1938 erschien in England „Racism“, das Buch des drei Jahre zuvor verstorbenen Berliner Arztes und Sexualforschers Magnus Hirschfeld (1868-1935) und Leiter des Berliner Instituts für Sexualwissenschaft. Hirschfeld hatte es im Exil geschrieben, nachdem er Deutschland 1930 für eine längere Reise verlassen hatte und aus Sicherheitsgründen nicht mehr zurückkehrt war. Zu diesem Zeitpunkt waren seine öffentlichen Vorträge bereits seit langer Zeit von Nationalsozialisten gestört und tätlich angegriffen worden, da Hirschfeld für die nationalsozialistischen Demagogen ein besonderes Feindbild darstellte (vgl. Herrn 2022, insbes. 445ff.). Das Besondere an seinem posthum erschienenen Buch: Es war das erste, das den Begriff Rassismus im Titel trug.
Mit „Racism“ beginnt ein neuer Abschnitt in der Begriffsgeschichte, die seither eine Reihe erstaunlicher Wendungen genommen hat. Allerdings ist diese Geschichte hierzulande nicht besonders gut erforscht, was angesichts der gegenwärtig breiten öffentlichen Debatte über Rassismus zunächst erstaunt. Es erklärt sich aber dadurch, dass die seit den 1980er Jahren in Deutschland entstandene kritische Rassismusforschung jahrzehntelang ein randständiges Dasein fristete und kaum gefördert wurde. Der Rassismusbegriff stand nämlich unter dem Generalverdacht, etwas zu politisieren, was es in Deutschland eigentlich nicht (mehr) geben sollte: Rassismus. Bezeichnend ist daher auch, dass Hirschfelds Buch bis heute nicht auf Deutsch veröffentlicht wurde.
Als „Racism“ erschien, war das Wort „Rasse“ schon seit Jahrzehnten in Gebrauch. Die damit verbundenen
Der Begriff Rassismus verbreitete sich in Europa Ende des 19. und Anfang der 20. Jahrhunderts zunächst vor allem dort, wo sich die pseudowissenschaftliche Einteilung von Menschen in Rassen mit einer Politik verband, die sich selbst als rassistisch bezeichnete und entsprechende Vorstellungen propagierte. So versuchten etwa in Italien eine Reihe von Intellektuellen wie Giulio Cogni (1908-1983), Julius Evola (1898-1974), Guido Landra (1913-1980) oder Cesare Lombroso (1835-1909) im Zuge des Aufstiegs des
Da das Rassedenken in Lehre und Praxis den gemeinsamen Nenner des
Neben der im Rassismus typischen Differenzierung nach innen, d.h. der Einteilung des Menschen in Gruppen, gibt es auch die Konkurrenz unterschiedlicher Rassenkonzepte nach außen. So verbanden die jeweiligen Vertreter und die ihnen verbundenen populären Bewegungen ihr Rassedenken mit einer jeweils nationalistischen Komponente („Deutsche“, „Franzosen“, „Italiener“ usw.), in der die „eigene Rasse“ angeblich gelebt wird – und glaubten fest an die Differenzierung und Hierarchisierung von Menschen in Rassen. Bis in die Gegenwart reichende kulturalistische Erzählungen über „ethnische Unterschiede“ (beispielsweise im
Die Einteilung von Menschen in „Rassen“ und die damit verbundenen Klassifikationssysteme, die immer auch Behauptungen über die Vererbung vermeintlich unveränderlicher Eigenschaften enthielten, sind mit der europäischen Expansion im Zuge von Imperialismus und Kolonialismus verbunden. In Italien war dies beispielsweise nach der Besetzung Äthiopiens durch italienische Truppen 1935/36 der Fall. So wurden die italienischen Rassengesetze vom faschistischen Staat im November 1938 erlassen und richteten sich vor allem gegen die italienischen Juden, diskriminierten aber auch die Bevölkerung in den italienischen Kolonien in Libyen, Äthiopien, auf den Dodekanes-Inseln und in der Konzession von Tianjin in China. Die Rassisten in Europa verstanden sich als zivilisationslogischer Gegensatz zu dem, was beispielsweise als das „Orientalische“, der „Orient“ abgewertet wurde.
Das institutionalisierte Zusammenspiel zwischen Antisemitismus und Rassismus wiederum gipfelte in der
„Rasse existiert nicht.“ (Colette Guillaumin)
Affirmativ von Rassismus zu sprechen, also in einer positiven Bezugnahme auf Rassismus durch selbsternannte Rassisten, war nach dem Zweiten Weltkrieg und der Niederlage des Nationalsozialismus und Faschismus nicht mehr offen möglich. Der Begriff „Rassismus“ erfuhr eine politische Wandlung und wurde nun, wie bei Hirschfeld, vor allem kritisch verwendet. Parallel dazu begannen die
Bis heute bleibt diese UN-Initiative jedoch relevant. Die Ablehnung des Rassebegriffs wurde wiederholt wissenschaftlich bestätigt und bekräftigt, zuletzt 2019 in der Externer Link: „Jenaer Erklärung“ der Deutschen Zoologischen Gesellschaft. Ihr Untertitel „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung“ bringt das Argument auf den Punkt. So sprechen von „Rasse“ heute nur wenige, und inzwischen steht auch die
“Rasse existiert nicht. Aber sie tötet Menschen.“ (Colette Guillaumin)
Wenn die Idee der „Rasse“ widerlegt ist, weil weder die natur- noch die sozialwissenschaftliche Forschung eine Substanz für ihre Existenz finden kann, warum verschwindet dann aber der Rassismus nicht? Der antikoloniale Autor, Psychiater und Revolutionär
Dass mit der Diskreditierung (wohlgemerkt aber nicht dem Ende) des biologischen Rassenkonzepts der Rassismus seine Gestalt veränderte und wie Fanon schreibt, nicht verknöcherte, sondern sich erneuerte, hat die französische, feministische Ethnologin und Psychologin Colette Guillaumin dann in den 1970er Jahren näher untersucht. So schreibt sie in ihrem Buch: “Rasse existiert nicht. Aber sie tötet Menschen.“ Guillaumin begreift Rassismus als eine soziale Tatsache und entwickelt zur Erklärung beständig anhaltender rassistischer Verhältnisse das Konzept der „Rassifizierung“. Darunter versteht sie einen politischen und sozialen Prozess, in dem „Rassen“ und rassistisches Wissen erst entstehen. Dabei werden in sozialen Beziehungen zwischen Menschen biologischen, kulturellen, symbolischen, geistigen oder soziologischen Merkmalen Bedeutungen zugewiesen und derart strukturiert, dass unterscheidbare soziale Kollektive definiert und konstruiert werden. Rassistische Markierungen wie die Hautfarbe (die erst objektiviert werden muss), Schädelgröße (die erst vermessen werden muss), sprachliche Besonderheiten (die erst unterschieden werden müssen) oder bestimmte Kleidungsstile (die erst hervorgehoben werden müssen) usw. werden im Nachhinein herangezogen, um die Unterschiede von rassistisch konstituierten Gruppen zu bestimmen. Sie „erklären“ uns immer wieder, wer wir sind, wo wir dazu- und hingehören, und wo wir sozial im Verhältnis zueinanderstehen. Zum Teil wird das auch mit Gewalt durchgesetzt und gelebt.
Ein historisches Beispiel sind die bereits erwähnten Jim Crow-Gesetze in den USA, die Rassentrennung im öffentlichen Raum festschrieben - und beispielsweise regelten, wer etwa neben wem in einem Bus oder auf einer Parkbank sitzen durfte. Diese Gesetze operierten noch mit einer klaren Rassendifferenzierung. Als der Begriff der Rasse als objektive Tatsache dann aber weitgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt wurde, bildeten sich neue institutionelle Segregationsweisen. Die Rechtswissenschaftlerin Michelle Alexander etwa sieht in der Masseninhaftierung von Schwarzen in den USA im Zuge von Kriminalitätsbekämpfung eine historische Kontinuität zu der in der Jim Crow-Ära rechtlich verankerten Segregation. So waren Externer Link: laut einer Studie Ende 2021 Schwarze Amerikaner in staatlichen Gefängnissen fast fünfmal so häufig inhaftiert wie weiße, landesweit verbüßt einer von 81 schwarzen Erwachsenen eine Haftstrafe in einem staatlichen Gefängnis; in 12 Staaten war mehr als die Hälfte der Gefängnisinsassen schwarz, in sieben Staaten war das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen größer als 9 zu 1.
Theoretische und praktisch-politische Anstrengungen haben zwar zu einem Verschwinden des Wortes „Rasse“ beigetragen, aber Guillaumin stellt fest: „Wenn das Wort selbst („Rasse“; MB) zu verschwinden tendiert, (…) so ist doch das Wahrnehmungsfeld („Rassismus“; MB), an das es appelliert, das, was es bezeichnet, in keiner Weise überlebt, der Sinn ist in keiner Weise beseitigt.“ (Guillaumin 1989, 80). Wenn sich aber kaum jemand mehr zum Rassismus offen bekennt und das Rassedenken widerlegt ist, verschwindet dann auch die Beweislast: dann verschwindet nicht mehr nur das Wort „Rasse“, sondern auch das Wort „Rassismus“.
Rassismus existiert nicht.
Das war insbesondere in Deutschland der Fall. So beschrieb 1992 in der Einleitung, die Alex Demirovic geschrieben hat, zu einem Forschungsüberblick das Frankfurter Institut für Sozialforschung: „Der Einbürgerung des Begriffes Rassismus in einer allgemeineren Bedeutung, wie ihn RassismusforscherInnen international diskutieren, wird die spezifische Verwendung der biologisch begründeten Rassenideologie zur Selektion und Vernichtung von Millionen Menschen im Nationalsozialismus entgegengestellt“ (Institut für Sozialforschung 1992, 13) Der Begriff Rassismus, so die Befürchtung, wecke auch die Vorstellung der Rassen- und Vernichtungspolitik im nationalsozialistischen Deutschland, die zu Recht der Vergangenheit angehören sollte.
Alternative Begriffe wurden der bestehenden rassistischen Realität, dem offensichtlichen Fortwirken von Rassismus und Antisemitismus – man denke allein an die Welle
Auch Konzepte aus einer kritischen Tradition, wie das von Wilhelm Heitmeyer Anfang der 2000er Jahre entwickelte und bis in die aktuellen politischen Debatten hinein beachtete „Syndrom der
Rassismus existiert nicht. Aber er tötet Menschen.
Aber noch einmal: Wenn Rassismus eigentlich nicht mehr existiert, alternative Begriffe aber auch nicht überzeugen, warum tötet er weiter Menschen, um es in Abwandlung zu Guillaumin zu sagen? Das wirft die Frage nach den konstitutiven Grundlagen des Rassismus auf, weshalb die kritische Rassismusforschung auch bis heute am Rassismusbegriff festhält – weil er erklärungsbedürftig bleibt. So wurden Begriffe wie "kultureller Rassismus", "differenzieller Rassismus" oder gar die paradoxe Figur eines "Rassismus ohne Rassen" eingeführt.
Die Aufmerksamkeit in Deutschland für diese sich verändernden Betrachtungsweisen eröffnete vor allem die Rezeption des Buches „Rasse – Klasse – Nation. Ambivalente Identitäten“ von Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein Anfang der 1990er Jahre. In dem Aufsatz „Gibt es einen Neo-Rassismus?“ fragt Balibar nicht nur nach den Veränderungen innerhalb der Theorien, die den Rassismus legitimieren und „rationalisieren“, er untersucht auch die politischen Situationen, in denen solche Theorien überhaupt „greifen“, gelebt und historisch relevant werden, in der sie Hegemonie erlangen (vgl. Balibar 1992, 27). Demzufolge ist Rassismus in ein Feld mit vielfältigen Praxisformen und Diskursen eingebettet, er wird institutionell ausgearbeitet und reproduziert. Er organisiert Stimmungen und Gefühle, von Ablehnung und Hass, von Ekel und Angst. Er stereotypisiert zugleich seine Objekte wie auch seine Subjekte bzw. grenzt das Eigene vom Anderen ab, definiert über die Abgrenzung aber beide. Dies erklärt sowohl die Herausbildung einer rassistischen Gemeinschaft als auch, „wie die Individuen und Kollektive, die dem Rassismus ausgesetzt sind (also dessen ‘Objekte’), sich selbst als Gemeinschaft wahrnehmen“ (ebd. 24).
Balibar spitzt die Fragestellung zu und spricht von einem „Rassismus ohne Rassen“. Das führte zu einer zentralen Wende in den Untersuchungen des Rassismus und zu einem neuen Begriff, nämlich dem des Neo- oder des kulturellen Rassismus: Kritische Rassismusforschung geht damit nicht von einer in Rassen geteilten Menschheit aus, sondern untersucht nun die tendenzielle Projektion eines Rassenrasters auf die menschliche Geschichte und Gegenwart, die Reduktion menschlicher Verschiedenheit auf das fixe und imaginäre Muster permanenter Rassenunterschiede, die als ursprünglich, natürlich und erblich angesehen werden. Mit anderen Worten: sie untersucht konkret, was „sozial konstruiert“ bedeutet, wie Rassifizierung geschieht, und beschränkt sich nicht in einem vereinfachten „Gruppenrealismus“ auf das schlichte Postulat der Konstruiertheit. Denn erklärungsbedürftig bleibt, welche gesellschaftlichen Verhältnisse, welche Diskurse, Institutionen und welche Gewalt dazu beitragen, dass der Rassismus „nicht verknöchert“, sondern sich derart erneuert, dass ein Nachweis mehr erfordert als den Nachweis „rassistischer Diskriminierung“.
In der aktuellen Debatte, vor allem und verstärkt im Kontext administrativer Rationalitäten, tritt der Diskriminierungsbegriff gegenüber dem Rassismusbegriff in den Vordergrund und die Definition von Opfergruppen nimmt einen breiten Raum ein. Damit verbunden sind politische Gefahren der Reproduktion und Produktion von Gruppen. Da eher selbstreferentiell über Gruppen als über Rassismus gesprochen wird, tendiert dies auch dazu, die Lösung bei den Gruppen als Opfern zu suchen, während Solidarität weniger im Vordergrund steht. Damit einher geht die Ausdifferenzierung von Begriffen wie antimuslimischer Rassismus, antislawischer Rassismus, antimigrantischer Rassismus, antiasiatischer Rassismus, anti-schwarzer Rassismus etc. Auch der Begriff des antideutschen Rassismus ist nicht weit entfernt.
Eine weitere Gefahr ist konzeptioneller Natur, die immer wieder in Differenztheorien entwickelt wurde. Die Gruppenkategorien variieren in ihrer Größe, bleiben mal groß und vage (antiasiatischer Rassismus), mal diffundieren sie und führen zu einer Logik der Konkurrenz oder der Durchsetzung eines Gruppenopferstatus. Dies hat sicherlich mit Anerkennungs- und Repräsentationsbestrebungen zu tun, deren antirassistische Kraft zumindest fraglich ist und diskutiert werden sollte. Immer mehr von Rassismus betroffene Gruppen müssen registriert werden, und wie aktuell und spezifisch oder wie dominant sie sind – also Fragen der Gewichtung, Fragen der historischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten und der größeren Zusammenhänge – verlieren sich tendenziell.
Damit verbunden ist die systematische Schwierigkeit, dass mit dem Diskriminierungsbegriff ein Instrument geschaffen wurde, das mit der Aufzählung von immer mehr Gruppen begriffliche Quasi-Äquivalente suggeriert, die die spezifischen Kontexte, in denen Rassismus in seiner gesellschaftspolitisch komplexen Wirkungsweise, die diese Gruppen erst hervorbringt, de-thematisiert. Dies ist politisch riskant, weil damit Rassismus mit groben, an der Oberfläche operierenden Instrumenten begegnet wird.
So zielte etwa auch Guillaumins Verständnis von Rassismus auf konkret benennbare und empirisch untersuchbare Phänomene und Praktiken, in denen rassistische Beziehungen und Mechanismen zum Tragen kommen: etwa die Aufrechterhaltung kolonialer Beziehungen, Enteignungspraktiken, eingeschränkte Zugänge zu Ressourcen und Chancen, geringere Entlohnung, Einwanderungs-/Asylpolitiken und Staatsbürgerschaftskonzepte, beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen wohlfahrtsstaatlicher Politiken, normative Dimensionen des Eigenen und Fremden, oder gesellschaftliche Diskurse, die vermeintlich bestimmten Gruppen zugehörige Menschen als „wertlos“ bezeichnen. Mit dem Blick auf derartige Phänomene und Praktiken lässt sich untersuchen, welche ökonomischen, kulturellen, sozialen, politischen und normativen Beziehungen der Konstruktion von Rassendenken zugrunde liegen; ebenso welche Auswirkungen diese Hierarchisierungen auf die Definition sozialer Gruppen und ihr alltägliches Zusammenleben haben. Für den Rassismusbegriff hat dies auch den Vorteil, dass die Veränderbarkeit von Rassismus denk- und analysierbar wird.
Rassismus ist also vielschichtig, bedient sich verschiedener Aspekte und Bezüge, die real oder imaginär sein können und selten besonders kohärent auftreten. Diese greifen aber immer auf ein Rassedenken zurück, selbst wenn sie den Rassebegriff „hinter sich gelassen“ haben. Es gibt nicht den einen Rassismus, sondern er entwickelt sich historisch und lokal unterschiedlich in seinen Erscheinungsformen und Institutionen, aber auch in seiner spezifischen Gewalttätigkeit. Das erklärt auch, warum antikoloniale, antifaschistische, antirassistische, feministische, queere und linke Positionen ihre Kritik unterschiedlich akzentuieren. Heute treffen in einer sich globalisierenden Welt unterschiedliche rassistische Praktiken und Vorstellungen aufeinander - und damit auch unterschiedliche antirassistische Ansätze. Oder anders: Es spielt eine wichtige Rolle für den Begriff von Rassismus, wie wir ihn erklären und wie wir erklären, wie er sich verändert. Um gerade auf diese Weise seine Fähigkeit zur Wandlung entscheidend stören und ihn im besten Falle beenden zu können.