Die Grundvorstellung der Verhältniswahl ist, dass im Parlament alle gesellschaftlichen Gruppen gemäß ihrem Anteil an Wählerstimmen vertreten sind. Es soll die "Landkarte" der Gesellschaft sein. Deshalb verhält sich die Anzahl der Sitze, die jede Partei erhält, proportional zu der Anzahl ihrer Stimmen. So gehen nicht wie bei der Mehrheitswahl Stimmen verloren. Sie zählen alle gleich und haben den gleichen Erfolgswert. Obwohl die Verhältniswahlsysteme in diesem Punkt übereinstimmen, gibt es "das" Verhältniswahlsystem nicht. Verschiedene Regelungen können dazu führen, dass
kleine Parteien ausgeschlossen werden,
große Parteien Vorteile haben,
die größte Partei Vorteile hat,
ein konzentrierender Effekt auf das Parteiensystem eintritt,
die parlamentarische Mehrheitsbildung durch eine Partei gefördert wird.
Stimmenverrechnung
Zunächst variiert die Wirkung der Verhältniswahl durch unterschiedliche mathematische Verfahren zur Umrechnung von Stimmen in Parlamentssitze. Über sie wurde nachgedacht, seit es die Verhältniswahl gibt. Hier sollen nur die drei wichtigsten vorgestellt werden. Sie fanden bzw. finden auch in Deutschland Anwendung: das Verfahren nach d’Hondt, das Verfahren nach Hare / Niemeyer und das Verfahren nach Sainte-Laguë / Schepers.
Verfahren nach d’Hondt
Das nach dem belgischen Mathematikprofessor Victor d’Hondt benannte Verfahren ist ein Höchstzahlverfahren. Es wird wegen der Divisorreihe, mit der es arbeitet, auch Divisorverfahren genannt. Die Stimmenanzahl jeder Partei wird nacheinander durch 1, 2, 3, 4, 5, 6 etc. (das ist die Divisorreihe) geteilt. Unter den Zahlen, die sich so ergeben, wird die höchste herausgesucht. Für diese "Höchstzahl" erhält die Partei ein Mandat. Unter den verbleibenden Zahlen wird wiederum die Höchstzahl ausgemacht. So wird fortgefahren, bis alle Mandate vergeben sind.
Der Vorteil dieses Verfahrens ist, dass es einfach anzuwenden ist. Außerdem werden alle Mandate in einem Gang vergeben. Als Nachteil wird gelegentlich angemerkt, dass es große Gruppen bevorzugt. Dies gilt vor allem, wenn insgesamt wenig Mandate zu vergeben sind. Bei einem großen Gremium wie dem Bundestag macht sich dieses Problem daher kaum bemerkbar. Dagegen kann es bei der Aufteilung einer Fraktion auf die verschiedenen Landesgruppen vorkommen, dass eine kleine Landesgruppe ein Mandat zugunsten einer großen abgeben muss. Das Verfahren nach d’Hondt wurde in der Bundesrepublik bei der Bundestagswahl 1983 zum letzten Mal verwendet.
Verfahren nach Hare / Niemeyer
Thomas Hare, ein Engländer, und der deutsche Mathematiker Horst Niemeyer haben verschiedene Rechenwege gefunden, die zu genau dem gleichen Ergebnis führen. Das Verfahren wird deshalb als "Hare / Niemeyer" bezeichnet. Die Anzahl der Sitze, die eine Partei erhält, ergibt sich zunächst, indem die Stimmenanzahl einer Partei durch die Zahl der insgesamt gültigen Stimmen dividiert und dann mit der Gesamtzahl der Sitze multipliziert wird. Das Problem ist, dass so nicht alle Sitze vergeben werden. In der Bundesrepublik werden die restlichen Sitze nach der Größe des Restes aufgeteilt. Die Parteien mit den höchsten Nachkommaanteilen erhalten folglich die restlichen Mandate. Dieses Verfahren bringt also den (geringfügigen) Nachteil mit sich, dass nicht alle Mandate auf einmal vergeben werden und zwei Rechengänge notwendig sind. Außerdem begünstigt es im Zweifelsfall kleinere Parteien.
Das beschriebene Verfahren gibt es in vielen weiteren Variationen.
Verfahren nach Sainte-Laguë
Dieses Verfahren geht auf den französischen Mathematikprofessor Jean-André Sainte-Laguë und den Direktor des Staatswissenschaftlich-Statistischen Seminars der Universität Berlin, Ladislaus von Bortkiewicz, zurück. Weiterentwickelt wurde es von Hans Schepers, einem Mitarbeiter der Gruppe Datenverarbeitung im Dienst des Deutschen Bundestages.
Die Sitze des Bundestages werden nach dem sogenannten Divisorverfahren mit Standardrundung zugeteilt. In diesem Fall werden die Stimmen durch einen geeigneten Divisor (Stimmen pro Sitz) dividiert und nach der Standardrundung gerundet. Falls im Ergebnis zu viele Sitze verteilt wurden, muss die Berechnung mit einem größeren Divisor wiederholt werden, im umgekehrten Fall mit einem kleineren Divisor. Das Verfahren hat den Vorteil, dass weder große noch kleine Parteien tendenziell bevorzugt werden. In den meisten Fällen ergibt sich eine identische Verteilung zum Verfahren Hare / Niemeyer.
Es findet vor allem bei der Ausschusssitzbesetzung im Deutschen Bundestag Anwendung, da so sichergestellt werden kann, dass das Gewicht der einzelnen Fraktionen in den Gremien genau ihrem Kräfteverhältnis im Bundestagsplenum entspricht. Das Rechenmodell wurde schon bei den Reichstagswahlen in der Weimarer Republik benutzt. Für 60.000 Stimmen gab es damals einen Sitz, für mehr als 30.000 Reststimmen einen Restsitz.
Der Bundeswahlleiter erklärte 1999, dass das Verfahren nach Sainte-Laguë dem von Hare / Niemeyer und d’Hondt vorzuziehen ist. Verwendet wurde es zunächst nur bei den Landtagswahlen in Bremen (seit 2003) und Hamburg (seit 2008). Dadurch, dass die Mandatsverteilung der Bundestagswahl seit 2009 nach dem Verfahren von Sainte-Laguë erfolgt, hat es sich weiter etabliert. So ist es auch bei verschiedenen Landtagswahlen wie in Nordrhein-Westfalen seit 2010 zum Einsatz gekommen. Doch sollte man die Bedeutung der Umrechnungsverfahren nicht überschätzen. Sie liefern bei einer großen Zahl von Mandaten kaum unterschiedliche Ergebnisse. Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament müssen extrem knapp sein, wenn das Verrechnungsverfahren darüber entscheidet, wer die Regierung stellt.
Sperrklauseln
Einen weitaus größeren Einfluss auf die Auswirkungen eines Verhältniswahlsystems hat eine Sperrklausel. Sie bestimmt, wie viel Prozent der Stimmen eine Partei mindestens erreichen muss, um überhaupt bei der Mandatsvergabe berücksichtigt zu werden. In der Bundesrepublik sind das bei der Bundestagswahl und bei Landtagswahlen fünf Prozent. Sperrklauseln verhindern, dass sehr kleine Parteien ins Parlament einziehen. Sie stabilisieren das Parteiensystem und schützen vor Parteienzersplitterung. Dies ist wesentlich für die parlamentarische Mehrheitsbildung und damit für die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems.
Sperrklauseln wirken in zwei Richtungen: Kämpft eine kleine Partei mit der Fünfprozenthürde, so erhält sie manchmal sogenannte Leihstimmen von Wählerinnen und Wählern, die ihr Überleben sichern wollen. Der FDP wurde mitunter bescheinigt, nur gnadenhalber gewählt zu werden. Das falsche Bild von den geliehenen Stimmen unterstellt, dass die Wähler-Partei-Bindung unumstößlich sei bzw. den Parteien bestimmte Wählerstimmen von vornherein "gehören". Erscheint es dagegen aussichtslos, dass eine Partei die Hürde nimmt, distanzieren sich gewöhnlich viele Wählerinnen und Wähler davon, ihre Stimme zu "verschenken", und wählen lieber eine aussichtsreichere Partei.
Es ist wichtig, für welchen Teil des Wahlgebiets die Sperrklausel angewendet wird. Bei den Bundestagswahlen muss eine Partei fünf Prozent der Stimmen im gesamten Bundesgebiet erreichen. Eine Ausnahmeregelung gilt allerdings dann, wenn die Partei mindestens drei Direktmandate gewinnt. In diesem Fall greift die Fünfprozentklausel nicht, wie in Interner Link: Kapitel 3 (im Buch S. 44 ff.) noch näher erläutert wird.
Natürlich wird an Sperrklauseln Kritik geübt. Kleine Parteien sehen durch sie die "politische Meinungsvielfalt" – ihre Existenz – bedroht. Es wird außerdem eingewendet, Sperrklauseln zementierten das Parteiensystem. Die Etablierung der Grünen in den Achtzigerjahren in der Parteienlandschaft der Bundesrepublik zeigt aber, dass neue Kräfte durchaus Chancen haben. Die Nachteile können zudem nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Sperrklauseln bei der Verhältniswahl als wirkungsvolles Instrument zur Stabilisierung von Parteiensystemen erwiesen haben. In der politischen Diskussion wird der Sperrklausel immer wieder die Funktion zugedacht, extremistischen Parteien den Zugang zu den Parlamenten zu versperren. Dazu trägt sie gewiss bei. Die NPD etwa kam bei der letzten Bundestagswahl 2017 mit knapp 0,4 Prozent der Stimmen nicht in den Bundestag. Bei den Wahlen zu den Landtagen nahmen extremistische, demokratiefeindliche Parteien jedoch häufiger die Hürde.
Beispiel: Weimarer Republik
Wer die abschreckenden Folgen der Verhältniswahl ohne markante Einschränkungen hervorheben möchte, verweist gern auf die Weimarer Republik. Es gab damals ein Verhältniswahlrecht, das neuen Parteien kaum Steine in den Weg legte. 60.000 Stimmen genügten für einen Sitz im Reichstag. Das entsprach einer faktischen Sperrklausel von 0,2 Prozent. Folglich kam es zur Parteienzersplitterung. Die Regierungen mussten sich immer auf Koalitionen mit vielen Parteien bei knapper Mehrheit stützen. Am Ende der Weimarer Republik gelang schließlich die Wahl einer funktionsfähigen Regierung nicht mehr. Die Schuld am Zusammenbruch der Weimarer Republik schreiben manche Autoren der reinen Verhältniswahl zu. Doch sollte man nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Es war eine aufgewühlte, fragmentierte Gesellschaft, die so viele Parteien hervorbrachte. Das Wahlrecht erwies sich lediglich als völlig untauglich, diese Entwicklung zu kanalisieren. Es kann daher nur als ein Faktor von vielen bei der Auflösung der Weimarer Republik und dem Aufkommen des Nationalsozialismus gesehen werden.
Der Deutsche Bundestag wird auch nach dem Verhältniswahlsystem gewählt. Jedoch erfährt es – wie in Interner Link: Kapitel 3 zu zeigen sein wird – eine Vielzahl von spezifischen Eingrenzungen. Schon der Name "personalisiertes Verhältniswahlrecht" verweist darauf.