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Loveparade: Die Verhandlung Als wären wir dabei gewesen Filmen, was man nicht sehen kann Ein möglichst vollständiges Bild vom Verfahren liefern "Ein komplexes Sammelsurium an Kausalitäten" Kurze Geschichte großer Musikfestivals Die Geschichte von Techno und der Loveparade Redaktion

Als wären wir dabei gewesen Filmkritik zu „Loveparade – Die Verhandlung“ von Dominik Wessely

Christian Meyer-Pröpstl

/ 5 Minuten zu lesen

Gerichtsverhandlungen dürfen in Deutschland nicht gefilmt werden. "Loveparade: Die Verhandlung" nutzt deshalb einen inszenatorischen Kniff, damit es anders erscheint.

Der Tunnel durch den die Besucher der Loveparade 2010 mussten. In seiner Mitte schwenkte eine Rampe ab, auf der es zur Massenpanik kam (© Docdays Productions)

Ein langer, breiter Tunnel. Die Kamera fährt in den gedrungenen, horizontalen Schacht hinein, der mitten im Ruhrgebiet ähnlich bedrohlich erscheint wie ein horizontaler Kohleschacht. Aus dem Off erklingt eine Radiostimme: „Massenpanik bei der Loveparade in Duisburg … bisher 21 Menschenleben gefordert … die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen fahrlässiger Tötung gegen unbekannt.“ Ebenso wie sich ein Beat langsam in die Tonspur schiebt, scheinen sich Partygeräusche unter den Rhythmus zu mischen, während die Kamera auf einen helleren Punkt in der Mitte des Tunnels zusteuert. Es ist die Stelle, wo die schmale Rampe beginnt, die im Sommer 2010 zum Festivalgelände der Loveparade führt und die das Nadelöhr war, an dem es zur Katastrophe kam.

Der Film wechselt zu einer frühmorgendlichen Szene am 8. Dezember 2017 in ein Auto auf der Autobahn. Ein Sprecher aus dem Off erklärt in sachlichem, fast protokollartigem Ton, dass sich Dr. Matthias Breidenstein, Gerichtssprecher des Landgerichts Duisburg, auf dem Weg zum ersten Prozesstag eines der größten Strafverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik befindet. Als nächstes sehen wir Benjamin Sartory, Prozessbeobachter des WDR, mit einer ersten Einschätzung über die Lage zu Prozessbeginn. Auch wenn Breidenstein und Sartory nicht die einzigen Protagonisten bleiben, die im Film in Wort und Bild vorkommen – sie geben repräsentativ den sachlichen Tonfall des Dokumentarfilms von Dominik Wessely aus dem Jahr 2020 für die folgenden 89 Minuten vor. Auf effekthascherische Bilder vom Unglücksort wird ebenso verzichtet wie auf einen Rückgriff auf die damalige mediale Berichterstattung, die noch während der Veranstaltung, die auch nach den katastrophalen Ereignissen am Nachmittag gegen 17 Uhr noch bis 23 Uhr weiter lief, verzichtet. „Im April 2017“, zu Beginn der Filmproduktion, so Antje Boehmert, Drehbuchautorin und Produzentin von „Loveparade – Die Verhandlung“, „wurde uns klar, dass wir uns von den Bildern entfernen möchten, die die Menschen bis dahin fast sieben Jahre lang von der Katastrophe gesehen haben ... Wir haben uns für die Recherche tatsächlich sehr wenig des Materials angesehen, das es schon gab.“ Der Film versucht sich an einem neutralen, unvoreingenommenen Blick. Das führt auch dazu, dass er kaum Kontext liefert: Weder zu dem Phänomen Techno (obwohl Regisseur Dominik Wessely schon 1994 für den Dokumentarfilm „Omen – 15 Stunden Tekkno“ als Kameramann arbeitete), noch zu dem Thema Massenveranstaltung und auch nicht zu der Loveparade an sich – ihrer Geschichte von 1989 bis zu ihrem Ende in Duisburg im Sommer 2010. So könnte der Einstieg unvorbereitete Zuschauer*innen an einigen Stellen überfordern. Doch mit Voranschreiten des Prozesses entfalten sich die Umstände der Katastrophe nach und nach. Dabei geht der Film gemäß des Prozesses streng chronologisch vor. Wenn Aspekte rund um die Planung der Loveparade in der Verhandlung thematisiert werden, dann finden sie über das rund 3000 Seiten starke Prozessprotokoll, das Wessely und Boehmert akribisch anfertigen ließen, Eingang in den Film. Wenn während der Verhandlung zu einem bestimmten Aspekt der Planung, Vorbereitung und Durchführung und schließlich dem Hergang des Unglücks Personen befragt werden, dann werden an eben jenen Stellen die größeren Zusammenhänge im Film thematisiert. Entweder direkt über die entsprechenden Personen und ihre Aussage, wie im Fall des Angeklagten damaligen Baudezernenten von Duisburg, Jürgen Dressler oder Zeugen wie dem Polizist Manfred Bauknecht, der während der Katastrophe im Einsatz war. Oder indirekt über den Richter Mario Plein, den Oberstaatsanwalt Uwe Mühlhoff beziehungsweise die Staatsanwälte Jens Hartung und Christian Seiffge, den bereits erwähnten Gerichtssprecher: Dr. Matthias Breidenstein oder auch Vertreter der Nebenkläger wie Gerhard Baum (Jurist, FDP, ehem. Bundesinnenminister) oder Prof Dr. Julius Reiter. Natürlich gibt der Film auch der Verteidigung einen entsprechenden Raum. Stellvertretend für die insgesamt 32 Verteidiger ist dies Dr. Ingo Bott. Auch Hinterbliebene von Opfern wie Gabriele Müller, Edith Jakubassa, Francisco Zapater & Núria Caminal kommen als Nebenkläger in solchen Interviewsequenzen zu Wort. Auswahl und Inszenierung der Interviewpartner*innen zeugen wie der gesamte Film von einem großen Bedürfnis, jegliche tendenziöse, boulevardeske oder anders voreingenommene Perspektive zu vermeiden. Den Film durchzieht von Anfang bis Ende ein sachlich neutraler Tonfall, der weitgehend einer Gerichtssituation entspricht und auch diese Interviewsequenzen einschließt. Die meisten dieser Interviews sind in der Form sogenannter „Talking Heads“ inszeniert. Es sind Interviewszenen, die den Interviewer nicht zeigen, sondern nur den Interviewten in einem festen Setting.

Einige der Personen sind allerdings auch aktiv in ihrer Rolle zu sehen: der Radiojournalist Benjamin Sartory beim Einsprechen seines Beitrags und bei Interviews, die Nebenkläger bei Interviews, sogar der Richter bei der Begrüßung im Gerichtssaal. Doch weitere Bilder aus dem Gerichtssaal beziehungsweise von der Verhandlung gibt es nicht. Das hat weniger ästhetische oder dramaturgische Gründe. Denn in Deutschland ist es schlicht unzulässig, im Verhandlungssaal zu fotografieren, zu filmen oder Tonaufnahmen anzufertigen und diese dann öffentlich zu zeigen. Der Kern des Films, das Thema, muss also unsichtbar sein und der Film kann nur mittels der Protagonist*innen darum herum konstruiert werden.

Der leere Verhandlungssaal des Landgerichts Duisburg für den Loveparade-Prozess, Außenstelle Congress Centrum Düsseldorf. Aufnahmen während der Verhandlung waren nicht erlaubt. (© Docdays Productions)

Dominik Wessely und Antje Boehmert haben sich jedoch einen inszenatorischen Kniff ausgedacht, der dem Zuschauer suggeriert, während des Prozesses ganz dicht dabei zu sein. Die Produktion hat den Saal, der in der Düsseldorfer Messe als Gerichtssaal für das Landgericht Duisburg verwendet und dementsprechend ausgestattet wurde, in einer verhandlungsfreien Zeit für zwei Tage angemietet und dort filmisch ‚abgetastet‘. „An einem verhandlungsfreien Tag haben wir alles aufgefahren, was man sich nur vorstellen kann“, sagt Antje Boehmert: „Kran, Dolly, zwei Kameraleute, die parallel gearbeitet haben. Wir haben dann mit einem Stab von 15 Leuten wie in einem Spielfilm diesen leeren Raum gedreht. Da hatten wir aber auch schon die wichtigsten Zeugenaussagen und wussten ganz genau, was wir erzählen wollen und wie das in einer Schuss-Gegenschuss-Montage in dem leeren Verhandlungsraum aussehen soll. Wir haben es so gedreht, als wären wir während der Zeugenaussagen mit der Kamera dabei gewesen – nur die Menschen haben gefehlt.“ Dem Film gelingt auf diese Art eine visuelle Inszenierung des Raums, der Zeremonie des Gerichtsverfahrens und auch der Aussagen der Beteiligten, als wäre der Zuschauer dabei. Dass wir nur einen leeren Saal sehen, nimmt man durch die filmische Inszenierung und die eingesprochene Tonspur kaum noch war. Und so ermöglicht der Film zum einen etwas, was gute Dokumentarfilme in der Regel leisten sollten: Er nimmt das Publikum mit an einen Ort und zu einem Ereignis, das es sonst nicht so direkt erleben könnte. Und außerdem gelingt dem Film in der längeren Form des abendfüllenden Spielfilms ein intensiver und sehr genau ausbalancierter Blick auf ein emotional schwer beladenes Thema ohne tendenziöse oder sensationslüsterne Momente. Am Ende ist „Loveparade – Die Verhandlung“ nicht nur ein Film über diesen einen Prozess sondern ganz allgemein ein Film über das bundesrepublikanische Rechtssystem – und seine Grenzen.

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lebt und arbeitet als freier Journalist in Köln und publiziert vor allem zu popkulturellen Themen (Schwerpunkt Film, aber auch Musik- und Comic-Themen) in diversen Magazinen (u.a. Filmdienst, Zeit-Online, choices, Strapazin). Daneben Moderation von Publikumsgesprächen und Erwachsenenbildung (Friedrich-Ebert-Stiftung).