Die Rechtsstaatlichkeit geriet im Ersten Weltkrieg massiv ins Wanken. Politisches Interesse und vermeintlich notwendige militärische Maßnahmen erwiesen sich als weitaus wichtiger als Gesetze und insbesondere das Verfassungsrecht. Die Enttäuschung war sowohl in nationalen als auch internationalen Beziehungen spürbar. Militarismus, Nationalismus und Gewalt standen in feindlichem Widerstand zum Völkerrecht – lange geltendes Gewohnheitsrecht und internationale Verträge wurden unter dem Vorwand "extremer militärischer Gewalt" missachtet.
Folglich machte sich unter jenen, die an den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit glaubten, große Enttäuschung breit. Milos Vec stellte im zweiten Panel die Kultur- und Mentalitätsgeschichte mit Blick auf das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit und den Glauben an Vertragstreue in den Mittelpunkt und skizzierte die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Dabei kombinierte er Beobachtungen sowohl aus dem nationalen als auch internationalen Bereich: Wie haben Zeitgenossen Bindungen an Rechtsnormen wahrgenommen und wie hat sich diese Wahrnehmung verändert? Kann man nach den enttäuschenden Erfahrungen des 1. Weltkriegs noch an Rechtsnormen und deren Einhaltung und Durchsetzung glauben?
In seiner Analyse der Geistesgeschichte des Völkerrechts unterschied Milos Vec zwischen zwei Polen. Einerseits die Problematik, dass sich um 1900 Erwartungen und Hoffnungen auf ein zukunftsreiches Völkerrecht äußerten, die mit den Gräueln des Ersten Weltkriegs enttäuscht wurden - plötzlich galt es die Anwendung neuer erschreckender Technologien auf den Schlachtfeldern im Krieg zu diskutieren und die Verstöße gegen Gesetz und Menschlichkeit zu rechtfertigen, andererseits die Stärkung des "invisible college of international lawyers" – das Verständnis von Internationalem Recht als Profession. Internationale Rechtswanwälte, die auf Grundlage gegenseitigen Vertrauens in einen gemeinsamen normativen Rahmen auch das Verhalten nach 1918 prägten.
István Kollai, Assistenzprofessor am Institut für Weltwirtschaft an der Corvinus Universität Budapest, beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der gegenwärtigen Stellung Zentral- und Osteuropas im globalen Kontext.
Mit Verweis auf seine Arbeit "Ahead of the Byzantine Empire (Instead of Europe): Anti-Western and Western-Sceptic Historical Narratives in the Hungarian Public Discourse" zeigte Kollai, wie sich der ungarische öffentliche Diskurs von einer ehemals pro-westlichen in eine nunmehr westskeptische Richtung entwickelt hat. Westskeptische Einstellungen hätten, so Kollai, in Ungarn und dessen Bevölkerung keine tiefen soziokulturellen Wurzeln – eher im Gegenteil: Sogar unter autoritären Regimen in der Zwischenkriegszeit oder in den kommunistischen Jahrzehnten blieb die pro-westliche Einstellung erhalten und die europäische Gesellschaft als moralischer Imperativ angesehen.
Unter ungarischen Meinungsführern, deren wesentliches Ziel es ist die Einstellung der Bürger im Land aufzugreifen, wird dieser moralische Imperativ nun massiv in Frage gestellt. Dabei werden Vergleiche zwischen dem bröckelnden Römischen Reich und der "geschwächten" Europäischen Union angestellt, die unter starkem Wanderungsdruck stehen. Der Blick richtet sich nun demnach eher auf Russland, dem byzantischen Pendant.
Von: Lura Juniku