt es auch Protagonist*innen, mit denen sie die Verhandlung weiträumig umkreisen. Der Richter als Gesprächspartner war sicher noch naheliegend, aber wie haben sie aus den Zeug*innen, Opfern und Hinterbliebenen von Opfern, den Anwälten, den Verteidigern ausgewählt?
AB: Anders als es scheint, ist der Richter als Protagonist am wenigsten offensichtlich, alleine schon weil Richter in Deutschland eigentlich nicht mit der Presse über ihre Verhandlungen sprechen. Dass ein Richter nach einem Verfahren ein Interview dazu gibt, ist gefühlt nur ein halbes dutzend Mal in der Geschichte der Bundesrepublik vorgekommen. Mit diesem Interview haben viele Leute nicht gerechnet. Bei den anderen Protagonist*innen wollten wir vor allem jede Gruppe zu Wort kommen lassen: Überlebende, Eltern, Verteidiger, Angeklagte – das war uns von Anfang an wichtig. Einige hatten wir schon vor Prozessbeginn ausgewählt, andere haben später kontaktiert. Am Ende haben deutlich mehr Leute ‚ja‘ als ‚nein‘ gesagt.
Für einen Langzeitdokumentarfilm braucht man in der Regel mehr Protagonist*innen, als am Ende im Film vorkommen, weil Kandidaten während der Drehzeit abspringen oder andere für die Dramaturgie des Films im weiteren Verlauf keine bedeutende Rolle mehr spielen. Wie war das bei ihrem Film?
DW: Abgesprungen ist niemand. Der wichtigste Anspruch war, ein möglichst vollständiges Bild vom Verfahren zu liefern. Man kann natürlich nicht alle Beteiligten in den Film holen – alleine aus dramaturgischen Gründen – aber jede Perspektive sollte ihren Platz haben. Als Zuschauer kann man emotional sicher am ehesten an die Perspektive der Hinterbliebenen andocken. Das war dann auch filmisch der Anfang für uns, so dass wir versucht haben, Kontakte mit den Hinterbliebenen und deren Rechtsbeiständen zu knüpfen. Und dann hat sich mit dem Aufritt der Zeugen die Perspektive langsam geweitet. Da muss man dann viele Gespräche führen – bis hin zu Jürgen Gerlach als Gutachter oder Thorsten Meyer als Polizist, denn die Polizei durfte sich bis dahin ja nie zu ihrer Rolle äußern.
AB: Es gab 2010 viele Leute, die darauf gewartet haben, dass sich einige der Verantwortlichen, die dann Zeugen des Verfahrens waren, äußern – zumindest mit Worten des Trostes. Denen, ihrem Ausweichen aus der Verantwortung und ihrem Schweigen wollten wir Jahre später keine Bühne mehr geben.
Sehen Sie ihre Arbeit als journalistische Arbeit?
DW: Ich würde von mir immer zuerst als Filmemacher sprechen. Bei aller Chronistenpflicht war die große Herausforderung, nicht in der Fülle des Materials zu ertrinken, sondern einen erzählerischen Duktus zu finden. Ein Aspekt wurde im Verlauf der Arbeit an diesem Film immer wichtiger: Der Prozess fiel in eine Zeit, in der von einem Teil der Gesellschaft immer lauter über unser „politisches System“, also über demokratische Institutionen und ihre Arbeitsweisen geschimpft wurde. Ein Movens war deshalb auch der Wunsch, zu zeigen, wie ein Rechtsstaat arbeitet und dass es ein Zeichen des Gelingens ist, wenn sich Menschen die Mühe machen, jeden Stein zweimal umzudrehen und es am Ende vielleicht auch keine einfachen Antworten gibt und man möglicherweise zu dem Ergebnis kommt, dass niemand zu verurteilen ist. Die Neigung des Films zur Akribie hatte insofern auch eine politische Motivation.
AB: Wir haben an den Schluss des Films die Aussage von Gerhard Baum gestellt, dass es Kräfte gab, die versucht haben, diesem Prozess Aufgaben zuzuschreiben, die ein Gerichtsverfahren nicht hat. Ich finde, dass wir in Deutschland dafür dankbar sein sollten, dass es bestimmte Dinge gibt, die wir nicht vor Gericht verhandeln. Dazu gehören Wut und Empörung, die die Beteiligten – Zeugen, Angeklagte, Opfer – natürlich empfinden. Das ist absolut nachvollziehbar! Aber ein Strafverfahren kann nicht heilen. Da braucht es neben einer gerichtlichen auch eine gesellschaftliche Aufarbeitung.
DW: Unser Ringen, eine Haltung zu den Ereignissen des 24. Juli 2010 selbst, zum Prozess und zu unserem Film zu finden, hatte auch damit zu tun, dass wir in den zweieinhalb Jahren, die das Verfahren dauerte, viele Stunden Berichterstattung angesehen hatten, in denen verwaiste Eltern in einer häufig sehr emotionalisierenden Weise gefragt wurden, wie es ihnen denn so ginge mit diesem Verfahren? Uns war klar, dass wir das so nicht fortsetzen wollten. Auch aus dem Bedürfnis, die Protagonist*innen zu schützen.
AB: Eine gewisse Form der Zurückhaltung war unsere Antwort darauf, dass wir nicht übergriffig werden wollten. Sicherlich gibt es eine Empörung darüber, was dort auf bürokratischer Ebene im Vorfeld passiert ist, und ich glaube, der Film zeigt schon ganz genau, welche Winkelzüge stattgefunden haben, damit die Veranstaltung überhaupt stattfinden konnte, weil es einen diffusen politischen Erwartungsdruck auf alle Beteiligten gab, dass es mit der Loveparade in Duisburg als Prestigeprojekt klappt. Es ist dann auch eine bewusste Entscheidung, den teilweise sehr technischen Ausführungen des Gutachters Jürgen Gerlach im Film soviel Raum zu geben. Damit erzählen wir, was da genau passiert ist. Uns war wichtig zu zeigen, dass es Menschen gibt, die wahrscheinlich für immer trauern werden. Aber wir als Filmemacher*innen können uns ihre Trauer nicht zu eigen machen, um Emotionalität zu erzeugen – das wäre eine Anmaßung. Darum haben wir darauf vertraut, dass die Zuschauer*innen selber fühlen. Der Dokumentarfilm sollte seinen Zuschauer*innen keine Gefühle ‚vorturnen‘, sondern darauf vertrauen, dass diese sie selbst empfinden.
Zur PersonDominik Wessely
Dominik Wessely, 1966 in München geboren, hat zunächst Neuere Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie studiert, bevor er von 1991 bis 1996 an der Filmakademie Baden-Württemberg Regie mit dem Schwerpunkt auf Dokumentarfilm studiert hat. Zwei Jahre nach seinem Abschluss realisierte er den Dokumentarfilm „Die Blume der Hausfrau“ über einige Staubsaugervertreter. Der Film war mit seiner ungewöhnlichen Inszenierung, die sich am Genrefilm bediente, bei der Kritik wie auch beim Publikum ein Überraschungserfolg und hatte im Kino 70.000 Zuschauer. Seitdem hat Wessely sowohl für das Fernsehen als auch für das Kino zahlreiche Dokumentarfilme zu unterschiedlichsten Themen wie die Arbeitswelt, Musik, Theater oder Film realisiert, darunter auch Dokumentarserien („Broadway Bruchsal“, ausgezeichnet mit dem Grimme-Preis). Im Jahr 2020 führt er Regie bei dem Dokumentarfilm „Loveparade – Die Verhandlung“, der im Jahr 2021 im mit dem Grimme Preis in der Sektion „Information & Kultur“ ausgezeichnet wurde. Von 2008 bis 2013 war Dominik Wessely Professor für Dokumentarfilmregie an der Internationalen Filmschule Köln (ifs).
Zur PersonAntje Boehmert
Antje Boehmert hat Nordamerikanischen Geschichte, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften und Anglistik in Köln studiert und anschließend in Washington ein Volontariat absolviert. Danach hat sie in Washington, München und Berlin als freie Producerin und Regisseurin, bevor sie 2011 die Produktionsfirma DOCDAYS Productions gegründet hat, wo sie gemeinsam mit ihrem Team als geschäftsführende Produzentin aus wissenschaftlichen, historischen und gesellschaftlichen Themen internationale Koproduktionen für Kino, TV und Web realisiert. Im Jahr 2020 produzierte sie den Dokumentarfilm „Loveparade – Die Verhandlung“, der im Jahr 2021 in der Sektion „Information & Kultur“ im mit dem Grimme Preis ausgezeichnet wurde und für den sie auch das Buch schrieb.