Den Begriff des Rassismus gibt es erst seit den frühen 1930er Jahren. Er wurde geprägt als übergeordneter Name für jene radikalen Bewegungen und Regime, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Politik nicht mehr nur der Ausgrenzung und Anfeindung, sondern der physischen Vernichtung gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen umsetzten. Besonders in den Blick nahm der Begriff diejenigen Ideologien, in denen die Annahme natürlicher "Rassen", "Rassenunterschiede" und "Rassenkämpfe" im Zentrum stand: also den
So ist der Rassismus als Phänomen der gruppenbezogenen Ausgrenzung, Anfeindung und Vernichtung sehr viel älter als seine begriffliche Prägung in den 1930er Jahren. Wie alt genau – darüber streiten sich die Experten. Versteht man unter Rassismus jede Form der Ungleichbehandlung, Verfolgung und Entrechtung bestimmter Gruppen, müsste man wohl sagen, dass der Rassismus die Geschichte der Menschheit seit ihrem Anbeginn begleitet. Dann aber wäre der Rassismus kategorial auf der gleichen Ebene angesiedelt wie 'Feindschaft' oder 'Ungleichheit' und damit seine historische Untersuchung gezwungen, stets nur seine Langlebigkeit und fast überzeitliche Geltung festzustellen. Bestimmt man den Rassismus stattdessen danach, wie Ausgrenzung, Ungleichheit und Anfeindung von den Akteuren begründet werden, so liegt ein deutlich konkreteres Phänomen vor, dessen Herkunft, Gegenwart und Zukunft historisch beschreibbar ist. Denn so gesehen ist der Rassismus weder überzeitlich noch ewig, sondern hat als eine spezifische Ideologie benennbare Ursprünge und Entwicklungswege.
Die Frage nach historischen Vorläufern des Rassismus
Was den historischen Beginn des Rassismus angeht, haben wir es mit einer wissenschaftlich umstrittenen Frage zu tun. So gehen manche mit guten Gründen davon aus, dass es Rassismus bereits in der Antike gegeben habe. Schließlich waren die Sklaven in dieser Epoche eine systematisch unterdrückte und aller Freiheitsrechte beraubte Bevölkerungsgruppe, auf deren Zwangsarbeit wiederum die griechische und römische Kultur beruhten. Ist das nicht eindeutig eine rassistische Gesellschaftsordnung? Hier kommt die oben erwähnte Unterscheidung zum Tragen: Versteht man unter Rassismus jede Art der kollektiven Ausgrenzung, Entrechtung, Anfeindung etc., so lag bereits in der Antike ein ausgeprägt rassistisches System vor. Fragt man aber nach dem Rassismus als Begründungsform kollektiver Ausgrenzung, wird es schwierig: Denn die
Auch in der Mittelalterforschung wird beim Blick auf Phänomene wie die Kreuzzüge, antisemitische Pogrome oder etwas später die Hexenverfolgungen bisweilen von Rassismus gesprochen. Doch auch hier ist jeweils zu prüfen, ob die zeitgenössischen Begründungen dieser Gewaltexzesse mit dem neuzeitlichen Rassismus vergleichbar sind und damit zu seiner Vorgeschichte gehören oder nicht. Zumindest ein Phänomen am Ende des Mittelalters bildete in der Tat den Kontext, innerhalb dessen der Begriff der "Rasse" (bis dahin nur in der Pferdezucht gebräuchlich) zum ersten Mal als Kennzeichnung besonderer Menschengruppen auftauchte: am Ende der 'Reconquista', also der endgültigen Rückeroberung im Jahr 1492 des seit dem 8. Jahrhundert multireligiösen, aber muslimisch dominierten heutigen Spaniens und Portugals durch das Christentum. Insofern in diesem sich über Jahrhunderte erstreckenden Prozess viele Muslime wie auch Juden zwar formal, nicht aber in ihrer tatsächlichen Lebensweise zum Christentum konvertiert waren, stellte am Ende das Glaubensbekenntnis kein eindeutiges Zugehörigkeitskriterium mehr dar. Um dennoch die 1492 beschlossene Zwangsbekehrung der gesamten Bevölkerung zu organisieren, erfand man das neue Kriterium der "Blutsreinheit" und teilte die verbliebenen Muslime und Juden in "Rassen" genannte Gruppen, die sich nach Grad und Dauer der Zugehörigkeit zum Christentum unterschieden.
Die Etablierung des Rassenbegriffs
Damit war nicht nur der neuzeitliche Rassenbegriff in der Welt, sondern vor allem jene, für die weitere Geschichte des Rassismus zentrale Idee unterschiedlicher Grade der "rassischen Reinheit". Sie gehört bis heute zu den Kernelementen des Rassismus und war seit dem 16. Jahrhunderts eine vielfach übertragbare Denkfigur. Wo immer es um 'Reinheit' und 'Echtheit' oder eben um eine Abweichung davon ging – ob im religiösen, natürlichen, kulturellen oder sozialen Sinne –, wurden Menschen in "Rassen" unterschieden: von der Unterscheidung zwischen dem 'echten' Bluts- und dem 'unechten' Amts-Adel über die Hierarchisierung der neu entdeckten Völker Amerikas, Asiens und Afrikas, bis zum frühen
Denn eigentlich war mit dem Universalismus der Aufklärung, mit ihren Freiheits- und Gleichheitsansprüchen, ein Denken entstanden, das die althergebrachten Formen der Ausgrenzung und Entrechtung radikal delegitimierte. Das Konzept der einen und gleichen Menschheit schien zumindest politisch-moralisch das Potenzial zu haben, alle nur denkbaren Ausgrenzungen für illegitim zu erklären. Und dennoch existierten die meisten der konkreten und seit Jahrhunderten betriebenen Praktiken der Ausgrenzung, Ungleichbehandlung und Entrechtung – vom europäischen Kolonialismus über den Sklavenhandel bis zum Antisemitismus – relativ ungestört weiter. Denn das Konzept der "Rasse", mit seiner hierarchischen Semantik, bot einen ideologischen Ausweg. Als natürlich-biologisches Konzept beanspruchte es zunächst einmal das universalistische Ideal der Aufklärung für sich: jeder Mensch ist gleich, insofern jeder Mensch einer natürlichen "Rasse" angehört. "Rassen" aber – so der nächste Schritt dieser rassentheoretischen Logik – unterscheiden sich in ihren natürlichen Entwicklungsgraden. In dieser Logik wurde dann die Ungleichbehandlung einer schwachen, niederen "Rasse" durch eine starke, höhere als notwendiger Teil eines "Zivilisierungsprozesses" gerade im Namen der einen und gleichen Menschheit denkbar.
Diese für die Moderne grundlegende ideologische Funktionsweise des Rassismus basierte anfänglich vor allem auf der Annahme einer natürlichen, biologisch gegebenen und kaum veränderbaren Ungleichheit der Menschenrassen, aus der sich die Dominanz- und Erziehungsansprüche der "Zivilisierten" gegenüber den "Unzivilisierten" ableiteten. Mit dem Evolutionismus aber erlebte der Rassismus im 19. Jahrhundert einen weiteren, folgenreichen Strukturwandel. Denn besonders die
Dieser biopolitische Rassismus prägte und beeinflusste fast jede andere politische Ideologie des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere den Imperialismus, den Nationalismus, den Antisemitismus, den Faschismus und vor allem den Nationalsozialismus. Zudem hat er eigene neue ideologische Wissenssysteme wie die
Entsprechend unversehrt konnte der Rassismus als eine dominante Ideologie der Moderne aus dem Ersten Weltkrieg hervorgehen und einen zweiten möglich machen. Dabei trugen die Nationalsozialisten nur wenig Eigenes und Neues zur Entwicklungsgeschichte des Rassismus als Ideologie bei. Aber sie schafften es, viele seiner Elemente und viele, sich teils widersprechende Versatzstücke seiner bisherigen Formen unter dem Konzept der "Volksgemeinschaft" zu vereinen. Zudem verwandelten sie den Rassismus in eine Praxis-Ideologie, indem sie auf ein halbwegs kohärentes Weltbild und eine in sich logische Weltauslegung fast gänzlich verzichteten, zugunsten des unablässig wiederholten Aufrufs, die erwünschte "germanisch-rassische Weltordnung" müsse praktisch, und das hieß: durch Gewalt erst hervorgebracht werden. Die Exzessivität und zugleich bürokratische Nüchternheit, mit der die
Das Fortleben des Rassismus
Nach diesem Exzess wurde der Rassismus von der neu gegründeten Weltgemeinschaft der
Erst seit den 1970er Jahren und verstärkt in den 1980er und 1990er Jahren machte die interdisziplinäre Forschung zunehmend darauf aufmerksam, dass der Rassismus in einer solchen Bestimmung nicht aufging. Zwar hatte die politisch-moralische Ächtung des Rassismus durchaus den Effekt, dass sich kollektive Ausgrenzungs- und Anfeindungsformen kaum mehr auf den Rassenbegriff oder auf "natürliche Rasseunterschiede" berufen konnten – doch stellte sich ebenso heraus, dass der Rassismus dieser Bezugnahme auf eine angebliche natürliche "Rassenordnung" keineswegs notwendig bedurfte. Rassistische Anfeindungs- und Bedrohungsszenarien kommen auch ohne die Annahme einer fixen Naturordnung aus. Eben das hatte die Entwicklung des Rassismus seit dem späten 19. Jahrhundert längst vor Augen geführt – wurde nun aber neu entdeckt als eine Eigenschaft des Rassismus nach der Delegitimierung des Rassenbegriffs.
Heute haben wir es daher mit einer höchst komplexen Situation zu tun: Zum einen beobachten wir – etwa im Bereich des
Betrachtet man die Geschichte des Rassismus in der Gesamtschau, wird vor allem eines deutlich: er ist eine historisch entstandene und sich historisch auch stets verändernde, sich weiter entwickelnde Ideologie, die sich den politisch-gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne in immer neuer Weise anpasst: von der Rechtfertigung von Ungleichheit im Horizont des Universalismus, über seine biopolitische Funktionsweise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zu den jüngsten Formen eines Rassismus ohne "Rassen". Gerade im Namen eines effektiven Antirassismus darf diese Verwandlungs- und Anpassungsfähigkeit nicht vergessen oder ignoriert werden. Denn ob zukünftige Formen der Begründung kollektiver Ausgrenzung und Anfeindung 'rassistisch' sind oder nicht, ist weniger eine Frage der korrekten Definition als davon abhängig, ob und in welcher Weise sie die Geschichte rassistischer Ideologiebildung fortsetzen.