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Bundestagswahlrecht im Meinungsstreit | Wahlen in Deutschland: Grundsätze, Verfahren, Analysen | bpb.de

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Bundestagswahlrecht im Meinungsstreit

Karl-Rudolf Korte

/ 9 Minuten zu lesen

Bis zur Bundestagswahl 1994 wurden die Wahlergebnisse durch Überhangmandate kaum verändert. Das änderte sich in der Folge. Bei der Bundestagswahl 2021 kamen insgesamt 34 Überhangmandate zustande sowie 103 Ausgleichsmandate. Bei der Bundestagswahl 2025 werden dank des neuen Wahlrechts keine Überhangmandate entstehen.

Bis zur Bundestagswahl vom 16. Oktober 1994 waren die Überhangmandate nur selten ein Thema in der Öffentlichkeit. Dies lag vor allem daran, dass sie für den Ausgang der Bundestagswahlen kaum von Bedeutung waren. Die Wahlergebnisse wurden durch die Überhangmandate nur marginal verändert. Bei der Bundestagswahl 1994 war dies jedoch anders: Durch zwölf solcher Überhangmandate für die CDU hatte die Regierungskoalition von Union und FDP einen Vorsprung von zehn Abgeordneten; nach ihrem Anteil an den Zweitstimmen hätte sie eigentlich nur einen Vorsprung von zwei Mandaten gehabt. Lediglich die vier Überhangmandate der SPD verhinderten einen noch größeren Mandatsvorsprung.

Die insgesamt 16 Überhangmandate der Wahl von 1994 deuteten einen Trend an. Nachdem in den davorliegenden Bundestagswahlen nie mehr als sechs Überhangmandate vergeben worden waren (zwischen 1965 und 1976 gab es sogar kein einziges Überhangmandat), wurden bei der Bundestagswahl 2005 wiederum 16 und bei der Bundestagswahl 2009 sogar 24 Überhangmandate (alle für die CDU/ CSU) vergeben.

Bei den sechs gesamtdeutschen Bundestagswahlen 1990, 1994, 1998, 2002, 2005 und 2009 gab es mit insgesamt 80 Überhangmandaten über drei Viertel aller überhaupt in der Geschichte der Bundestagswahlen bis 2009 vergebenen 97 Überhangmandate. Vier Überhangmandate gab es bei der Bundestagswahl 2013, die alle der CDU zugutekamen. Diese wurden mit 29 Ausgleichsmandaten kompensiert. Bei der Bundestagswahl 2017 kamen insgesamt 46 Überhangmandate zustande, davon 36 für die CDU. Das führte zu weiteren 65 Ausgleichsmandaten. Bei der Bundestagswahl 2021 galt das zwischenzeitlich leicht reformierte Wahlrecht mit dem Ziel der Verkleinerung des Bundestags. Gemäß dieser Neuregelung sollten die ersten drei Überhangmandate einer Partei nicht ausgeglichen werden. Trotz Anwendung der Neuregelung kam es nach der Bundestagswahl zu 34 Überhang- und 103 Ausgleichsmandaten und damit zu einem weiteren Anwachsen des Bundestages gegenüber 2017. Mit der Wahlrechtsreform 2023, die bei der Bundestagswahl 2025 erstmals Anwendung findet, sind wegen der erforderlichen Zweitstimmendeckung Überhang- und Ausgleichsmandate nicht mehr möglich.

Überhangmandate gibt es weiterhin bei Landtagswahlen. In einigen Ländern werden Überhangmandate wie bis 2021 auf Bundesebene durch zusätzliche Mandate, entsprechend den Zweitstimmenanteilen für die übrigen Parteien, ausgeglichen. Man spricht dann von Ausgleichsmandaten. Solche Ausgleichsmandate gibt es zum Beispiel bei der niedersächsischen Landtagswahl.

Wahlrechtsreform 2023

Aufgrund der Spezifik von Erst- und Zweitstimme und den damit verbundenen Überhang- und Ausgleichsmandaten trat auch nach der Bundestagswahl 2021 ein, was befürchtet worden war: Der Bundestag wuchs stetig an, dieses Mal auf 735 Abgeordnete (nach der Teilwiederholungswahl in Berlin im Februar 2024). Das sind 137 Sitze mehr als die vorgesehenen 598. Weil die Entwicklungen bei der Stimmverteilung ein weiter anwachsendes Parlament erwarten ließen, ebbte die Debatte um eine substanzielle Reform des Wahlrechts mit dem Ziel der Verkleinerung des Deutschen Bundestages nicht ab. Neben Experten mahnten etwa auch das Bundesverfassungsgericht sowie die Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble in ihrer Amtszeit zu einer Einigung. Sie sorgten sich insbesondere um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments angesichts seiner zunehmenden Größe.

Deshalb hat die Ampelkoalition am 17. März 2023 mit dem Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes eine Reform des Wahlrechts beschlossen. Diese sieht eine Begrenzung auf 630 Sitze sowie die Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten vor. Ein Wahlkreissieger bekommt demnach nur dann einen Sitz im Bundestag, wenn seine Partei zusätzlich genügend Zweitstimmen im betreffenden Bundesland erhalten hat (Prinzip der Zweitstimmendeckung). Die Sperrklausel von bundesweit fünf Prozent der Zweitstimmen bleibt ebenso erhalten wie die Anzahl der Wahlkreise (299). Die Verteilung der Mandate erfolgt nun in drei Schritten: Oberverteilung, Unterverteilung und Sitzzuteilung auf die Kandidaten. Siehe hierzu auch das Schaubild "Die Bedeutung der Zweitstimme" im Abschnitt Interner Link: Personalisiertes Verhältniswahlrecht.

Besonders umstritten war der ursprünglich vorgesehene Wegfall der Grundmandatsklausel. Ohne diese Regelung hätte die Partei Die Linke 2021 den Einzug in den Bundestag verpasst. Auch die CSU, die bei der letzten Bundestagswahl 45 von 46 Direktmandaten gewonnen hat, wäre in diesem Fall bei einem bundesweiten Zweitstimmenergebnis von weniger als fünf Prozent nicht mehr im Bundestag vertreten. Deshalb klagten CSU und die Linke vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das neu beschlossene Wahlrecht. Das Gericht hat weite Teile der Reform gebilligt, jedoch die Sperrklausel in der vorgesehenen Ausgestaltung, also ohne Grundmandatsklausel, für verfassungswidrig erklärt. Bei der nächsten Bundestagswahl soll daher weiterhin die Grundmandatsklausel greifen, sodass Parteien, die unter die Fünfprozenthürde fallen, aber mindestens drei Direktmandate gewinnen, dennoch in Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag einziehen.

Das Statistische Bundesamt sah in der massiven Zunahme von Stimmensplitting einen der Hauptgründe für die Zunahme von Überhangmandaten. Immer mehr Wählerinnen und Wähler gaben also bei Bundestagswahlen ihre Erst- und ihre Zweitstimme verschiedenen Parteien. Dadurch konnten die großen Parteien ein Übergewicht an Erststimmen erhalten. Je größer die Diskrepanz zwischen der Anzahl der erreichten Direktmandate und dem Zweitstimmenanteil war, desto höher war die Zahl der Überhangmandate. Typischerweise gewinnen die beiden Parteien CDU und SPD den Großteil der Wahlkreise (Erststimme), gleichzeitig verringerte sich in den letzten Jahrzehnten deren Zweitstimmenanteil. Kleinere Parteien erzielen zunehmend höhere Zweitstimmenergebnisse, was sich jedoch nicht im Erststimmenergebnis niederschlägt. Weil nach dem alten Wahlrecht aber alle Wahlkreisgewinner automatisch in den Bundestag einzogen, entstanden so viele Überhangmandate, die wiederum durch Ausgleichmandate der anderen Parteien ausgeglichen werden mussten.

Von den 181 Überhangmandaten seit der Bundestagswahl von 1949 erhielt die CDU mit 111 Mandaten die meisten. Die SPD hatte 47-mal (davon 13-mal allein bei der Wahl 1998), die CSU 21-mal und die Deutsche Partei (DP) nur einmal diesen Vorteil. Erstmals konnte 2021 die AfD von einem Überhangmandat profitieren. Fast ausschließlich profitierten also nur die großen Parteien von den Überhangmandaten. Dies hängt damit zusammen, dass die Direktmandate fast ausschließlich an die Unionsparteien und die SPD gingen.

Wenn man die bisherigen Überhangmandate seit 1949 nach Ländern aufschlüsselt, fällt auf, dass es mit Ausnahme des Spitzenreiters Baden-Württemberg (39) primär in ostdeutschen bzw. kleinen Bundesländern zu Überhangmandaten gekommen ist. Dabei liegt Sachsen-Anhalt mit 20 Überhangmandaten vor Sachsen, Schleswig-Holstein und Brandenburg (alle 16). Daneben wurden speziell in kleinen Bundesländern wie Hamburg (7) oder Bremen (4) zusätzliche Mandate vergeben. In Nordrhein-Westfalen gab es im Gegensatz dazu noch nie Überhangmandate, in Bayern wurden bei der Wahl 2009 zum ersten Mal drei zusätzliche Mandate vergeben, bei der Wahl 2017 sieben und 2021 sogar elf.

Konnte die Zahl der Überhangmandate bei der Bundestagswahl 2002 noch deutlich reduziert werden, so erhöhte sie sich bei der Wahl im Jahr 2005 wieder von fünf auf 16, von denen die SPD neun, die CDU sieben gewann. Die Bundestagswahl 2017 sorgte mit der Vergabe von 46 Überhangmandaten für einen neuen Rekord. Zwar konnte die Zahl der Überhangmandate bei der Bundestagswahl 2021 dank einer Reform des Wahlrechts leicht auf 34 zusätzliche Mandate reduziert werden. Die Zahl blieb jedoch nach wie vor hoch und insbesondere die besonders hohe Zahl an Ausgleichsmandaten (103) sorgte erneut für eine Rekordgröße des Bundestags.

Die Diskussion über diese Besonderheit des deutschen Wahlrechts begann insbesondere ab 2005 von Neuem. Nachdem bereits 1994 das Bundesverfassungsgericht angerufen worden war, klagten zwei Bürger nach der Wahl 2005 erneut gegen die Regelung.

Einer der Ausgangspunkte für die Klage war die Nachwahl in Dresden. Durch den Tod einer NPD-Direktkandidatin kurz vor dem eigentlichen Wahltermin im September 2005 musste im Wahlkreis 160 in der sächsischen Landeshauptstadt mit zwei Wochen Verzögerung nachgewählt werden. Dies führte zu der paradoxen Situation, dass das bundesweite Ergebnis zum Nachwahltermin als vorläufiges amtliches Ergebnis bereits feststand. So ließ sich vor der Abstimmung gut ermitteln, wie viele Erst- und Zweitstimmen eine Partei bekommen müsste, um ein optimales Resultat zu erzielen. Dadurch war beispielsweise für die CDU absehbar, dass sich der sogenannte negative Stimmeffekt zu ihren Ungunsten auswirken konnte.

Bei der Verteilung der Sitze auf Landesebene kam es gemäß den inzwischen korrigierten Regelungen immer wieder zu sehr knappen Entscheidungen. Nur einige Tausend Stimmen konnten darüber entscheiden, ob ein Sitz, der einer Partei bundesweit zusteht, letztlich aus dem einen Bundesland oder einem anderen zu besetzen war. Schon bei nur geringen Stimmenverschiebungen bestand die Möglichkeit, dass sich die Mandatszahl zwar nicht im Verhältnis zu den anderen Parteien veränderte, wohl aber die Verteilung zwischen den einzelnen Landeslisten verschob. Es konnte also passieren, dass beispielsweise ein Sitz der CDU wegen ein paar Tausend Stimmen mehr oder weniger etwa von Sachsen in ein anderes Bundesland wanderte. Wenn nun diese Partei den Sitz in einem Bundesland hätte abgeben müssen, in dem sie Überhangmandate gewonnen hatte, hätte sie dort jedoch keinen weiteren verloren. Rein rechnerisch hätte dies zwar einen Listenplatz weniger bedeutet, aber ihre bereits gewonnenen Direktmandate hätte sie behalten dürfen. Dadurch blieb die Zahl der Mandate trotz des eigentlichen Verlusts eines Listenplatzes bestehen. Der Sitz kam der Liste eines Bundeslandes zugute, in dem die Partei letztlich mehr Stimmen erhalten hatte. War dies ein Land, in dem es keine Überhangmandate gab und ein Sitz mehr für die Landesliste die Zahl der zu vergebenden Mandate auch tatsächlich erhöhte, profitierte die Partei und gewann im Endeffekt einen zusätzlichen Sitz im Parlament.

Dieser Effekt konnte allerdings auch umgekehrt eintreten: Gewann eine Partei in einem Bundesland, in dem sie Überhangmandate hatte, aufgrund eines höheren Zweitstimmenanteils rein rechnerisch einen weiteren Listenplatz dazu, so kam dieser dort eben wegen der Überhangmandate nicht zum Tragen. Erfolgte diese Verschiebung aber zulasten eines Landes, in dem die Partei keine Überhangmandate hatte, so ging dieses Mandat dort effektiv verloren und im Bundestag verlor die Partei trotz der Stimmengewinne einen Sitz (negatives Stimmengewicht).

Genau dieser Fall drohte für die CDU 2005 bei der Nachwahl in Dresden einzutreten. Weil die Christdemokraten in Sachsen bereits drei Überhangmandate gewonnen hatten, war durch das Wissen des bundesweiten Resultats absehbar, dass die Union bei deutlich über 41.000 Zweitstimmen im Wahlkreis Dresden I einen Listenplatz dazugewinnen würde, in einem anderen Bundesland dafür aber einen abgeben müsste. Um dies zu verhindern und gleichzeitig ein weiteres Überhangmandat zu gewinnen, musste die CDU also ein schlechtes Zweitstimmenergebnis einfahren und ihren Direktkandidaten durchbringen. Dementsprechend appellierte das christdemokratische Wahlkampfteam an die Wählerinnen und Wähler, mit der Erststimme die Union und mit der Zweitstimme möglichst eine andere Partei zu wählen.

Andreas Gottfried Lämmel, CDU- Direktkandidat für den Wahlkreis Dresden I, bei der Stimmabgabe am 2. Oktober 2005. Die Nachwahl in dem Wahlkreis war aufgrund des Todes der NPD-Direktkandidatin kurz vor dem eigentlichen Wahltermin am 18. September 2005 notwendig geworden. (© picture-alliance/dpa)

Bei der Nachwahl ging diese Strategie tatsächlich auf: Der CDU-Kandidat Andreas Gottfried Lämmel gewann das Direktmandat. Zugleich erreichte die Union nur 38.208 Zweitstimmen und konnte sich so ein zusätzliches Mandat sichern. Bei nur 3.387 mehr Zweitstimmen hätte die Union einen derartigen Gewinn nicht erzielt (Dietmar Hipp, 2008).

Die Kläger sahen in diesem Effekt einen Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichheit sowie der Unmittelbarkeit der Wahl. Ihrer Ansicht nach könne durch das negative Stimmgewicht die paradoxe Situation entstehen, dass die Wählerstimme als Ablehnung der gewählten Partei wirkt. Die Überhangmandate seien zudem ungerecht, weil sie die Sitzzahl der betroffenen Parteien erhöhen und das Resultat der Verhältniswahl verzerren würden. Anders als beim letzten Urteil zu diesem Thema im Jahr 1997 gab das Bundesverfassungsgericht den Klägern im Juli 2008 recht und erklärte Regelungen, die zum Effekt des negativen Stimmgewichts führen, für verfassungswidrig. Es schloss sich der Argumentation der Kläger an und befand, dass dieser Effekt gegen die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl verstoße. Ein Wahlsystem, das bei einem Zuwachs an Stimmen einen Mandatsverlust zulasse, mache den demokratischen Wettbewerb widersinnig. Das Gericht war außerdem der Ansicht, dass es sich hierbei nicht um eine seltene Ausnahme handele, sondern dass sich dieser Fall durch die Überhangmandate regelmäßig auf das Wahlergebnis auswirke.

Einzelbewerber/-innen

Personen, die bei einer Wahl antreten, ohne von einer Partei aufgestellt zu sein, konnten bei Bundestagswahlen zwar bisher kaum Erfolge verzeichnen. Dennoch ist ihr Anteil seit Ende der 1990er-Jahre konstant hoch. So nahmen seit der Bundestagswahl 1990 jeweils mindestens 51 „echte“ Einzelbewerber/-innen an den Wahlen teil (Christian Nestler 2014; Externer Link: Der Bundeswahlleiter 2021).

Ihre Motivation ist unterschiedlicher Natur: Mal betonen sie die Relevanz eines spezifischen Themas, das sie durch die etablierten Parteien nicht vertreten sehen, mal wollen sie gegen die Dominanz der Parteien protestieren, fordern mehr direkte Demokratie oder betreiben schlichtweg Eigenwerbung. Außerdem haben sich in der Vergangenheit bereits einige Gruppen als loses Netzwerk in diversen Wahlkreisen im gesamten Bundesgebiet beworben und somit über die Wahlkreisebene hinaus gemeinsame Forderungen signalisiert. Diese „unechten“ Einzelbewerber/-innen geben alle ein Stichwort an – etwa die Friedensliste im Jahr 1987.

Das Bundesverfassungsgericht sah jedoch keinen Grund, die Bundestagswahl 2005 wegen dieses Fehlers für ungültig zu erklären und damit den Deutschen Bundestag aufzulösen. Das Gericht räumte dem Gesetzgeber für eine Neuregelung vielmehr eine Frist bis zum Jahr 2011 ein (Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 3. Juli 2008). Am 15. November 2011 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen der Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP das Neunzehnte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, in dem eine Aufhebung der bundesweiten Listenverbindungen sowie die Einführung von Sitzkontingenten vorgesehen war und Überhangmandate erhalten bleiben sollten.

Umstrittenes Wahlrecht: Die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts fällen immer wieder Urteile zu Wahlrechtsfragen. Am 25. Juli 2012 erklärt der damalige Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe – (v. l. n. r.) Michael Gerhardt, Andreas Voßkuhle, Gertrude Lübbe-Wolff, Peter Huber und Peter Müller – das erst Ende 2011 beschlossene Bundestagswahlrecht für ungültig. (© picture-alliance/dpa, lsw – Uli Deck)

Nach einer Klage von SPD und Bündnis 90/Die Grünen beschied das Bundesverfassungsgericht am 25. Juli 2012, dass diese Änderungen nicht weit genug gingen, da der Effekt des negativen Stimmgewichts nach wie vor möglich sei. Zudem erklärte es die Anzahl von etwa 15 Überhangmandaten ohne Ausgleich als Obergrenze. Im Februar 2013 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen einen neuen Gesetzentwurf, der die Entkopplung von Landeslisten und die Einführung von Ausgleichsmandaten für Überhangmandate vorsah (vgl. hier). Die neuen Regelungen galten bereits bei der Bundestagswahl am 22. September 2013. Mit einer weiteren Änderung des Bundeswahlgesetzes hat der Deutsche Bundestag 2020 das Berechnungsverfahren leicht modifiziert, sodass fortan erst ab dem vierten Überhangmandat Ausgleichsmandate anfallen. Diese Reform wurde vielfach als unzureichend kritisiert und verhinderte denn auch bei der darauffolgenden Bundestagswahl 2021 ein weiteres Anwachsen des Bundestags nicht. Dies ist erst der Ampelkoalition mit der Wahlrechtsreform 2023 gelungen, der zufolge die Größe des Bundestags auf 630 Sitze festgelegt wird und Überhang- sowie Ausgleichsmandate nicht mehr möglich sind.

Vorschläge zur Reform des Bundestagswahlrechts

Das Bundestagswahlrecht war seit seiner Einführung immer wieder Gegenstand von Kontroversen. Es werden insbesondere die folgenden Reformvorschläge immer wieder diskutiert:

  • Einstimmensystem: Bei diesem Modell gibt der Wahlberechtigte im Wahlkreis eine Stimme für einen Direktkandidaten und zugleich für die Partei auf Bundesebene ab.

  • Wahlkreisreduzierung: Weniger Wahlkreise führen zu weniger Direktmandaten – dadurch würde der Bundestag automatisch kleiner. Dieser Vorschlag würde allerdings genauso wie ein Einstimmensystem nur eine mögliche Ursache einer Vergrößerung des Bundestages beseitigen, zeitgleich aber auch die Charakteristika der personalisierten Verhältniswahl maßgeblich verändern.

  • Mehrheitswahlsystem: Auch die Einführung der Mehrheitswahl, die bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren diskutiert wurde, ist nicht ausgeschlossen – wenngleich sie gegenwärtig unwahrscheinlich ist.

  • Fünfprozentklausel: Ein ganz anderer Punkt auf der Reformagenda könnte hingegen die Sperrklausel werden, denn 2013 blieben 6.859.439 gültige Wählerstimmen bei der Zusammensetzung des Bundestages unberücksichtigt. Damit entfielen 15,8 Prozent der Stimmen auf Parteien, die den Einzug in den Bundestag nicht geschafft hatten. Eine mögliche Reformoption ist die moderate Senkung der Sperrklausel, beispielsweise auf drei Prozent der bundesweiten Zweitstimmen. Auch ihre völlige Abschaffung ist denkbar.

  • Alternativstimmensystem: Neben der eher umstrittenen Absenkung oder gar Abschaffung der Zugangshürde wäre ein Alternativstimmensystem eine Reformmöglichkeit, das vorsehen würde, dass der Wähler eine alternative Stimme für den Fall abgeben kann, dass seine Erstpräferenz an der Fünfprozenthürde scheitern würde.

  • Kumulieren und Panaschieren: Ein Einfluss der Wähler auf die Reihenfolge von Listen über das Kumulieren (hier kann man einem Listenkandidaten mehrere Stimmen geben) oder Panaschieren (also der Möglichkeit, seine Stimmen Kandidaten von unterschiedlichen Listen oder Parteien zu geben) ist eine weitere Forderung, um die Gestaltungsmöglichkeiten der Wähler zu erhöhen. Das Kumulieren und Panaschieren führen aber ähnlich wie ein Alternativstimmensystem zu einer weiteren Komplexitätssteigerung des Wahlsystems und bewirkt womöglich einen Einbruch der Wahlbeteiligung.

  • Wahlpflicht: Bereits länger in der Diskussion ist zudem die Frage, wie sinkender Wahlbeteiligung entgegengewirkt werden kann. In manchen Ländern, darunter Belgien, gibt es eine allgemeine Wahlpflicht. Das hat den Effekt, dass dort regelmäßig weit über 90 Prozent der Wahlberechtigten am Urnengang teilnehmen. Einigen Studien zufolge könnte über eine öffentliche Verzeichnung der Wahlteilnahme oder gar eine Aufhebung des Wahlgeheimnisses die Wahlbeteiligung deutlich erhöht werden. Diskutiert wird auch, ob Wählerinnen und Wähler für die Stimmabgabe belohnt werden könnten, etwa in Form einer finanziellen Vergütung. Diese Vorschläge widersprechen jedoch den allgemeinen Wahlrechtsgrundsätzen und treffen auch innerhalb der Bevölkerung auf wenig Zustimmung.

  • Wahlwoche: Nicht ganz so unrealistisch sind hingegen Vorschläge, den Urnengang statt an einem Sonntag über eine ganze Woche stattfinden zu lassen und eine Stimmabgabe auch in Bahnhöfen, Bibliotheken oder mobilen Wahlkabinen zu ermöglichen.

  • Wahlcomputer und Onlinevoting: Seit Jahren wird darüber diskutiert, ob durch den Einsatz von Wahlcomputern oder durch ein Onlinevoting der Wahlgang für die Bürger angenehmer gestaltet und zugleich die Auszählung der Stimmen vereinfacht würde. Seit 1967 wurden bei der Bundestagswahl vereinzelt elektromechanische Geräte zur Auszählung von Stimmzetteln verwendet, bei der Wahl 2005 auch Wahlcomputer. Ihr Einsatz wurde 2009 vom Bundesverfassungsgericht allerdings für verfassungswidrig erklärt: „Jeder Bürger muss die zentralen Schritte der Wahl ohne besondere technische Vorkenntnisse zuverlässig nachvollziehen und verstehen können.“ Dies sei mit den eingesetzten Geräten nicht möglich gewesen. Mit ihrem Urteil setzen die Karlsruher Richter die Hürden für den Einsatz von Wahlcomputern sehr hoch, schließen diesen jedoch nicht generell aus.

All diese Punkte zeigen, wie vielfältig die Möglichkeiten und Vorschläge zur weiteren Reformierung des Bundeswahlgesetzes sind. Allerdings sind es die im Bundestag vertretenen Fraktionen, die über die Gestaltung des Wahlrechts entscheiden. Bei Wahlgesetzreformen agieren die politischen Akteure selbstverständlich auch in eigener Sache. Wahlrechtsfragen sind schließlich handfeste Machtfragen. Deshalb fordern einige zivilgesellschaftliche Akteure, dass Vorschläge für eine weitere Reform von einer unabhängigen Kommission oder einer Bürgerversammlung erarbeitet werden und über diese später beispielsweise durch ein Referendum entschieden wird. Unabhängig davon ist klar: Die stark technisch geprägte Debatte darf nicht nur auf das Interesse vereinzelter Experten stoßen; Fragen des Wahlgesetzes gehören zu den Grundsatzfragen jeder Demokratie.

Dieser Text wurde aus dem von Karl-Rudolf Korte erstellten und vom Deutschen Bundestag 2020 herausgegebenen Band „Stichwort: Wahlen. Grundpfeiler der Demokratie“ entnommen und leicht überarbeitet.

Zu einer weiter reichenden Wahlrechtsreform war lange Zeit keine der etablierten Parteien bereit. Als solche ist die letzte Wahlrechtsreform von 2023 einzuordnen, da ihr erstmals gelingt, ein weiteres Anwachsen des Bundestags zu stoppen und überdies durch die gesetzliche Festschreibung der Sitzzahl für Berechenbarkeit zu sorgen. Allerdings ist die Reform unter den Parteien umstritten. Besonders die Opposition – allen voran Union und Linke – protestierte vehement gegen die Vorhaben, konnte diese jedoch nicht verhindern. Besonders umstritten war der ursprünglich vorgesehene Wegfall der Grundmandatsklausel. Ohne diese Regelung hätte die Partei Die Linke 2021 den Einzug in den Bundestag verpasst. Auch die CSU, die bei der letzten Bundestagswahl 45 von 46 Direktmandaten gewonnen hat, wäre in diesem Fall bei einem bundesweiten Zweitstimmenergebnis von weniger als fünf Prozent nicht mehr im Bundestag vertreten. Deshalb klagten CSU und die Linke vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das neu beschlossene Wahlrecht. Das Gericht hat weite Teile der Reform gebilligt, jedoch die Sperrklausel in der vorgesehenen Ausgestaltung für verfassungswidrig erklärt. Bei der nächsten Bundestagswahl soll daher vorerst weiterhin die Grundmandatsklausel greifen, sodass Parteien, die unter die Fünfprozenthürde fallen, aber mindestens drei Direktmandate gewinnen, dennoch in Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag einziehen.

Klar ist: Eine Abschaffung der Grundmandatsklausel würde den Interessen der Union schaden. Denn wie sicher ist es langfristig, dass die starken Wahlerfolge der CSU in Bayern ausreichen, um bundesweit immer mehr als fünf Prozent der Stimmen zu erreichen, wie es bisher der Fall war?

Und eine Umstellung auf ein Mehrheitswahlrecht könnte die Sozialdemokraten die Koalitionspartnerin kosten, die sie für die Regierungsmehrheit brauchen. Zudem hat sich die politische Kultur Deutschlands über die Jahre hinweg verändert. Galt früher die politische Auseinandersetzung als störend, wird sie jetzt als notwendiges Element der Demokratie geschätzt, obwohl sie eher konsensdemokratisch als konfliktorientiert ausgerichtet ist. Die Vielfalt der politischen Meinungen und damit der politischen Parteien ist Teil dieser politischen Kultur. Würde das politische Spektrum durch die Einführung der Mehrheitswahl auf zwei Positionen reduziert, widerspräche dies deutlich der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Reform der Ampelkoalition von 2023 zeigt: Wahlrechtsreformen, auch grundlegende, sind keinesfalls ausgeschlossen. Es sind oftmals schwierige und teils langwierige Prozesse, vor allem sind sie begleitet von Protesten oder gar Klagen der Opposition. In jedem Fall sollten sie immer das Ziel verfolgen, einen möglichst breiten politischen Konsens abzubilden, damit das Wahlrecht von allen politischen und gesellschaftlichen Akteuren als fair empfunden wird.

Fussnoten

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Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen mit dem Schwerpunkt Politisches System der Bundesrepublik Deutschland und Direktor der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Er ist zudem einer der Herausgeber der Zeitschrift für Politikwissenschaft.

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