Das Verfahren der Kandidatenaufstellung (Kreiswahlvorschlag und Landeslisten) dokumentiert anschaulich, wie innerparteiliche Demokratie funktionieren kann. Hierbei wird deutlich, dass sich die Willensbildung in den Parteien nicht, wie häufig unterstellt wird, ausschließlich von oben nach unten vollzieht. Die Kandidatinnen und Kandidaten brauchen die Unterstützung der Basis, was häufig zu Überraschungen bei der Nominierung führt. Grundsätzlich besitzen die Parteien ein Monopol bei der Kandidatenaufstellung. Denn ein parteiloser Kandidat etwa, der nach dem Nachweis von 200 Unterschriften in einem Wahlkreis zu einer Abstimmung antritt, dürfte es schwer haben, gegen seine Konkurrenz, die die Infrastruktur und die Organisation einer Partei hinter sich hat, zu bestehen. Etwa ein Jahr vor der geplanten Bundestagswahl beginnt die Kür der Kandidatinnen und Kandidaten auf allen Ebenen der Parteiorganisation. Ihre Aufstellung („Elitenrekrutierung“) und ihr Antreten zu Wahlen sind rechtlich verankerte Kennzeichen und Aufgaben von Parteien (vgl. Paragraf 1 und 2 Parteiengesetz, s. auch
Obwohl das Parteiengesetz von Parteien grundsätzlich eine innere demokratische Struktur fordert, werden den Parteien zur Kandidatennominierung durch das Bundeswahlgesetz besonders detaillierte Vorschriften gemacht. Damit soll sichergestellt werden, dass die Kandidatenauswahl innerhalb der Parteien nach den gleichen demokratischen Grundsätzen erfolgt wie die eigentliche Wahl. Das Bundeswahlgesetz sieht in seiner gegenwärtigen Form keine Urwahl aller Parteimitglieder für die Bundestagskandidatinnen und -kandidaten vor. Da eine Versammlung von mehreren Tausend Parteimitgliedern wenig sinnvoll ist, werden die Parteien durch das Wahlgesetz auf eine Delegiertenversammlung festgelegt. Hier kommt wieder das repräsentative Demokratieprinzip zum Tragen.
Eine Partei, die einen Wahlvorschlag einreichen will, muss entweder in der letzten Legislaturperiode mit mindestens fünf Abgeordneten in einem Parlament vertreten gewesen sein (damit sind die etablierten Parteien automatisch wieder zu einem Wahlvorschlag berechtigt) oder bis spätestens 90 Tage vor der Wahl dem Bundeswahlausschuss die Beteiligung an der Wahl angezeigt haben. Der Bundeswahlausschuss stellt bis spätestens 72 Tage vor der Wahl fest, ob sie für die Wahl als Partei anzuerkennen ist.
Entsprechend den beiden Stimmen, die Wählerinnen und Wähler in zwei verschiedenen Abstimmungen abgeben, gibt es bei Bundestagswahlen zwei unterschiedliche Kandidaturen:
Die erste Möglichkeit ist eine Kandidatur in einem Wahlkreis, um dort das Direktmandat zu erringen: Die Paragrafen 20 ff. des Bundeswahlgesetzes erlauben jeder Partei, nur einen Kreiswahlvorschlag einzureichen, über den die Parteimitglieder des Wahlkreises (oder eine gewählte Vertreterversammlung) in geheimer Wahl entscheiden. Die Kandidatennominierung durch die Parteimitglieder ist in vielen Fällen schon die Vorentscheidung über den Wahlkreissieg: Rund zwei Drittel aller Wahlkreise gelten nämlich als sogenannte sichere Wahlkreise, in denen eine Partei schon seit längerer Zeit immer wieder die relative Mehrheit erringen konnte. Entsprechend der hohen Wahlchance, die mit einer Nominierung in einem „sicheren Wahlkreis“ einhergeht, sind die Auseinandersetzungen innerhalb der Parteien um die Vergabe oft sehr groß: Immer wieder versuchen politische Spitzenkräfte, ihren Platz im neuen Parlament über eine vermeintlich sichere Direktkandidatur zu behalten. Dabei unterschätzen die Spitzen der Parteien oft die Selbstständigkeit der Parteibasis in den Wahlkreisen, die gern lokalen Parteispitzen mit regionalem Engagement den Vorzug gibt. Außerdem ist aufgrund des neuen Wahlrechts nicht garantiert, allein mit einem Sieg im Wahlkreis in den Bundestag einzuziehen. Hierfür braucht es neben den meisten Stimmen im Wahlkreis auch die nötige Zweitstimmendeckung.
Es steht weiterhin zu erwarten, dass Parteien im Wahlkreis die zugkräftigsten Personen nominieren, da knapp 75 Prozent der Wählerinnen und Wähler die Erst- und die Zweitstimme derselben Partei geben. So kann beispielsweise die Nominierung eines regional engagierten Politikers, der einen intensiven Wahlkampf im Wahlkreis führt und damit neben dem Direktmandat zusätzliche Zweitstimmen für seine Partei gewinnt, sich auf das Wahlergebnis besser auswirken als die eines Spitzenpolitikers, der in Berlin arbeitet und in seinem ohnehin „sicheren“ Wahlkreis den Wahlkampf zwangsläufig vernachlässigen muss.Über die zweite Art der Kandidatur, die Landeslisten, stimmen die Wählerinnen und Wähler mit der Zweitstimme ab. Hier können die für eine Partei besonders wichtigen Kräfte neben einer Direktkandidatur zusätzlich abgesichert werden: Obwohl populäre Kandidatinnen und Kandidaten ohnehin gute Chancen haben, über ihr Direktmandat in den Bundestag einzuziehen, werden sie außerdem auf den obersten Plätzen der Landesliste aufgestellt, um als „Stimmenmagneten“ das Zweitstimmenpotenzial der Partei zu erhöhen. Verliert ein populärer Kandidat im Wahlkreis und die Landesliste seiner Partei „zieht“, kann er in diesem Fall doch noch in den Bundestag einziehen. Die Zweitstimme hat durch die Wahlrechtsreform deutlich an Bedeutung gewonnen: Sie allein entscheidet, mit wie vielen Abgeordneten eine Partei im Bundestag vertreten ist. Und Wahlkreisgewinner sind auf ein starkes Zweitstimmenergebnis der eigenen Partei angewiesen, um in den Bundestag einziehen zu können. Auch die Wahl der Bewerberinnen und Bewerber für die Landeslisten muss auf einer Mitglieder- oder Vertreterversammlung des Landesverbandes geheim erfolgen. Ihre Reihenfolge auf der Landesliste, die ja letztlich entscheidet, wer Chancen auf einen Sitz im Bundestag hat, wird in geheimer Abstimmung festgelegt.
Manchmal nutzen die Delegierten die Chance, populären Bewerbern um „sichere“ Listenplätze einen Denkzettel zu verpassen. So landete beispielsweise der damalige stellvertretende Vorsitzende und Rechtsexperte der SPD-Bundestagsfraktion, Otto Schily, auf einem Bezirksparteitag zur Reihenfolge der oberbayerischen SPD-Bewerber für die Landesliste zur Bundestagswahl 1998 nur auf einem hinteren Platz. Auch die Landesvertreterversammlung, die über die Aufteilung der Plätze unter den sieben bayerischen SPD-Bezirken zu entscheiden hatte, veränderte die schlechte Platzierung nicht mehr. Dennoch erreichte der spätere Bundesinnenminister (1998 –2005) über die Landesliste das Bundestagsmandat.
Eine Partei kann zwar nicht wissen, wie viele Kandidatinnen und Kandidaten sie über die Liste entsenden wird, trotzdem ist die Verteilung der Plätze auf der Liste nicht weniger umstritten als die Vergabe der Direktkandidaturen: Es sind jedoch nicht nur die ersten Plätze auf der Landesliste interessant, die ohnehin oft von aussichtsreichen Direktkandidaten und -kandidatinnen belegt sind. Da sie nach siegreicher Wahl bei der Vergabe der Listenmandate übersprungen werden, sind die mittleren Listenplätze bei großen Parteien mitunter noch erfolgversprechend. Die Kandidatenplatzierung spielt nicht nur bei der Wahl eine Rolle, sondern auch in der Legislaturperiode, wenn Abgeordnete aus dem Bundestag ausscheiden: In diesem Fall rückt automatisch der/die nächste noch nicht berücksichtigte Listenkandidat/-in des Landes nach, in dem der/die ausgeschiedene Abgeordnete gewählt wurde. Nach dem neuen Wahlrecht müssen sich Listenkandidaten beim Ausscheiden eines Abgeordneten jedoch unter Umständen noch gedulden: Geht es um die Liste in einem Bundesland, in dem die Partei mehr Wahlkreise direkt gewonnen hat, als ihr dort nach Zweitstimmenergebnis Sitze zustehen, rücken zunächst diejenigen Wahlkreiskandidaten nach, die aufgrund der Zweitstimmendeckung kein Mandat erhalten haben, obwohl sie in ihrem Wahlkreis „gewonnen“ haben. Kurzum: Wahlkreiserste, die wegen eines zu geringen Zweitstimmenanteils ihrer Partei nicht berücksichtigt werden konnten, erhalten im Falle von Nachrücker-Plätzen Vorrang vor der Landesliste.
Innerhalb der Parteien gibt es verschiedene Kriterien, nach denen die Reihenfolge der Listenplätze vergeben wird: So versuchen die großen Parteien vor allem auf die Repräsentation von Schichten, Gruppen oder regionalen Unterorganisationen Rücksicht zu nehmen. Besonders deutlich wurden in den Achtzigerjahren die Bemühungen der Parteien, die Repräsentation von Frauen im Bundestag zu verbessern: Die Grünen führten eine Frauenquote unter anderem für die Mandatsvergabe ein, danach sollten 50 Prozent der Mandate der Grünen mit Frauen besetzt werden.
Auf dem Bundesparteitag in Münster beschließt die SPD im August 1988 die Einführung einer Frauenquote. Danach sollten bis 1998 mindestens 40 Prozent aller Mandate der Partei auf Frauen entfallen. (© picture-alliance/dpa)
Auf dem Bundesparteitag in Münster beschließt die SPD im August 1988 die Einführung einer Frauenquote. Danach sollten bis 1998 mindestens 40 Prozent aller Mandate der Partei auf Frauen entfallen. (© picture-alliance/dpa)
In der SPD setzte sich eine abgeschwächte Quotenlösung mit langen Übergangsfristen durch, wonach bis 1998 beide Geschlechter jeweils mindestens 40 Prozent der Mandate innehaben sollten.
Auf dem Bundesparteitag in Hannover beschloss die CDU 1996 ein Frauenquorum. Es legte fest, dass bei allen Wahlen von der Kreisverbandsebene aufwärts der erste Wahlgang nur dann gültig ist, wenn das Frauenquorum von einem Drittel erreicht wird. Für alle weiteren Wahlgänge findet das Quorum keine Anwendung. Bei der Aufstellung von Wahllisten für Mandate soll von den vorschlagsberechtigten Verbänden auf drei aufeinanderfolgenden Listenplätzen jeweils mindestens eine Frau vorgeschlagen werden. Gegenkandidaten sind jedoch auf allen Plätzen möglich. Ab dem Jahr 2024 stieg bei der CDU, ähnlich wie bei der SPD, die Quote auf mindestens 40 Prozent. Die bayerische CSU hat ebenfalls ein unverbindliches Quorum eingeführt, wonach mindestens 40 Prozent der Parteiämter von Frauen besetzt sein sollen. Für die weiteren Mitglieder des Parteivorstands und der Bezirksvorstände ist diese Regelung verbindlich. Die Linke verfährt ähnlich wie Bündnis 90/ Die Grünen: Abweichungen vom 50-prozentigen Frauenanteil bei innerparteilichen Ämtern bedürfen einer besonderen Begründung. Nur die FDP und die AfD haben bislang auf eine Quotenregelung verzichtet.
Der hier deutlich gewordene große Einfluss der Parteimitglieder, der zulasten der Auswahlmöglichkeiten der Bevölkerung geht, war vielfach Ziel heftiger Kritik und Anlass zu Überlegungen darüber, die Mitentscheidungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger zu vergrößern.
Als Möglichkeiten, den Wahlberechtigten mehr Auswahl zu bieten, werden vor allem die Primaries nach amerikanischem Vorbild (Vorwahlen, bei denen sich neben Parteimitgliedern auch Nichtmitglieder an der Kandidatenauswahl beteiligen können) sowie die Methoden des Kumulierens (Anhäufen von Stimmen auf eine Bewerberin/einen Bewerber) und des Panaschierens (das Verteilen von Stimmen auf Bewerber/-innen verschiedener Listen), die bei einigen Kommunalwahlen Anwendung finden, genannt.
In jüngster Zeit werden auch immer wieder Forderungen laut, über Parteivorsitzende oder Spitzenkandidaten per Urwahl von allen Parteimitgliedern abstimmen zu lassen. Die Grünen machten in diesem Kontext auf sich aufmerksam, als sie per Urwahl über die Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl 2013 abstimmen ließen. Hierbei setzten sich Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt und Fraktionschef Jürgen Trittin gegen 13 Mitbewerber/-innen, darunter Parteichefin Claudia Roth, durch. Das Verfahren war insofern ein Erfolg, als sich über 60 Prozent der Mitglieder beteiligten. Es wurde vor der Bundestagswahl 2017 wiederholt. Zuvor hatte sich vor allem die SPD ähnlicher Verfahren bedient. In Thüringen entschied sich die Partei für Christoph Matschie als Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 2009. 1993 wünschte sich eine relative Mehrheit aller SPD-Mitglieder zwar Rudolf Scharping als Bundesvorsitzenden. Gewählt wurde er aber letztendlich von einem Sonderparteitag. Und auch in Hessen wurde Andrea Ypsilanti 2007 von einem Parteitag zur Spitzenkandidatin gekürt, obwohl sie zuvor von einer Mehrheit der Unterbezirksversammlungen (18 von 26) abgelehnt worden war.