Der Parlamentarische Rat entschied sich bei seinen Verfassungsberatungen zu einer Ausgestaltung des Wahlsystems 1948/49 nur für die Aufnahme des Artikels 38 in das Grundgesetz. Eine Entscheidung über das konkrete Wahlsystem für den Deutschen Bundestag fiel damit nicht. Dies sollte dem künftigen Gesetzgeber überlassen bleiben. CDU und CSU konnten sich mit ihrem Vorhaben nicht durchsetzen, ein relatives Mehrheitswahlrecht einzuführen. Die kleineren Parteien und die SPD wehrten sich dagegen, weil sie davon Nachteile für sich erwarteten.
Historischer Hintergrund und Parteiensystem
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Zu Beginn der zweiten deutschen Demokratie wurde vor der Wiedereinführung der Verhältniswahl gewarnt. Daher unterscheidet sich das Wahlrecht der Bundesrepublik deutlich von dem der Weimarer Republik.
Zu Beginn der zweiten deutschen Demokratie wurde vor der Wiedereinführung der Verhältniswahl eindringlich gewarnt. Es wurde vorausgesagt, dass sich die Entwicklung der Weimarer Republik mit Parteienzersplitterung, Koalitionsquerelen, Instabilität und Radikalisierung wiederholen würde. Trotzdem entschied man sich wieder für die Verhältniswahl, fand aber einen Kompromiss, nach dem ein Teil der Abgeordneten nach relativer Mehrheitswahl in Einpersonenwahlkreisen gewählt, der Mandatsanteil jedoch ausschließlich nach einer Methode der Verhältniswahl ermittelt wird. Das Wahlrecht der Bundesrepublik unterscheidet sich damit deutlich von dem der Weimarer Republik.
Grundsätzlich handelte es sich bei diesem Wahlrecht, das nur für die Wahl zum ersten Deutschen Bundestag 1949 Gültigkeit besaß, um ein Verhältniswahlrecht, das man jedoch mit dem Prinzip der relativen Mehrheitswahl verknüpfte: So wurden rund 60 Prozent der – ohne Überhangmandate – 400 Abgeordnetensitze (plus „Abgeordnete“ aus Berlin, die ein eingeschränktes Stimmrecht besaßen) in 242 Wahlkreisen und 158 Mandate (rund 40 Prozent) über Listen der Parteien in den damals elf Ländern der drei Westzonen vergeben. Im Gegensatz zu allen späteren Wahlen hatten die Wählerinnen und Wähler nur eine einzige Stimme, mit der sie gleichzeitig ihren Direktkandidaten und die Landesliste seiner Partei unterstützten.
Von größerer Bedeutung war aber bereits bei dieser Wahl der Teil der Stimmen, der die Parteienpräferenz zum Ausdruck brachte, da der Bundestag schon damals nach dem Verhältnis der Zweitstimmen der Parteien besetzt wurde und die erreichten Direktmandate einer Partei von den ihr zustehenden Mandaten abgezogen wurden. Im Unterschied zum heutigen Wahlrecht wurden die bei der Mandatsvergabe ausschlaggebenden Zweitstimmen der Parteien bis zur Wahlrechtsänderung von 1956 nur innerhalb der einzelnen Länder und nicht im Gesamtgebiet der Bundesrepublik summiert, bevor die Stimmenanteile der Parteien nach dem Verfahren von d’Hondt in Mandate umgerechnet wurden. Das hatte zur Folge, dass keine so genaue Repräsentation wie nach der neuen Methode erreicht werden konnte, da für jedes der elf Länder Rundungen bei der Umrechnung vorgenommen werden mussten und ein Ländergrenzen überschreitender Ausgleich der Stimmenanteile nicht möglich war.
Ein anderes Merkmal des bundesdeutschen Wahlgesetzkompromisses war die Einführung einer Sperrklausel, die das Eindringen von Splitterparteien in den Bundestag verhindern und so die Gefahren eines reinen Verhältniswahlrechts mindern sollte. Hierbei war es besonders schwierig, diese Hürde in angemessener Höhe anzulegen, denn eine zu hohe Hürde würde auch relativ große „Splitterparteien“ und damit ganze Bevölkerungsgruppen vom politischen Prozess ausschließen, was die Stabilität des Systems gefährdet hätte. Eine zu niedrig gelegte Schranke hätte hingegen ihren Sinn nicht erfüllen können, Systemstabilität durch Parteienkonzentration zu gewährleisten. Der Parlamentarische Rat legte daher 1949 eine Fünfprozenthürde fest, die allerdings nur in einem Bundesland übersprungen zu werden brauchte.
Gleichzeitig war eine Umgehung dieser Hürde vorgesehen, um das Entstehen neuer Parteien nicht allzu sehr zu erschweren: Auf Parteien, die 1949 bei den ersten Bundestagswahlen ein Direktmandat in einem Land erreichten, sollte die Fünfprozenthürde nicht angewendet werden und sie sollten mit allen erreichten Zweitstimmen an der Verteilung der Mandate beteiligt werden. An dieser Sperrklausel, die sich in der Höhe von fünf Prozent der gültigen Stimmen bewährt hat, hat man (trotz bisweilen heftiger Diskussion um eine Verzerrung des Wählerwillens) bis heute festgehalten. Das lag auch daran, dass sich eine Parlamentsmehrheit, die die Höhe der Sperrklausel durch einfaches Gesetz erhöhen könnte, dem Vorwurf aussetzen würde, sich kleinerer Parteien auf diese Weise bewusst zu entledigen, um die eigene Macht zu sichern.
Die ersten Bundestagswahlen bestätigten zunächst den Eindruck, dass sich das Parteiensystem der Bundesrepublik auf der „Fahrt in Richtung Weimar“ (Ferdinand A. Hermens) befand. Die CDU/CSU wurde knapp vor der SPD zur stärksten Parteigruppierung. Beide zusammen erreichten nur knapp 60 Prozent der Stimmen. Neben CDU/CSU, SPD und FDP wurden Abgeordnete von weiteren sieben Parteien in den Deutschen Bundestag gewählt.
Nachdem neue Parteien ab 1950 keiner Zulassung durch die Alliierten mehr bedurften und sich das Parteienspektrum zu zersplittern begann, versuchte man diesem Prozess entgegenzuwirken, indem man mit der Wahlrechtsreform von 1953 die Fünfprozentklausel auf das ganze Bundesgebiet bezog, womit für das Überspringen dieser Hürde bedeutend mehr Stimmen notwendig waren als zuvor bei einer Fünfprozenthürde innerhalb eines einzigen Bundeslandes. Als diese Maßnahme allein nicht den gewünschten Erfolg zeigte und sich das Parteienspektrum nur langsam konzentrierte, beschloss der Bundestag 1956, auch die zur Umgehung der Fünfprozentklausel nötige Anzahl der Direktmandate von einem auf drei zu erhöhen und somit die Hürde nochmals anzuheben. Das Bundeswahlgesetz von 1956 gilt in seinen Grundzügen unverändert bis zum heutigen Tag.
1953 setzte bereits eine erste Konzentration innerhalb des Parteiensystems ein. Als „Wahlwunder“ wird in der Literatur häufig der triumphale Wahlsieg der Union 1953 bezeichnet. Mit 45,2 Prozent der Stimmen erreichte die Union eine knappe absolute Mehrheit der Mandate. Bis zu Beginn der Sechzigerjahre hielt dieser Konzentrationstrend an. Die vielen kleineren Parteien wurden durch die CDU/CSU aufgesogen. Die Sozialdemokratie konnte ihre Stimmenanteile parallel dazu kontinuierlich ausbauen.
Im vierten Bundestag von 1961 gab es nur noch drei Fraktionen: CDU/CSU, SPD und FDP. Neben den gesellschaftspolitischen Veränderungen und den wirtschaftlichen Erfolgen der Aufbaujahre wird gemeinhin auch der Einführung der Fünfprozentklausel, also einer Variierung des Verhältniswahlrechts, die Verantwortung für diesen Konzentrationsprozess zugebilligt.
Als 1966 die erste Große Koalition zustande kam, war eine realistische Chance für eine Wahlrechtsreform gegeben. Sie war Teil der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und CDU/CSU. Die Kontroverse über die Wahlrechtsfrage wurde zudem durch neue Ergebnisse der Wissenschaft gefördert. Die Bedingungen für die Einführung der Mehrheitswahl schienen aus Sicht der großen Parteien günstig. Alles deutete auf einen Erfolg einer Wahlrechtsreform hin. Der Bundesinnenminister berief einen Beirat für die Wahlrechtsreform ein. Dieser legte im Jahr 1968 seine Empfehlungen vor. Sie liefen eindeutig auf die Einführung der relativen Mehrheitswahl hinaus.
Der Aufschrei der FDP, die sich in ihrer Existenz bedroht sah, blieb nicht ungehört. Sie prangerte an, dass die Wahlrechtsreform bloß ein Mittel zur Ausschaltung der unbequemen kleinen Partei sei, und sprach vom "Ende der Freiheit". Zudem wurden negative Folgen bei der Einführung der Mehrheitswahl vorhergesagt. Eine Verstädterung der SPD und eine Verländlichung der CDU/CSU wären wahrscheinlich gewesen. Als schließlich wissenschaftliche Untersuchungen der SPD keinerlei Machtchancen bei einer Einführung der Mehrheitswahl prophezeiten, unterstützte sie das Vorhaben nicht weiter und die Wahlrechtsreform fiel aus. Viele Argumente für die Einführung der Mehrheitswahl verloren in den Siebzigerjahren ihre Gültigkeit. 1969 kam es zum Regierungswechsel in Bonn. Bis dahin hatte man daran gezweifelt, ob auf der Basis des Verhältniswahlrechts überhaupt ein Regierungswechsel zustande kommen könne. Die kontinuierlich zunehmende Stimmenanzahl der SPD (1972 schaffte sie es, mehr Stimmen auf sich zu vereinigen als CDU/CSU) und die Umorientierung der FDP von der Union zur Sozialdemokratie ermöglichten den Machtwechsel. Schließlich erwies sich das bundesdeutsche Wahlsystem als krisenfest. Trotz schlechter Konjunktur und zunehmender Arbeitslosigkeit war es nicht zu einer Zersplitterung der Parteienlandschaft gekommen.
ZeittafelDeutsche Wahlrechtsgeschichte
1871–1918
Für den Deutschen Reichstag gilt das absolute Mehrheitswahlrecht.
1918
Die Weimarer Reichsverfassung bringt den Übergang zur reinen Verhältniswahl.
1947
Gründung der Deutschen Wählergesellschaft mit dem Ziel der Einführung eines Personen- und Mehrheitswahlrechts.
1949
Der Parlamentarische Rat und die Ministerpräsidenten formulieren ein Mischsystem aus Mehrheits- und Verhältniswahl, das sogenannte personalisierte Verhältniswahlrecht.
1953
Durch Änderung des Bundeswahlgesetzes werden die bundesweite Fünfprozentklausel und eine Zweitstimme für die Listenwahl eingeführt. Die CDU fordert in ihrem Hamburger Programm – wie schon im Parlamentarischen Rat – die Einführung der Mehrheitswahl.
1954
Eine vom Bundesinnenministerium eingesetzte Wahlrechtskommission kann sich auf kein Reformmodell einigen.
1955
CDU/CSU und Deutsche Partei stellen im Wahlrechtsausschuss des Bundestages einen Antrag auf Einführung eines „Grabenwahlsystems“. Danach sollen 60 Prozent der Bundestagsabgeordneten in Wahlkreisen und 40 Prozent über die Landeslisten gewählt werden, ohne dass die über die Erststimmen gewonnenen Direktmandate – wie beim geltenden Wahlrecht – von den über die Zweitstimmen gewonnenen Listenmandaten abgezogen werden. Der Antrag wird abgelehnt.
1956
Durch eine Wahlrechtsänderung müssen Parteien mindestens fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen oder drei Direktmandate gewinnen, um in den Bundestag einziehen zu können.
1962
Nach der durch die „Spiegel-Affäre“ ausgelösten Regierungskrise kommt es zwischen CDU/CSU und SPD erstmals zu Verhandlungen über eine große Koalition mit dem Ziel der Einführung des Mehrheitswahlrechts.
1966
In seiner ersten Regierungserklärung formuliert Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger das Ziel einer grundgesetzlich verankerten Wahlrechtsänderung, die auf die Einführung des Mehrheitswahlrechts hinausläuft.
1968
Auf ihrem Nürnberger Parteitag beschließt die SPD, die Wahlrechtsreform zu vertagen. Bundesinnenminister Paul Lücke (CDU) tritt daraufhin aus Protest zurück, da er die Wahlrechtsreform als einen wesentlichen Bestandteil der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU / CSU und SPD ansieht.
1985
Umstellung des Berechnungsverfahrens von d’Hondt auf Hare / Niemeyer.
1990
Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl wird einmalig die Fünfprozentklausel in den alten und in den neuen Bundesländern getrennt angewendet.
2008
Am 3. Juli erklärt das Bundesverfassungsgericht das bisher angewandte System zur Berechnung von Überhangmandaten aufgrund der Ungleichbehandlung von Wählerstimmen für verfassungswidrig.
2011
Am 15. November verabschiedet der Bundestag mit den Stimmen der Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP das Neunzehnte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes. Darin wird das Sitzzuteilungsverfahren neu geregelt.
2012
Das Bundesverfassungsgericht entscheidet am 25. Juli nach einer Klage von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, dass die Änderungen nicht weit genug gehen. Es stellt fest, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts nach wie vor auftreten könne. Zudem erklärt das Gericht die Anzahl von etwa 15 Überhangmandaten ohne Ausgleich zur Obergrenze.
2013
Am 21. Februar verabschiedet der Bundestag mit den Stimmen der Fraktionen von CDU / CSU, SPD, FDP und Bündnis 90 / Die Grünen einen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes. Die neuen Regelungen kommen bei den Bundestagswahlen am 22. September 2013 erstmals zur Anwendung.
2020
Am 8. Oktober 2020 nimmt der Deutsche Bundestag einen Entwurf der CDU/CSU und der SPD an, der eine Änderung des Bundeswahlgesetzes in zwei Schritten zum Gegenstand hat, um den Bundestag zu verkleinern oder zumindest ein weiteres Aufblähen zu verhindern. Der erste Schritt ermöglicht eine nur teilweise erfolgende Verrechnung von Überhangmandaten (Ausgleich erst ab dem dritten Überhangmandat) und findet bei der Bundestagswahl 2021 Anwendung. Der zweite Schritt zielt auf die Reduzierung der Wahlkreise (von 299 auf 280) und sollte erst bei der Bundestagswahl 2025 angewendet werden. Hierzu kommt es jedoch nicht, da im Jahr 2023 erneut eine Wahlrechtsreform umgesetzt wird.
2023
Auch durch die Reform von 2020 kann das wesentliche Problem eines aufblähenden Bundestags nicht gelöst werden, sodass das Parlament auch nach der Bundestagswahl 2021 weit über 700 Sitze hat. Deshalb beschließt der Bundestag mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2023 erneut eine Wahlrechtsreform. Diese sieht eine Begrenzung auf 630 Sitze sowie die Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten vor. Die Sperrklausel von bundesweit fünf Prozent der Zweitstimmen bleibt ebenso erhalten wie die Anzahl der Wahlkreise (299). Ein umstrittener Teil der Reform ist die zunächst vorgesehene Abschaffung der Grundmandatsregelung, mit der Parteien auch unterhalb der Fünfprozenthürde in den Bundestag einziehen, sofern sie mindestens drei Direktmandate erringen. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist die Abschaffung dieser Regelung unter den gegebenen Bedingungen verfassungswidrig, sodass sie forthin Bestand hat.
Die nächsten Änderungen am Wahlgesetz fanden erst 1985 statt, als das bisher verwendete Verrechnungsverfahren nach d’Hondt von der Methode Hare/Niemeyer abgelöst wurde. Das Verrechnungsverfahren nach d’Hondt ist zwar heute noch das weltweit häufigste Verrechnungsverfahren, jedoch bestätigte sich der Verdacht, dass dabei kleinere Parteien benachteiligt werden (vgl. dazu auch den Artikel
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem am 3. Juli 2008 gefällten Urteil zur Rechtmäßigkeit der sogenannten Überhangmandate eine weitere Reform des Wahlrechts erzwungen. Es sah die Gleichheit der Wählerstimmen nicht mehr gewährleistet und forderte eine Änderung der gesetzlichen Bestimmungen bis spätestens Mitte 2011 (vgl. dazu auch den Artikel
Nach einer Klage von SPD und Bündnis 90/Die Grünen entschied das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 25. Juli 2012, dass diese Änderungen nicht weit genug gingen. Das Gericht bekräftigte die bereits in dem Urteil von 2008 formulierte Position des Verfassungsgerichts, wonach es kein negatives Stimmgewicht geben dürfe (vgl. dazu den Artikel
Im Februar 2013 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ein Gesetz, das die Einführung von Sitzkontingenten für die Länder in modifizierter Form sowie den Ausgleich von Überhangmandaten vorsieht.
Nach längerer Auseinandersetzung hat sich die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD im Oktober 2020 auf eine Wahlrechtsreform geeinigt. Hintergrund war das immer weiter voranschreitende Aufblähen des Bundestags, welches der zunehmenden Anzahl der Überhang- und damit auch der Ausgleichsmandate geschuldet war (vgl. Abbildung Parteien im Bundestag oben). Überhangmandate kamen zustande, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate erhielt, als ihr eigentlich aufgrund der Zweitstimmen zustanden. Diese Überhangmandate mussten dann oftmals um zusätzliche Ausgleichsmandate ergänzt werden, damit am Ende die Sitzverteilung nach dem Verhältnis gemäß der abgegebenen Zweitstimmen gewahrt blieb. Der Bundestag zählte 2017 709 Abgeordnete und wuchs trotz Wahlrechtsreform bei der Bundestagswahl 2021 auf 735 Sitze an (nach der Teilwiederholungswahl in Berlin im Februar 2024). Das sind 137 Sitze mehr als die vorgesehenen 598. Weil die Entwicklungen bei der Stimmverteilung ein weiter anwachsendes Parlament erwarten ließen, ebbte die Debatte um eine substanzielle Reform des Wahlrechts mit dem Ziel der Verkleinerung des Deutschen Bundestages nicht ab. Neben Experten mahnten etwa auch das Bundesverfassungsgericht sowie die Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble in ihrer Amtszeit zu einer Einigung. Sie sorgten sich insbesondere um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments angesichts seiner zunehmenden Größe.
Die auch „Wahlrechtsreförmchen“ genannte Reform von 2020 wurde von Experten als unzureichend kritisiert und konnte letztlich ein weiteres Anwachsen des Bundestags nicht verhindern. In einem ersten Schritt sollten Überhangmandate einer Partei, die dadurch entstehen, dass sie in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, mit Listenplätzen der Partei aus anderen Bundesländern teilweise verrechnet werden. Dieser Schritt griff bereits bei der Bundestagswahl 2021. In Gänze entfalten sollte sich die Reform erst bei der darauffolgenden Bundestagswahl 2025. Der zweite Schritt sah eine Reduzierung der Wahlkreise von 299 auf 280 vor.
Hierzu kommt es nicht, da die Ampelkoalition 2023 und damit noch vor der nächsten Bundestagswahl eine eigene Wahlrechtsreform umgesetzt hat. Diese sieht eine feste Größe des Bundestags von 630 Sitzen sowie die Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten vor. Ein Wahlkreissieger bekommt demnach nur dann einen Sitz im Bundestag, wenn seine Partei zusätzlich genügend Zweitstimmen im betreffenden Bundesland erhalten hat (Prinzip der Zweitstimmendeckung). Die Sperrklausel von bundesweit fünf Prozent der Zweitstimmen bleibt ebenso erhalten wie die Anzahl der Wahlkreise (299). Besonders umstritten war der ursprünglich vorgesehene Wegfall der Grundmandatsklausel. Ohne diese Regelung hätte die Partei Die Linke den Einzug in den Bundestag 2021 verpasst. Auch die CSU, die bei der letzten Bundestagswahl 45 von 46 Direktmandaten gewonnen hat, wäre in diesem Fall bei einem bundesweiten Zweitstimmenergebnis von weniger als fünf Prozent nicht mehr im Bundestag vertreten. Deshalb klagten CSU und die Linke vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das neu beschlossene Wahlrecht. Das Gericht hat weite Teile der Reform gebilligt, jedoch die Sperrklausel in der vorgesehenen Ausgestaltung für verfassungswidrig erklärt. Bei der nächsten Bundestagswahl soll daher weiterhin die Grundmandatsklausel greifen, sodass Parteien, die unter die Fünfprozenthürde fallen, aber mindestens drei Direktmandate gewinnen, dennoch in Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag einziehen.
Das Wahlsystem in seiner heutigen Gestalt hat trotz nie ganz verstummender Diskussionen um eine grundlegende Reform in seinen Grundzügen als „personalisierte Verhältniswahl mit Fünfprozentsperrklausel“ seit Bestehen der Bundesrepublik seine Funktionalität vielfach unter Beweis gestellt und sich große Akzeptanz verschafft. Die Diskussionen um das Wahlrecht in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland lassen sich dreifach kategorisieren:
Wahlrecht ist immer auch politisches Recht:
Seine Ausgestaltung hängt an Machtfragen, durch die eine Besetzung höchster Staatsämter erst möglich wird. Das Wahlrecht muss politisch zweckmäßig sein; es muss einen Wechsel möglich machen.
Wahlrecht ist nur im Kontext der Verfassung zu sehen:
Das Grundgesetz regelt die demokratischen Rahmenbedingungen des Wahlaktes. Diese dürfen durch keine Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes ausgehebelt werden.
Wahlrecht ist immer auch technisches Recht:
Die Umsetzung von Wählerstimmen in Mandate muss geregelt sein. Zielkonflikte treten zwangsläufig auf zwischen der Sicherung einer stabilen Mehrheit und dem Wunsch nach einem getreuen Abbild der Wählerschaft.
Neu entfacht wurde die Diskussion um eine grundlegende Reform des Wahlrechts in Richtung Mehrheitswahl durch das Ergebnis der Bundestagswahl 2005 und der folgenden Landtagswahlen. Es zeichnete sich damals eine Entwicklung der Bundesrepublik in Richtung eines Fünfparteiensystems aus CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke ab, in dem die Regierungsbildung schwieriger wird. Ab 2013 hat sich auch die Alternative für Deutschland (AfD) als eine feste Größe in der deutschen Parteienlandschaft etabliert. Im 20. Deutschen Bundestag sind insgesamt sieben Parteien vertreten. Dennoch wurden bisher noch keine ernsthaften Anstrengungen unternommen, ein Mehrheitswahlrecht einzuführen oder die Hürde für die kleineren Parteien zu erhöhen.
Wahlplakate Bundestagswahlen 1949-2021
Bundestagswahlplakate aus 70 Jahren
1949
1953
1957
1957
1957
1961
1969
1969
1972
1976
1980
1980
1983
1983
1987
1990
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Professor Dr. Karl-Rudolf Korte hat einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft inne und ist Direktor der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Er ist zudem geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für Politikwissenschaft.
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