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Kurze Geschichte großer Musikfestivals | Loveparade: Die Verhandlung | bpb.de

Loveparade: Die Verhandlung Als wären wir dabei gewesen Filmen, was man nicht sehen kann Ein möglichst vollständiges Bild vom Verfahren liefern "Ein komplexes Sammelsurium an Kausalitäten" Kurze Geschichte großer Musikfestivals Die Geschichte von Techno und der Loveparade Redaktion

Kurze Geschichte großer Musikfestivals

Christian Meyer-Pröpstl

/ 8 Minuten zu lesen

Gutes Wetter, gute Laune, gute Musik! So kann ein tolles Festivalwochenende aussehen. Seit über 50 Jahren treffen sich vor allem junge Menschen im Sommer bei Musikfestivals und haben eine gute Zeit. Angesichts der großen Menschenmassen geht das meist gut. Doch schlechte Planung, schlechtes Wetter, schlechte Stimmung und schlechte Sicherheitsvorkehrungen führen immer wieder zu kleinen und großen Katastrophen.

Woodstock Music and Arts Festival 1969: Die Mutter aller Pop- und Rockfestivals (© picture-alliance)

Gemeinhin gilt das allseits bekannte Open Air-Festival „Woodstock“ als Mutter aller Popfestivals. Und ganz falsch ist diese Einordnung nicht, setzte „Woodstock“ im Sommer 1969 doch gleich auf mehreren Ebenen Maßstäbe, die bis heute den Festivalbetrieb prägen. Doch geht man etwas weiter in die Vergangenheit zurück, so stößt man auf das Newport Jazz Festival, das seit 1954 in Rhode Island stattfindet. 1960 entstand mit „Jazz on a Summer‘s Day“ ein Film, der das entspannte Treiben rund um das Festival im Jahr 1958 impressionistisch einfängt. Ganz so entspannt war es aber nicht immer. Im Jahr 1960 kam es zu Schlägereien, weil verärgerte, betrunkene Fans, die keine Karten mehr bekommen konnten, randalierten. Auch später, als das Festival gegen Ende der 60er Jahre zunehmend Rockbands einlud, kam es immer wieder zu Ausschreitungen.

Die Hippie-Ära: Musikfestivals in den 1960er und 1970er Jahren

Die Geschichte der Musikfestivals ist trotz solcher Ereignisse vor allem eine Geschichte des friedlichen Feierns. Zehntausende, mitunter Hunderttausende meist junge Menschen kommen für wenige Tage zusammen, um gemeinsam mit Musik eine gute Zeit zu haben. Im Unterschied zu festen Locations wie Konzerthallen oder auch Stadien muss die komplette Infrastruktur – von Bühne und Soundanlage über Versorgung und Unterbringung des Publikums bis hin zu Sicherheitsvorkehrungen – für wenige Tage organisiert und installiert werden. Vergleichsweise selten kam es dabei in den letzten gut fünfzig Jahren seit Woodstock zu Verletzten oder gar Toten. Im Gegenteil sind Musikfestivals meist ein erstaunliches Zeugnis des friedlichen Zusammenseins von unglaublich vielen Menschen, die häufig wenig außer ihr Musikgeschmack miteinander verbindet – bei inzwischen häufig bis zu hundert Bands aus unterschiedlichen Stilrichtungen mitunter nicht mal der. Heutzutage muss sich das Publikum oft zwischen mehreren Bühnen entscheiden, auf denen gleichzeitig Programm stattfindet. Das war bei Woodstock noch nicht der Fall. Es gab nur eine einzige, überdimensionale, extra zu diesem Anlass auf einer grünen Wiese aus Holz gezimmerte Bühne. Dass Woodstock aber weitgehend friedlich verlief – trotz Drogen, Unwettern, Verkehrschaos und einer sehr kurzfristigen Planung (einen Monat vor dem Festival musste der Veranstaltungsort noch einmal gewechselt werden) – erscheint heute fast wie ein Wunder. Wegen Unwetters, Nahrungsmangels und mangelnder medizinischer Versorgung musste dennoch der Notstand ausgerufen werden.

Bereits zwei Jahre zuvor hatte das Monterey International Pop Festival 1967 den Startschuss für eine Reihe von großen Festivals in der Hippie-Ära gegeben. Das Miami Pop Festival, der erste Versuch, des Woodstock-Mitveranstalters Michael Lang, ein großes Popfestival aufzuziehen, war 1968 bereits im strömenden Regen geendet, so dass keine elektrischen Geräte mehr auf der Bühne genutzt werden konnten. Einige Monate vor Woodstock kam es dann beim Palm Springs Pop Festival (1. u. 2. April 1969) zu randalierenden Fans, Polizeigewalt, vielen Verletzten und einem Toten. Es sollte nicht der letzte Tote in dem Jahr sein. Während zeitgleich mit Woodstock das Harlem Cultural Festival, das wegen seines Line Up hauptsächlich schwarzer Musiker*innen (und einem ebenso fast ausschließlich schwarzem Publikum) auch Black Woodstock genannt wird, komplett friedlich verlief, obwohl sich die New Yorker Polizei geweigert hatte, das Festival zu begleiten (stattdessen wurden die Black Panther engagiert), kam es beim Altamont Free Festival Ende 1969 auf einer Rennbahn in Kalifornien zu einem dramatischen Todesfall, der der tragische Endpunkt bereits am Nachmittag begonnener Konflikte mit den Hells Angels war, die als Security-Personal angeheuert wurden. Ein Zuschauer hatte im Konflikt mit den Hells Angels einen Revolver gezogen und wurde daraufhin direkt vor der Bühne, auf der die Rolling Stones spielten (die im Sommer noch im Hyde Park in London vor 250.000 bis 500.000 friedlichen Zuschauern ein kostenloses Konzert gaben) , erstochen. Das Festival in Altamont gilt seitdem als Trauma beziehungsweise symbolischer Endpunkt des friedlichen Hippie-Traums der 1960er Jahre. Der Dokumentarfilm „Gimme Shelter“ von Charlotte Zwerin sowie Albert und David Maysles aus dem Jahr 1970 ging gemeinsam mit den Rolling Stones den Ereignissen genauer nach. In den frühen 1970er Jahren kam die Festivalwelle auch nach Europa. In England etablierten sich das Isle of Wight-Festival (1968 und 1969 ca. 20.000 Zuschauer, 1970 mit 600.000 bis 700.000 Zuschauern das wohl größte Rock-Festival der Geschichte mit zahlreichen Ausschreitungen, bis am letzten des fünftägigen Festivals die mehrfach gestürmten Absperrungen für alle geöffnet wurden), hervorgegangen aus dem National Jazz and Blues Festival (seit 1961) und das Reading Festival (seit 1971 mit bis zu 70.000 Zuschauern, zwischen denen es immer wieder zu Gewalttätigkeiten kam). Das Glastonbury-Festival (bis zu 200.000 Zuschauer*innen) verlief wie viele der auf freien Flächen auf dem Land veranstalteten Popereignisse größtenteils ohne Zwischenfälle. In Deutschland hingegen kam es 1970 bei dem Love-and-Peace-Festival auf der Ostseeinsel Fehmarn zu etlichen Zwischenfällen. Auf dem Festival, zu dem die Veranstalter durch Woodstock und das Isle of Wright-Festival inspiriert wurden, lag von Anfang an ein Schatten. Schon der Vorverkauf des von u.a. Beate Uhse mitfinanzierten Festivals lief schleppend an, nicht mal die Hälfte der erhofften 60.000 Besucher*innen waren am Ende dort. Viele der Gruppen sagten im Vorfeld oder erst kurz vorher ab. Als Ordner wurden Rocker engagiert, die sich dem Festival mit Drohungen aufgedrängt hatten und wie bereits auf dem Altamont Free Festival eine angespannte Stimmung verbreiteten. Nachdem der erste Tag im Dauerregen verlief warteten am zweiten Tag fast alle auf den Star Jimi Hendrix, der aber auf den Sonntag verschoben wurde. Nach einem wenig inspirierten Konzert des Musikers, der keine zwei Wochen später starb, verließen viele Zuschauer*innen entnervt das Gelände. Die Mitarbeiter wurden um ihr Geld betrogen, das die Veranstalter am Nachmittag mitnahmen. Als Reaktion darauf legten sie, während auf der Bühne die noch unbekannten Ton Steine Scherben „Macht kaputt was Euch kaputt macht“ spielten, in der Festivalzentrale Feuer.

Vom 6.-8. Juni 1987 fand auf dem Platz der Republik das „Concert for Berlin“ statt und führte auf der anderen Seite der Mauer im Osten Berlins zu Konflikten zwischen Musikfans und der Stasi (© picture-alliance/dpa)

Zu Unruhen kam es im Jahr 1987 auch am Rande eines Festivals mitten in Berlin. Vom 6. bis zum 8. Juni spielten beim „Concert for Berlin“ auf dem Platz der Republik unter anderen David Bowie, Eurythmics und Genesis. Die Unruhen fanden allerdings nicht auf dem Festivalgelände, sondern einige hundert Meter weiter im Osten statt – auf der anderen Seite der Berliner Mauer. Dort, im Osten der Stadt, versammelten sich jeden Tag mehr Menschen, um die Musik der Stars zu hören. Im Westen waren es 60.000 Zuschauer*innen, im Osten nur wenige tausend. Aber als Stasi und die Volkspolizei immer härter durchgreifen, um die Menschenmenge aufzulösen, werden die friedlichen Musikfans mehr und mehr politisiert und es ertönen „Die Mauer muss weg“-Rufe. Zwei Jahre später ist sie weg, und Pfingsten 1987 am Brandenburger Tor gilt im Nachhinein als der Anfang vom Ende der DDR.

Stadionrock, Alternative Rock und elektronische Tanzmusik

Die 1970er- und 1980er-Jahre waren weltweit geprägt vom Stadionrock. Das Phänomen, große Konzerte in Fußballstadien auszutragen, hatten die Beatles am 15. August 1965 mit ihrem Auftritt im New Yorker Shea-Stadion vor 55.000 Fans auf ihrer USA-Tour initiiert. Allerdings war die Soundtechnik damals noch nicht so ausgereift, so dass die Musik nur schlecht zu hören war und auch die Musiker selber die Instrumente – sowohl die der Bandkollegen als auch ihr eigenes – nur erahnen konnten. In den 1970er Jahren etablierte sich das Stadion als Veranstaltungsort, der natürlich sicherheitstechnisch auf die Menschenmassen ausgerichtet war und bereits eine komplette Infrastruktur bot. Mit dem Erfolg des Alternative Rock in den 90er Jahren etablieren sich viele Festivals wie das Lollapalooza (ab 1991; 2019 ca. 400.000 Besucher*innen und diverse Ableger weltweit, u.a. in Berlin). In den 80er und 90er Jahren wurden dann auch in Deutschland große Open Air-Festivals wie „Rockpalast“ oder „Bizarre“ an der Loreley, „Rock am Ring“ oder das „Wacken Open Air“ zu erfolgreichen Standards.

Auch der Erfolg der elektronischen Musik führt zur Gründung neuer Festivals, z.B. das Ultra Music Festival in Florida (ca. 160.000 Besucher*innen) oder die weltweit größten – das Electric Daisy Carnival (ab 1997 in Los Angeles, inzwischen in Las Vegas, ca. 400.000 Besucher*innen) und „Tomorrowland“ (seit 2005 in Belgien, ca. 400.000 Besucher*innen, etwas kleiner auch in den USA und Brasilien). Auch in Deutschland gibt es seit den 1990er Jahren zahlreiche Open Air Festivals für elektronische Musik wie NatureOne, Fusion (beide ca. 70.000 Besucher*innen) oder das Parookaville (über 200.000 Besucher*innen). Parallel zu dem in großen Hallen und überdachten Stadien ausgetragenen Techno-Festival Mayday fand in den 1990er Jahren in Berlin die Loveparade statt, die in den folgenden Jahren sehr schnell auf über 1 Millionen Besucher anwuchs. Bei der Loveparade in Duisburg, die inzwischen von der Fitness-Studio-Kette McFit veranstaltet wurde, starben im Jahr 2010 bei einer Massenpanik 21 Menschen, über 500 wurden verletzt.

Ausschreitungen am Ende des dreitägigen Woodstock-Festivals im Jahr 1999 in Rome, New York

Im Verhältnis zu der Anzahl an durchgeführten Festivals sind schwerere Unfälle oder auch Straftaten trotz der großen Menschenmassen verhältnismäßig selten. Dennoch kam es in den letzten Jahrzehnten auf großen Musikfestivals immer wieder zu Verletzten und Toten. Ausgerechnet bei der zweiten Neuauflage des Klassikers der „Love & Peace“-Ära: Beim im Jahr 1999 ausgetragenen Woodstock III fanden heftige Ausschreitungen statt. Tumulte in der Zuschauermenge und mehrere Vergewaltigungen überschatteten das Festival, bei dem eine Bühne zerstört und schließlich in Brand gesetzt wurde. Auch im Umland gab es Zerstörungen, die Crew des Fernsehsenders MTV musste mit dem Hubschrauber ausgeflogen werden. Ein Jahr darauf starben auf dem Festival in Roskilde auf der dänischen Insel Seeland neun Menschen, weil sie unter der Menschenmasse erstickt wurden. Sie hatten auf dem matschigen Untergrund den Halt verloren und wurden vom nachdrängenden Publikum erstickt. Im Nachhinein wurde große Kritik an der Beauftragung von Minderjährigen für Sicherheitsfunktionen geübt. Das bislang letzte große Unglück bei einem Musikfestival ereignete sich im Jahr 2021 beim Astroworld Festival im NRG Park in Houston. Bei einer Massenpanik starben 10 Menschen, etwa 300 Menschen wurden verletzt.

Musikfestivals – Unglücke, Unfälle, Unruhen:

Altamont Free Festival (1969): Ein Zuschauer wird von einem als Sicherheitskraft angeheuerten Hells Angel erstochen, als dieser eine Pistole zieht. Zuvor hatte es schon mehrere Zwischenfälle zwischen den Zuschauern und den aggressiven Hells Angels gegeben

The Who, Cincinnati (1979): Vor einem Konzert der Band The Who im Riverfront Stadion werden 11 Zuschauer*innen am viel zu engen Einlass erdrückt, weitere 26 werden verletzt. Die Band, der man von den Ereignissen nichts gesagt hat, spielt wie geplant das Konzert.

Woodstock III (1999): Bei dem 3-tägigen Festival kommt es immer wieder zu Vergewaltigungen, Randale und Ausschreitungen. Am dritten Tag wird eine der Bühnen zerstört und in Brand gesetzt. Auch im Umland des Festivals kommt es in den Ortschaften zu Ausschreitungen und Zerstörungen.

Roskilde (2000): Als nach starkem Regen der Boden aufgeweicht ist und die Menschenmenge zu Beginn des Konzerts von Pearl Jam nach vorne drängt, gibt der Boden nach. 9 Menschen werden im Gedränge erdrückt.

Loveparade (2010): Bei einer Massenpanik auf Grund von Gedränge im einzigen und viel zu engen Zugang auf das Festivalgelände sterben 21 Menschen, über 500 werden verletzt.

Indiana State Fair (2011): Sieben Menschen sterben und über fünfzig Menschen werden verletzt, als eine Bühne nach lang anhaltendem, starken Wind einstürzt.

Astroworld Festival (2021): Während des Auftritts von Travis Scott kommen 10 Menschen zu Tode, weil sie von der zur Bühne drängenden Masse erdrückt werden

Weitere Inhalte

lebt und arbeitet als freier Journalist in Köln und publiziert vor allem zu popkulturellen Themen (Schwerpunkt Film, aber auch Musik- und Comic-Themen) in diversen Magazinen (u.a. Filmdienst, Zeit-Online, choices, Strapazin). Daneben Moderation von Publikumsgesprächen und Erwachsenenbildung (Friedrich-Ebert-Stiftung).