Bis zur Bundestagswahl vom 16. Oktober 1994 waren die Überhangmandate nur selten ein Thema in der Öffentlichkeit. Dies lag vor allem daran, dass sie für den Ausgang der Bundestagswahlen kaum von Bedeutung waren. Die Wahlergebnisse wurden durch die Überhangmandate nur marginal verändert. Bei der Bundestagswahl 1994 war dies jedoch anders: Durch zwölf solcher Überhangmandate für die CDU hatte die Regierungskoalition von Union und FDP einen Vorsprung von zehn Abgeordneten; nach ihrem Anteil an den Zweitstimmen hätte sie eigentlich nur einen Vorsprung von zwei Mandaten gehabt. Lediglich die vier Überhangmandate der SPD verhinderten einen noch größeren Mandatsvorsprung.
Die insgesamt 16 Überhangmandate der Wahl von 1994 deuteten einen Trend an. Nachdem in den davorliegenden Bundestagswahlen nie mehr als sechs Überhangmandate vergeben worden waren (zwischen 1965 und 1976 gab es sogar kein einziges Überhangmandat), wurden bei der Bundestagswahl 2005 wiederum 16 und bei der Bundestagswahl 2009 sogar 24 Überhangmandate (alle für die CDU/ CSU) vergeben.
Bei den sechs gesamtdeutschen Bundestagswahlen 1990, 1994, 1998, 2002, 2005 und 2009 gab es mit insgesamt 80 Überhangmandaten über drei Viertel aller überhaupt in der Geschichte der Bundestagswahlen bis 2009 vergebenen 97 Überhangmandate. Vier Überhangmandate gab es bei der Bundestagswahl 2013, die alle der CDU zugutekamen. Diese wurden mit 29 Ausgleichsmandaten kompensiert. Bei der Bundestagswahl 2017 kamen insgesamt 46 Überhangmandate zustande, davon 36 für die CDU. Das führte zu weiteren 65 Ausgleichsmandaten.
Überhangmandate gibt es auch bei Landtagswahlen. In einigen Ländern werden Überhangmandate wie auch auf Bundesebene durch zusätzliche Mandate, entsprechend den Zweitstimmenanteilen für die übrigen Parteien, ausgeglichen. Man spricht dann von Ausgleichsmandaten. Solche Ausgleichsmandate gibt es zum Beispiel bei der niedersächsischen Landtagswahl.
Mitentscheidend für das Zustandekommen von Überhangmandaten ist, dass die Bundestagsmandate in jedem Bundesland gesondert berechnet werden. Die 598 Mandate werden nach der Einwohnerzahl auf die 16 Länder verteilt. So erhält Nordrhein-Westfalen als größtes Bundesland 128 Mandate, Bremen als kleinstes vier. Baden-Württemberg erhält zunächst einmal 74 Mandate (Wahlkreise und damit die Zahl der Direktmandate werden nach Einwohnerrelationen gebildet). Dann wird in jedem Land, entsprechend dem Zweitstimmenanteil, errechnet, wie viele Abgeordnete jede Partei in den Bundestag entsenden kann.
In Baden-Württemberg waren dies 2005 für die CDU, die landesweit 39,2 Prozent der Zweitstimmen erhalten hatte, 30 Mandate. Die Christdemokraten gewannen jedoch 33 der 37 Direktmandate. Damit hatte die CDU drei Mandate mehr erreicht, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zugestanden hätte. Da alle Wahlkreisgewinner in den Deutschen Bundestag einzogen, waren drei zusätzliche Mandate notwendig, die das Parlament entsprechend vergrößerten. Das nennt man Überhangmandate.
Die anderen vier Überhangmandate erzielte die CDU 2005 in Sachsen. Da auch die SPD sieben ihrer neun zusätzlichen Mandate in Brandenburg und Sachsen-Anhalt errang, kamen elf von 16 Überhangmandaten aus den ostdeutschen Bundesländern. Auch bei den anderen vier gesamtdeutschen Bundestagswahlen zuvor kamen die meisten Überhangmandate aus Ostdeutschland. So erzielte die SPD bei der Bundestagswahl 1998 beispielsweise 13 Überhangmandate, davon allein zwölf im Osten.
Wahlrechtsreform 2013
Am 21. Februar 2013 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen das Zweiundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes. Darin wird das Sitzzuteilungsverfahren neu geregelt. Zur Vermeidung des Effekts des negativen Stimmgewichts wird an der bereits im Gesetz aus dem Jahr 2011 verankerten Abschaffung der bundesweiten Verbindung der Landeslisten festgehalten. Seitdem wird in der ersten Stufe der Sitzverteilung für jedes Land bereits vor der Wahl festgelegt, wie viele Bundestagssitze es erhält.
Anders als in dem Gesetz aus dem Jahr 2011 orientieren sich die Sitzkontingente dabei nicht an der Wähler-, sondern an der Bevölkerungszahl des jeweiligen Landes. Durch die so ausgestaltete Verteilung der Sitze auf die Landeslisten soll vermieden werden, dass Stimmverluste einer Partei in einem Land zu einer Erhöhung der Anzahl an Sitzen der gleichen Partei in einem anderen Land führen. Im Hinblick auf Überhangmandate wurde darauf verzichtet, das vom Bundesverfassungsgericht gewährte Kontingent von etwa 15 Mandaten ohne Ausgleich auszuschöpfen. Den neuen Regelungen folgend, entstehen grundsätzlich weiterhin Überhangmandate, wenn eine Partei in einem Land mehr Direktmandate gewinnt, als ihr gemäß ihrem Zweitstimmenanteil zustehen. Allerdings erhalten die anderen Parteien in diesem Fall so viele zusätzliche Sitze, dass die Überhangmandate ausgeglichen werden und die Zahl der Sitze der Parteien ihrem jeweiligen Zweitstimmenergebnis entspricht. Die Gesamtmandatszahl wird in der zweiten Stufe der Sitzverteilung also so weit erhöht, dass Parteien durch Überhangmandate keinen relativen Vorteil mehr erzielen.
Durch die Ausgleichsmandate wird die Gesamtzahl der Abgeordneten im Bundestag weiter steigen. Wie umfangreich der Zuwachs ausfällt, hängt von der Anzahl und der Verteilung der Überhangmandate ab. Im Fall der Bundestagswahl 2009 kamen zu den regulären 598 Mandaten 24 Überhangmandate. Nach Berechnungen des Bundeswahlleiters wäre das 2009 gewählte Parlament, den neuen Regelungen folgend, um zwei weitere Überhang- und um 47 Ausgleichsmandate angewachsen, was einer Vergrößerung von 12,2 Prozent entspräche. Tatsächlich erfüllte sich die Befürchtung einer massiven Vergrößerung der Abgeordnetenzahl zumindest bei der Bundestagswahl 2013 nicht. Die CDU erhielt lediglich vier Überhangmandate. Diese wurden mit 29 zusätzlichen Mandaten ausgeglichen, wovon zehn auf die SPD, vier auf Die Linke und zwei auf die Grünen entfielen. 13 zusätzliche Parlamentssitze für die CDU sollen die mit dem Wahlergebnis vorgegebene Proportionalität der Sitzverteilung wahren. Der Bundestag bestand also statt aus den regulären 598 aus insgesamt 631 Abgeordneten. Bei der Bundestagswahl 2017 erhöhte sich die Anzahl der Abgeordneten auf insgesamt 709 (siehe Tabelle Interner Link: Überhang- und Ausgleichsmandate im Deutschen Bundestag seit 1949, im Buch S. 66).
Die erhöhte Zahl an Überhangmandaten schien also in erster Linie eine Folge der Wiedervereinigung zu sein. Die Relationen schienen nicht mehr zu stimmen: In den neuen Bundesländern gab es zu viele Wahlkreise mit wenigen Wahlberechtigten. Für ein Direktmandat reichten also weniger Stimmen. Zu diesem Schluss kam auch das Statistische Bundesamt bei der Analyse der Überhangmandate: Vor allem die große Zahl relativ kleiner Wahlkreise in den neuen Bundesländern hätte zu einer Überbewertung der Erststimmen geführt. Die Bundeswahlkommission hatte schon 1992 in einem Memorandum an den Bundestag darauf hingewiesen, dass der Zuschnitt der Wahlkreise in den östlichen Bundesländern "problematisch" sei. Insbesondere stehe die Größe der dortigen Wahlkreise in keinem Verhältnis zu der Zahl der Wahlberechtigten in westlichen Wahlkreisen.
Außer den 13 Überhangmandaten von 1998 in Ostdeutschland kann man theoretisch auch eines der beiden Zusatzmandate in Baden-Württemberg als Folge der "Wende" ansehen: Obwohl die PDS dort nämlich nur 0,65 Prozent der Zweitstimmen erhielt, bekam sie ein Mandat. Hätte die PDS in Berlin nicht vier Direktmandate erzielt und so die Fünfprozenthürde außer Kraft gesetzt, hätte die CDU in Baden-Württemberg nach dem Zweitstimmenanteil ein Mandat mehr erhalten und wäre so nur zu einem Überhangmandat gekommen. Die hohe Zahl an Überhangmandaten hing also wohl auch mit der sogenannten Grundmandatsklausel zusammen, die der PDS im Jahr 1994 den Einzug in den Bundestag ermöglichte.
Ein weiterer Grund für Überhangmandate kann eine niedrige Wahlbeteiligung sein. Sie betrug bei der Bundestagswahl 1990 in Mecklenburg-Vorpommern (zwei Überhangmandate) nur 70,9 und in Sachsen-Anhalt (drei Überhangmandate) nur 72,2 Prozent, während der Bundesdurchschnitt bei 77,8 Prozent lag. Zudem hatten in Thüringen und Sachsen-Anhalt die kleineren Parteien, die in den Bundestag gelangten, besonders hohe Zweitstimmenanteile: die FDP in Thüringen 14,6 Prozent und in Sachsen-Anhalt 19,7 Prozent. In Mecklenburg-Vorpommern kam die PDS auf 14,2 Prozent. Dies verringerte den Zweitstimmenanteil der großen Parteien, CDU und SPD, die mit Ausnahme von zwei Wahlkreisen alle Direktmandate gewinnen konnten. Das bedeutet, dass in Ländern mit schwächeren Zweitstimmenergebnissen und folglich weniger Listenplätzen für die großen Parteien die Chance auf zusätzliche Mandate steigt.
Das Statistische Bundesamt sieht in der massiven Zunahme von Stimmensplitting einen der Hauptgründe für die Zunahme von Überhangmandaten. Immer mehr Wählerinnen und Wähler geben also bei Bundestagswahlen ihre Erst- und ihre Zweitstimme verschiedenen Parteien. Dadurch können die großen Parteien ein Übergewicht an Erststimmen erhalten. Je größer die Diskrepanz zwischen der Anzahl der erreichten Direktmandate und dem Zweitstimmenanteil ist, desto höher ist die Zahl der Überhangmandate. Stimmensplitting gibt es inzwischen auch bei der Wählerschaft von Bündnis 90/ Die Grünen; sie wählen häufig mit der Erststimme den vermeintlich aussichtsreicheren SPD-Kandidaten.
Von den 147 Überhangmandaten seit der Bundestagswahl von 1949 erhielt die CDU mit 99 Mandaten die meisten. Die SPD hatte 37-mal (davon 13-mal allein bei der Wahl 1998), die CSU zehnmal und die Deutsche Partei (DP) nur einmal diesen Vorteil. Mit Ausnahme der DP profitierten also nur die großen Parteien von den Überhangmandaten. Dies hängt damit zusammen, dass die Direktmandate fast ausschließlich an die Unionsparteien und die SPD gehen. So konnten 1990 jeweils nur die FDP und ein PDS-Kandidat, 1994 und 1998 vier und 2002 zwei PDS-Kandidaten je einen Wahlkreis gewinnen.
Bei der Wahl 2002 erreichten die Grünen in Berlin erstmals seit ihrem Bestehen ein Direktmandat. Die Partei Die Linke.PDS konnte bei der Bundestagswahl 2005 drei Wahlkreise direkt gewinnen.
Wenn man die bisherigen Überhangmandate seit 1949 nach Ländern aufschlüsselt, fällt auf, dass es mit Ausnahme des Spitzenreiters Baden-Württemberg (27) primär in ostdeutschen bzw. kleinen Bundesländern zu Überhangmandaten gekommen ist. Dabei liegt Sachsen-Anhalt mit 20 Überhangmandaten vor Sachsen (15), Schleswig-Holstein (14) und Brandenburg (13). Daneben wurden speziell in kleinen Bundesländern wie Hamburg (7) oder Bremen (4) zusätzliche Mandate vergeben. In einigen großen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen gab es im Gegensatz dazu noch nie Überhangmandate, in Bayern wurden bei der Wahl 2009 zum ersten Mal drei zusätzliche Mandate vergeben und bei der Wahl 2017 sogar sieben. Es ist jedoch schwierig, hieraus eine klare Regel abzuleiten.
Konnte die Zahl der Überhangmandate bei der Bundestagswahl 2002 noch deutlich reduziert werden, so erhöhte sie sich bei der Wahl im Jahr 2005 wieder von fünf auf 16, von denen die SPD neun, die CDU sieben gewann. Die Bundestagswahl 2017 sorgte mit der Vergabe von 46 Überhangmandaten für einen neuen Rekord.
Die Diskussion über diese Besonderheit des deutschen Wahlrechts begann insbesondere ab 2005 von Neuem. Nachdem bereits 1994 das Bundesverfassungsgericht angerufen worden war, klagten zwei Bürger nach der Wahl 2005 erneut gegen die Regelung.
Einer der Ausgangspunkte für die Klage war die Nachwahl in Dresden. Durch den Tod einer NPD-Direktkandidatin kurz vor dem eigentlichen Wahltermin im September 2005 musste im Wahlkreis 160 in der sächsischen Landeshauptstadt mit zwei Wochen Verzögerung nachgewählt werden. Dies führte zu der paradoxen Situation, dass das bundesweite Ergebnis zum Nachwahltermin als vorläufiges amtliches Ergebnis bereits feststand. So ließ sich vor der Abstimmung gut ermitteln, wie viele Erst- und Zweitstimmen eine Partei bekommen müsste, um ein optimales Resultat zu erzielen. Dadurch war beispielsweise für die CDU absehbar, dass sich der sogenannte negative Stimmeffekt zu ihren Ungunsten auswirken konnte.
Bei der Verteilung der Sitze auf Landesebene kam es gemäß den bisherigen Regelungen immer wieder zu sehr knappen Entscheidungen. Nur einige Tausend Stimmen konnten darüber entscheiden, ob ein Sitz, der einer Partei bundesweit zusteht, letztlich aus dem einen Bundesland oder einem anderen zu besetzen war. Schon bei nur geringen Stimmenverschiebungen bestand die Möglichkeit, dass sich die Mandatszahl zwar nicht im Verhältnis zu den anderen Parteien veränderte, wohl aber die Verteilung zwischen den einzelnen Landeslisten verschob. Es konnte also passieren, dass beispielsweise ein Sitz der CDU wegen ein paar Tausend Stimmen mehr oder weniger etwa von Sachsen in ein anderes Bundesland wanderte. Wenn nun diese Partei den Sitz in einem Bundesland hätte abgeben müssen, in dem sie Überhangmandate gewonnen hatte, hätte sie dort jedoch keinen weiteren verloren. Rein rechnerisch hätte dies zwar einen Listenplatz weniger bedeutet, aber ihre bereits gewonnenen Direktmandate hätte sie behalten dürfen. Dadurch blieb die Zahl der Mandate trotz des eigentlichen Verlusts eines Listenplatzes bestehen. Der Sitz kam der Liste eines Bundeslandes zugute, in dem die Partei letztlich mehr Stimmen erhalten hatte. War dies ein Land, in dem es keine Überhangmandate gab und ein Sitz mehr für die Landesliste die Zahl der zu vergebenden Mandate auch tatsächlich erhöhte, profitierte die Partei und gewann im Endeffekt einen zusätzlichen Sitz im Parlament.
Dieser Effekt konnte allerdings auch umgekehrt eintreten: Gewann eine Partei in einem Bundesland, in dem sie Überhangmandate hatte, aufgrund eines höheren Zweitstimmenanteils rein rechnerisch einen weiteren Listenplatz dazu, so kam dieser dort eben wegen der Überhangmandate nicht zum Tragen. Erfolgte diese Verschiebung aber zulasten eines Landes, in dem die Partei keine Überhangmandate hatte, so ging dieses Mandat dort effektiv verloren und im Bundestag verlor die Partei trotz der Stimmengewinne einen Sitz.
Genau dieser Fall drohte für die CDU 2005 bei der Nachwahl in Dresden einzutreten. Weil die Christdemokraten in Sachsen bereits drei Überhangmandate gewonnen hatten, war durch das Wissen des bundesweiten Resultats absehbar, dass die Union bei deutlich über 41.000 Zweitstimmen im Wahlkreis Dresden I einen Listenplatz dazugewinnen würde, in einem anderen Bundesland dafür aber einen abgeben müsste. Um dies zu verhindern und gleichzeitig ein weiteres Überhangmandat zu gewinnen, musste die CDU also ein schlechtes Zweitstimmenergebnis einfahren und ihren Direktkandidaten durchbringen. Dementsprechend appellierte das christdemokratische Wahlkampfteam an die Wählerinnen und Wähler, mit der Erststimme die Union und mit der Zweitstimme möglichst eine andere Partei zu wählen.
Bei der Nachwahl ging diese Strategie tatsächlich auf: Der CDU-Kandidat Andreas Gottfried Lämmel gewann das Direktmandat. Zugleich erreichte die Union nur 38.208 Zweitstimmen und konnte sich so ein zusätzliches Mandat sichern. Bei nur 3.387 mehr Zweitstimmen hätte die Union einen derartigen Gewinn nicht erzielt (Dietmar Hipp, 2008).
Die Kläger sahen in diesem Effekt einen Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichheit sowie der Unmittelbarkeit der Wahl. Ihrer Ansicht nach könne durch das negative Stimmgewicht die paradoxe Situation entstehen, dass die Wählerstimme als Ablehnung der gewählten Partei wirkt. Die Überhangmandate seien zudem ungerecht, weil sie die Sitzzahl der betroffenen Parteien erhöhen und das Resultat der Verhältniswahl verzerren würden. Anders als beim letzten Urteil zu diesem Thema im Jahr 1997 gab das Bundesverfassungsgericht den Klägern im Juli 2008 recht und erklärte Regelungen, die zum Effekt des negativen Stimmgewichts führen, für verfassungswidrig. Es schloss sich der Argumentation der Kläger an und befand, dass dieser Effekt gegen die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl verstoße. Ein Wahlsystem, das bei einem Zuwachs an Stimmen einen Mandatsverlust zulasse, mache den demokratischen Wettbewerb widersinnig. Das Gericht war außerdem der Ansicht, dass es sich hierbei nicht um eine seltene Ausnahme handele, sondern dass sich dieser Fall durch die Überhangmandate regelmäßig auf das Wahlergebnis auswirke.
QuellentextEinzelbewerber/-innen
Personen, die bei einer Wahl antreten, ohne von einer Partei aufgestellt zu sein, konnten bei Bundestagswahlen zwar bisher kaum Erfolge verzeichnen. Dennoch ist ihr Anteil seit Ende der 1990er-Jahre konstant hoch. So nahmen seit der Bundestagswahl 1998 jeweils mindestens 51 "echte" Einzelbewerber/-innen an den Wahlen teil (Christian Nestler 2014; Der Bundeswahlleiter 2017).
Ihre Motivation ist unterschiedlicher Natur: Mal betonen sie die Relevanz eines spezifischen Themas, das sie durch die etablierten Parteien nicht vertreten sehen, mal wollen sie gegen die Dominanz der Parteien protestieren, fordern mehr direkte Demokratie oder betreiben schlichtweg Eigenwerbung. Außerdem haben sich in der Vergangenheit bereits einige Gruppen als loses Netzwerk in diversen Wahlkreisen im gesamten Bundesgebiet beworben und somit über die Wahlkreisebene hinaus gemeinsame Forderungen signalisiert. Diese "unechten" Einzelbewerber/-innen geben alle ein Stichwort an – etwa die Friedensliste im Jahr 1987.
Das Bundesverfassungsgericht sah jedoch keinen Grund, die Bundestagswahl 2005 wegen dieses Fehlers für ungültig zu erklären und damit den Deutschen Bundestag aufzulösen. Das Gericht räumte dem Gesetzgeber für eine Neuregelung vielmehr eine Frist bis zum Jahr 2011 ein (Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 3. Juli 2008). Am 15. November 2011 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen der Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP das Neunzehnte Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, in dem eine Aufhebung der bundesweiten Listenverbindungen sowie die Einführung von Sitzkontingenten vorgesehen war und Überhangmandate erhalten bleiben sollten.
Nach einer Klage von SPD und Bündnis 90/Die Grünen beschied das Bundesverfassungsgericht am 25. Juli 2012, dass diese Änderungen nicht weit genug gingen, da der Effekt des negativen Stimmgewichts nach wie vor möglich sei. Zudem erklärte es die Anzahl von etwa 15 Überhangmandaten ohne Ausgleich als Obergrenze. Im Februar 2013 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen einen neuen Gesetzentwurf, der die Entkopplung von Landeslisten und die Einführung von Ausgleichsmandaten für Überhangmandate vorsieht (vgl. Interner Link: hier, im Buch S. 48). Die neuen Regelungen galten bereits bei der Bundestagswahl am 22. September 2013.
Der Anreiz zum Stimmensplitting nimmt angesichts dieser Bestimmungen einerseits ab, da der Effekt des negativen Stimmgewichts eingedämmt und durch den Ausgleich von Überhangmandaten der Proporz nach Zweitstimmen hergestellt wird. Andererseits kann durch das Aufteilen der Stimmen nach wie vor kleinen Parteien dazu verholfen werden, die Fünfprozenthürde zu überspringen.
QuellentextVorschläge zur Reform des Bundestagswahlrechts
Das Bundestagswahlrecht war seit seiner Einführung immer wieder Gegenstand von Kontroversen. In der aktuellen Debatte werden insbesondere die folgenden Reformvorschläge diskutiert:
Einstimmensystem: Bei diesem Modell gibt der Wahlberechtigte im Wahlkreis eine Stimme für einen Direktkandidaten und zugleich für die Partei auf Bundesebene ab.
Wahlkreisreduzierung: Weniger Wahlkreise führen zu weniger Direktmandaten – dadurch würde der Bundestag automatisch kleiner. Dieser Vorschlag würde allerdings genauso wie ein Einstimmensystem nur eine mögliche Ursache einer Vergrößerung des Bundestages oder das Entstehen von Überhangmandaten beseitigen, zeitgleich aber auch die Charakteristika der personalisierten Verhältniswahl maßgeblich verändern.
Mehrheitswahlsystem: Auch die Einführung der Mehrheitswahl, die bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren diskutiert wurde, ist nicht ausgeschlossen – wenngleich sie gegenwärtig unwahrscheinlich ist.
Fünfprozentklausel: Ein ganz anderer Punkt auf der Reformagenda könnte hingegen die Sperrklausel werden, denn 2013 blieben 6.859.439 gültige Wählerstimmen bei der Zusammensetzung des Bundestages unberücksichtigt. Damit entfielen 15,8 Prozent der Stimmen auf Parteien, die den Einzug in den Bundestag nicht geschafft hatten. Eine mögliche Reformoption ist die moderate Senkung der Sperrklausel, beispielsweise auf drei Prozent der bundesweiten Zweitstimmen. Auch ihre völlige Abschaffung ist denkbar.
Alternativstimmensystem: Neben der eher umstrittenen Absenkung oder gar Abschaffung der Zugangshürde wäre ein Alternativstimmensystem eine Reformmöglichkeit, das vorsehen würde, dass der Wähler eine alternative Stimme für den Fall abgeben kann, dass seine Erstpräferenz an der Fünfprozenthürde scheitern würde.
Kumulieren und Panaschieren: Ein Einfluss der Wähler auf die Reihenfolge von Listen über das Kumulieren (hier kann man einem Listenkandidaten mehrere Stimmen geben) oder Panaschieren (also der Möglichkeit, seine Stimmen Kandidaten von unterschiedlichen Listen oder Parteien zu geben) ist eine weitere Forderung, um die Gestaltungsmöglichkeiten der Wähler zu erhöhen. Das Kumulieren und Panaschieren führen aber ähnlich wie ein Alternativstimmensystem zu einer weiteren Komplexitätssteigerung des Wahlsystems und bewirkt womöglich einen noch stärkeren Einbruch der Wahlbeteiligung.
Wahlpflicht: Bereits länger in der Diskussion ist zudem die Frage, wie dem Trend der stetig sinkenden Wahlbeteiligung entgegengewirkt werden kann. In manchen Ländern, darunter Belgien, gibt es eine allgemeine Wahlpflicht. Das hat den Effekt, dass dort regelmäßig weit über 90 Prozent der Wahlberechtigten am Urnengang teilnehmen. Einigen Studien zufolge könnte über eine öffentliche Verzeichnung der Wahlteilnahme oder gar eine Aufhebung des Wahlgeheimnisses die Wahlbeteiligung deutlich erhöht werden. Diskutiert wird auch, ob Wählerinnen und Wähler für die Stimmabgabe belohnt werden könnten, etwa in Form einer finanziellen Vergütung. Diese Vorschläge widersprechen jedoch den allgemeinen Wahlrechtsgrundsätzen und treffen auch innerhalb der Bevölkerung auf wenig Zustimmung.
Wahlwoche: Nicht ganz so unrealistisch sind hingegen Vorschläge, den Urnengang statt an einem Sonntag über eine ganze Woche stattfinden zu lassen und eine Stimmabgabe auch in Bahnhöfen, Bibliotheken oder mobilen Wahlkabinen zu ermöglichen.
Wahlcomputer und Onlinevoting: Seit Jahren wird darüber diskutiert, ob durch den Einsatz von Wahlcomputern oder durch ein Onlinevoting der Wahlgang für die Bürger angenehmer gestaltet und zugleich die Auszählung der Stimmen vereinfacht würde. Seit 1967 wurden bei der Bundestagswahl vereinzelt elektromechanische Geräte zur Auszählung von Stimmzetteln verwendet, bei der Wahl 2005 auch Wahlcomputer. Ihr Einsatz wurde 2009 vom Bundesverfassungsgericht allerdings für verfassungswidrig erklärt: "Jeder Bürger muss die zentralen Schritte der Wahl ohne besondere technische Vorkenntnisse zuverlässig nachvollziehen und verstehen können." Dies sei mit den eingesetzten Geräten nicht möglich gewesen. Mit ihrem Urteil setzen die Karlsruher Richter die Hürden für den Einsatz von Wahlcomputern sehr hoch, schließen diesen jedoch nicht generell aus.
All diese Punkte zeigen, wie vielfältig die Möglichkeiten und Vorschläge zur weiteren Reformierung des Bundeswahlgesetzes sind. Allerdings sind es die im Bundestag vertretenen Fraktionen, die die Gestaltung des Wahlrechts entscheiden. Bei Wahlgesetzreformen agieren die politischen Akteure selbstverständlich auch in eigener Sache. Wahlrechtsfragen sind schließlich handfeste Machtfragen. Deshalb fordern einige zivilgesellschaftliche Akteure, dass Vorschläge für eine weitere Reform von einer unabhängigen Kommission oder einer Bürgerversammlung erarbeitet werden und über diese später beispielsweise durch ein Referendum entschieden wird. Unabhängig davon ist klar: Die stark technisch geprägte Debatte darf nicht nur auf das Interesse vereinzelter Experten stoßen; Fragen des Wahlgesetzes gehören zu den Grundsatzfragen jeder Demokratie.
Dieser Text wurde aus dem von Karl-Rudolf Korte erstellten und vom Deutschen Bundestag 2020 herausgegebenen Band "Stichwort: Wahlen. Grundpfeiler der Demokratie" entnommen und leicht überarbeitet.
Zu einer weiter reichenden Wahlrechtsreform war lange Zeit keine der etablierten Parteien bereit. So widerspricht eine Abschaffung der Grundmandatsklausel den Interessen der Union. Denn wie sicher ist es langfristig, dass die starken Wahlerfolge der CSU in Bayern ausreichen, um bundesweit immer mehr als fünf Prozent der Stimmen zu erreichen, wie es bisher der Fall war?
Und eine Umstellung auf ein Mehrheitswahlrecht könnte die Sozialdemokraten die Koalitionspartnerin kosten, die sie für die Regierungsmehrheit brauchen. Zudem hat sich die politische Kultur Deutschlands über die Jahre hinweg verändert. Galt früher die politische Auseinandersetzung als störend, wird sie jetzt als notwendiges Element der Demokratie geschätzt, obwohl sie eher konsensdemokratisch als konfliktorientiert ausgerichtet ist. Die Vielfalt der politischen Meinungen und damit der politischen Parteien ist Teil dieser politischen Kultur. Würde das politische Spektrum durch die Einführung der Mehrheitswahl auf zwei Positionen reduziert, widerspräche dies deutlich der gesellschaftlichen Entwicklung. Allerdings heißt das nicht, dass Wahlrechtsreformen für alle Zeiten ausgeschlossen sind. So wurde im Oktober 2020 ein Entwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom Deutschen Bundestag angenommen (siehe dazu Interner Link: hier, im Buch S. 46 und S. 48).