Systematisch lassen sich aus der vorausgehenden Erörterung der beiden Grundwahlsysteme folgende Wirkungen gegenüberstellen.
Wirkungsrichtungen
Wahlsysteme wirken grundsätzlich in zwei Richtungen:
a) im Nachhinein ("mechanischer Faktor"):
Die Regelungen des Wahlrechts bestimmen, ob und wie die Stimmen der Wählerinnen und Wähler in Mandate umgewandelt werden. Beispiele:
Die FDP scheiterte bei der Bundestagswahl 2013 an der Fünfprozenthürde. Sie erhielt daher keine Sitze im Bundestag.
Die Liberal Democrats gewannen bei den Wahlen zum britischen Unterhaus am 6. Mai 2010 insgesamt 23 Prozent der Stimmen. Da sie eine Stimmenmehrheit nur in 57 Wahlkreisen erreichten, stellten sie mit 57 Abgeordneten nur 8,8 Prozent der Mitglieder des Unterhauses.
b) im Voraus ("psychologischer Faktor"):
Bestimmte Regelungen des Wahlrechts führen dazu, dass kleine Parteien bei der Vergabe von Mandaten unberücksichtigt bleiben. Die Stimmen, die sie erhalten haben, gehen verloren. Doch Wählerinnen und Wähler verschenken normalerweise ungern ihre Stimme. Sie entscheiden sich für aussichtsreichere Kandidaturen.
Das Wahlrecht formt die Wahlentscheidung mit: So würden etwa die Liberal Democrats in Großbritannien bei einer Verhältniswahl mit ziemlicher Sicherheit wesentlich höhere Stimmenanteile erzielen.
Die Wahlsysteme beeinflussen das Wahlverhalten unterschiedlich stark. Bei der Verhältniswahl ist der häufigste Grund für die Nichtberücksichtigung von Stimmen eine Sperrklausel. Die Wählerinnen und Wähler werden daher bei ihrer Wahlentscheidung nur dies berücksichtigen. Im Fall der Mehrheitswahl, bei der der Erfolgswert der Stimmen grundsätzlich sehr unterschiedlich ist, wird dagegen das Wahlsystem die Wahlentscheidung sehr stark beeinflussen.
Listenwahl
Die Verteilung der Mandate auf die einzelnen Parteien im Rahmen einer Verhältniswahl orientiert sich an Verfahren der Stimmenverrechnung und an Kandidatenlisten, die die Parteien bereits im Vorfeld der Wahl aufgestellt haben. Nach der Auszählung der abgegebenen Stimmen steht fest, mit wie vielen Sitzen die jeweiligen Parteien im Parlament vertreten sein werden (vgl. Verfahren zur Stimmenverrechnung im Artikel Interner Link: Verhältniswahl, im Buch S. 29 ff.). Welche Kandidatinnen und Kandidaten als Abgeordnete in das Parlament einziehen, hängt von dem Platz, das heißt ihrer Position auf der jeweiligen Parteiliste, ab. Erhält beispielsweise Partei A insgesamt acht Mandate zugesprochen, ziehen die ersten acht Personen der Liste der Partei A in das Parlament ein. Alle anderen Listenplätze finden dann keine Berücksichtigung mehr, da der Stimmenanteil für die Partei nicht dazu ausreicht, darüber hinaus weitere Abgeordnete in das Parlament zu entsenden.
Wahlsystem und Parteiensystem
Die Parteien sind ein entscheidendes Element der parlamentarischen Demokratie. Daher ist die strukturierende Wirkung des Wahlsystems auf das Parteiensystem von großer Bedeutung. Es ist umstritten, wie groß der Einfluss des Wahlsystems auf das Parteiensystem tatsächlich ist. Manche Autoren glauben, Gesetze zu erkennen wie: "Die Mehrheitswahl führt zu einem Zweiparteiensystem." Andere sind der Auffassung, dass das Parteiensystem allein durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt sei. Es wäre damit vom Wahlsystem völlig unabhängig. Tatsächlich besteht ein komplexer Zusammenhang zwischen Wahlsystem, Parteiensystem und Gesellschaft. Solide Aussagen sind nur möglich, wenn einerseits alle Details eines Wahlverfahrens berücksichtigt und andererseits die gesellschaftlichen Vorbedingungen nicht übersehen werden. Wahlsysteme wirken lediglich tendenziell in eine bestimmte Richtung.
Konzentration des Parteiensystems
Das Mehrheitswahlrecht fördert die Konzentration der Wählerstimmen auf wenige Parteien. Dies ist umso ausgeprägter, je niedriger das gesellschaftspolitische Konfliktniveau eines Landes ist. In der Regel gewinnt eine Partei oder eine vor der Wahl bestimmte Koalition eine regierungsfähige Mehrheit.
Die relative Mehrheitswahl führt tendenziell zu einem Zweiparteiensystem. Es hemmt die Zersplitterung und belohnt Zusammenschlüsse. Neue Parteien können sich nur äußerst mühsam etablieren. Doch der Blick nach Großbritannien zeigt, dass das Parteiensystem bei Mehrheitswahl nicht völlig erstarren muss. Im 19. Jahrhundert dominierten dort die Konservativen und die Liberalen. Im Zuge des sozialen Wandels und der Ausweitung des Wahlrechts wanderten viele Wählerinnen und Wähler von den Liberalen zur Labour Party. So wurden nach einer Übergangsphase von etwa 1910 bis 1930 die Liberalen von der Labour Party verdrängt.
Bei einem Zweiparteiensystem erringt immer eine Partei die absolute Mehrheit. Weil es keine Koalitionsregierungen gibt, ist klar, welche Partei die Verantwortung für die Politik trägt. Das politische System ist transparent. Wer mit der Regierung unzufrieden ist, kann der Opposition seine Stimme geben. Über die Regierungsbildung entscheiden die Wahlberechtigten in der Wahl und nicht die Parteien durch Koalitionsverbindungen nach der Wahl.
Die reine Verhältniswahl verhindert nicht die Zersplitterung der Parteienlandschaft. Im parlamentarischen Regierungssystem bedroht das die Handlungsfähigkeit. Ist die Verhältniswahl dagegen mit einer wirksamen Sperrklausel versehen, ist es dennoch möglich, dass sich ein Mehrparteiensystem bildet. Das kann durchaus Vorteile haben. Die Parteienlandschaft spiegelt die verschiedenen politischen Richtungen in der Gesellschaft wider; die Bürgerinnen und Bürger können leichter eine Partei finden, die ihrer Meinung entspricht. Es ist wahrscheinlich, dass dabei eine Koalitionsregierung gebildet werden muss. Eine Regierungspartei kann dann nicht rücksichtslos ihre Interessen verfolgen, sondern muss versuchen, mit dem Koalitionspartner einen Ausgleich zu finden. So werden verschiedene politische Richtungen integriert. Ist zudem eine Partei in verschiedenen Koalitionen an der Regierung beteiligt, verhindert das bei einem Regierungswechsel radikale Umschwünge. In der Bundesrepublik fiel bislang meist der FDP diese Rolle zu. Sie war in Koalitionen mit der CDU/CSU und der SPD seit 1949 oft an der Regierung beteiligt. Mit der Etablierung der Partei Bündnis 90/Die Grünen, die bereits als Koalitionspartnerin Regierungsverantwortung trug, und der Partei Die Linke nunmehr auf Bundesebene haben sich die Koalitionsmöglichkeiten erweitert.
Regierungswechsel
Das Mehrheitswahlrecht erhöht die Wahrscheinlichkeit eines regelmäßigen Regierungswechsels, da es Stimmenveränderungen überproportional in Mandatsveränderungen umsetzt. Es gilt als Beweis der Demokratiefähigkeit, wenn sich Parteien in der Regierungsverantwortung ablösen. In der Regel begünstigt die Mehrheitswahl den Regierungswechsel. Bei der Zusammensetzung des Parlaments schlagen sich Wählerwanderungen verstärkt nieder. So mussten in Großbritannien von 1945 bis 1970 nur durchschnittlich 3,6 Prozent der Wählerinnen und Wähler von einer Partei zur anderen schwenken, um einen Regierungswechsel herbeizuführen. Das war allerdings nur möglich, weil sich zwei in etwa gleich große Parteien gegenüberstanden. Hat bei der Mehrheitswahl eine Partei eine dominierende Stellung, ist ein Regierungswechsel prinzipiell ausgeschlossen.
Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn in einem Land alle ländlichen Wahlkreise traditionell von einer konservativen Partei und die städtischen Wahlkreise von einer sozialistischen Partei gewonnen würden und die meisten Wahlkreise in ländlichen Gebieten lägen.
Bei Verhältniswahl und Mehrparteiensystem hat nur selten eine Partei eine ausreichende Mehrheit für die alleinige Regierungsbildung. Also müssen Koalitionen gebildet werden.
Ein oft vorgebrachter Vorwurf lautet, dass diese nach den Wahlen hinter verschlossenen Türen ausgehandelt würden. Nicht die Wählerinnen und Wähler, sondern die Verhandlungsführer der Parteien entscheiden darüber, wer die Regierung stellt. Wenn die Parteien jedoch schon im Wahlkampf eine Koalitionsaussage zugunsten einer anderen Partei treffen, greift der Vorwurf der Manipulation des Wählerwillens ins Leere.
Es ist richtig, dass aus taktischen Gründen nicht immer klare Koalitionsaussagen im Vorfeld von Wahlen ausgesprochen werden. Dann kann es passieren, dass durch eine Koalition eine Regierung gebildet wird, die nicht die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat. Es bleibt daher Sache der Wählerinnen und Wähler, vorab eindeutige Koalitionsaussagen einzufordern.
Disproportionalitäten
Bei der Mehrheitswahl werden die Begünstigung des Regierungswechsels und die starke Konzentration des Parteiensystems mit sogenannten Disproportionalitäten erkauft: Die Stärke der Fraktionen im Parlament ist nicht proportional zu den Stimmenanteilen der Parteien. Die Disproportionalitäten werden durch die verlorenen Stimmen der unterlegenen Kandidaten bei der Wahl in Einpersonenwahlkreisen hervorgerufen.
Bei der Verhältniswahl mit Sperrklausel treten größere Disproportionalitäten nur auf, wenn das Parteiensystem zersplittert ist. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn es sich in einer Phase des Umbruchs befindet oder sich gerade erst herausbildet. Vor den Parlamentswahlen in Polen 1993 beispielsweise war das ehemalige Wahlbündnis Solidarność in viele kleine Parteien zerfallen. Die meisten von ihnen scheiterten an der Fünfprozenthürde. So blieben insgesamt 30 Prozent der Stimmen unberücksichtigt. Genau das aber hat bei den nächsten Wahlen 1997 zur Konzentration des Parteiensystems geführt. Bei einem stabilen Parteiensystem treten gewöhnlich Disproportionalitäten nur in sehr geringem Umfang auf.
Politisches Klima
Der Mehrheitswahl wird oft zugutegehalten, dass sie zur politischen Mäßigung beitrage. Theoretisch wird argumentiert, dass die Wechselwählerinnen und -wähler den Wahlausgang entscheiden. Um diese müssen daher die Parteien ringen. Da diese Klientel wie der Großteil der Wählerschaft politisch in der Mitte anzusiedeln ist, wird der Wahlkampf mit Argumenten und Augenmaß geführt. Die Streitkultur wird also nicht durch polemische Parolen verdorben. Jedoch wird auch im Wahlkampf Großbritanniens mit harten Bandagen gekämpft. Angesichts der Parole der Konservativen "New Labour – New Danger" muss die Theorie wohl relativiert werden.
Weiter wird vorgebracht, dass die Parteien beim Mehrparteiensystem, das unter den Bedingungen der Verhältniswahl entsteht, nach mehreren Seiten kämpfen müssen. Hiebe müssen nach links und rechts verteilt werden. Durch den zumeist gegebenen Zwang zur Koalitionsbildung tritt nach der Wahl die absurde Situation ein, dass die Gegner des Wahlkampfs Partner in einer Koalition sind. In der Realität nehmen jedoch die Wahlkämpfer auf ihre potenziellen Partner Rücksicht. Zwar besteht der Zwang, sich deutlich zu artikulieren und zu positionieren – das Augenmerk gilt aber zumeist nur einem Hauptgegner, der für eine Koalition nicht infrage kommt.
Personalisierung
Die Mehrheitswahl wird häufig als Personenwahl betrachtet. Die Wählerinnen und Wähler können demzufolge im Wahlkreis zwischen ihnen bekannten Persönlichkeiten entscheiden. Verkrustete Parteienstrukturen sollen durch die Mehrheitswahl aufgebrochen werden. Die Wahlberechtigten wählen, wen sie für befähigter halten. Tatsächlich werden aber auch in Großbritannien im Wahlkreis in erster Linie Parteien gewählt. Nur auf nationaler Ebene zählt die Persönlichkeit – die Wahl ist ein Plebiszit für die Parteiführung. Im Wahlkreis dagegen treten gewöhnlich keine Individualisten an, sondern von den Parteiorganisationen abhängige Kandidatinnen und Kandidaten. Man mag das bedauern. Aber es liegt in der Logik des parlamentarischen Regierungssystems, dass die Konfrontationslinien entlang von Parteigrenzen verlaufen.
Die Verhältniswahl mit Liste wird häufig als anonym betrachtet. Der Vorwurf traf zum Beispiel für die Weimarer Republik zu, in der nach einer starren Liste gewählt wurde. Die Distanz zwischen Abgeordneten auf der einen und Wählerinnen und Wählern auf der anderen Seite war tatsächlich sehr groß. Wo aber nach freien oder lose gebundenen Listen gewählt wird, besteht für die Wahlberechtigten die Möglichkeit, kandidierenden Personen, die sie kennen, den Weg ins Parlament zu ebnen. Diese Möglichkeit gibt es zwar in der Bundesrepublik nicht, die "anonyme" Liste wird hier aber durch die Personalisierung der Verhältniswahl ausgeglichen.
Fraktionsplanung
Jede Partei braucht für die verschiedenen Fachthemen und Ausschüsse in der Parlamentsfraktion Expertenwissen. Nur so kann sie mit dem nötigen Sachverstand auftreten und ihre Standpunkte glaubwürdig artikulieren. Zusätzlich wird versucht, eine gleichmäßige Verteilung der Geschlechter zu erreichen.
Die Mehrheitswahl kann das nur teilweise leisten. Sie erschwert zwar die Fraktionsplanung, verhindert sie aber nicht. Kandidatinnen und Kandidaten, die im Parlament unbedingt vertreten sein sollen, können in sicheren Wahlkreisen aufgestellt werden. Dennoch ist das Wahlverhalten nicht immer wirklich berechenbar.
Bei den Unterhauswahlen in Großbritannien 1997 zogen viele Minister der Konservativen nicht wieder ins Unterhaus ein. Dies macht sich im Ergebnis als schwerer Verlust bemerkbar. Gerade sie hätten mit ihrer Erfahrung der Labour-Regierung durch gezielte Oppositionsstrategien das Regieren erschweren können.
Die Listenwahl erleichtert die Fraktionsplanung. Werden Fachleute auf sogenannte sichere Listenplätze gesetzt, kommen sie auf jeden Fall ins Parlament. Allerdings besteht ein Zielkonflikt, der sich kaum aufheben lässt: Fügt man ins Wahlsystem Elemente ein, die den Wählenden die Möglichkeit bieten, bestimmten Persönlichkeiten ihre Stimme zu geben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Fachleute entgegen dem Wunsch der Parteigremien auf der Strecke bleiben.
Frauen haben bei der Kandidatur über eine Liste zumeist höhere Chancen. Wenn eine Liste den Anschein erweckt, zwischen den Geschlechtern ausgeglichen zu sein, wird das von Wählerinnen und Wählern durchaus honoriert.
Doch sollte man auf optische Tricks nicht hereinfallen: Häufig werden überdurchschnittlich viele Frauen auf die hinteren Listenplätze gesetzt. Diese Platzierungen sind entweder aussichtslos oder jedenfalls sehr unsicher. Die Kandidaten reservieren sich die vorderen Listenplätze. Die Liste erweckt so vordergründig den Anschein, ausgewogen zu sein, was aber in Wirklichkeit nicht den Tatsachen entspricht.
Die Fraktionsplanung wird im Hinblick auf Expertensachverstand zunehmend eingeengt, da vorwiegend Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes in die Parlamente eingezogen sind.