WIDERSTAND UND PROTEST – Zeigt eure Meinung!
Fridays for Future und Co. sind heute gar nicht mehr wegzudenken, aber was ist überhaupt alles erlaubt und wie kann ich mich beteiligen? - Das klären wir heute bei Abdelkratie!
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Wer sich mit Ungerechtigkeit nicht abfinden will, wer die eigenen Interessen und Erfahrungen nicht vertreten sieht, macht sich bemerkbar – mit einer Unterschrift unter einer Petition, mit einem Schild bei einer Demonstration oder durch die Beteiligung an einer Sitzblockade. Auch wenn umstritten ist, welche Formen und welche Anliegen legitim sind - dass sich immer wieder Menschen engagieren, ist der Treibstoff für eine lebendige Demokratie. Demokratie entsteht nämlich nicht nur in Wahlen und in staatlichen Institutionen, sondern auch dadurch, dass sich Menschen für andere einsetzen, dass sie gemeinsam sagen, was falsch läuft. Erst durch den Widerspruch werden gesellschaftliche Probleme erkannt und diskutiert, es wird sichtbar, wo die bestehenden Regeln nicht ausreichen und wo neue Regeln geschaffen werden müssen.
Weil es so wichtig ist, dass die Demokratie von vielen getragen und gestaltet wird, sichert das Grundgesetz allen Bürgerinnen und Bürgern ein Recht auf Widerspruch zu. Drei Freiheiten sollen das sicherstellen: die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.
Meinungsfreiheit heißt, dass jede und jeder einzelne das Recht hat, z.B. mit einem Brief an die Regierung oder in einem Tweet, Kritik zu üben. Begrenzt wird die Meinungsfreiheit erst dann, wenn die Rechte anderer eingeschränkt werden.
Versammlungsfreiheit bedeutet, dass man seine Kritik gemeinsam mit anderen auf die Straße tragen kann, in Kundgebungen, Demonstrationszügen, Fahrraddemonstrationen und vielen anderen Formen, die man unter der Überschrift "Protest" zusammenfassen kann.
Die Vereinigungsfreiheit sichert allen das Recht zu, sich ohne staatliche Eingriffe zusammenzuschließen. Sie ist die Grundlage für eine freie Zivilgesellschaft: Vereine, Gewerkschaften und Verbände, aber auch lockere Zusammenschlüsse, wie Bürgerinitiativen.
Dass wir diese Rechte heute mit wenigen Einschränkungen nutzen können, ist aber nicht nur den Müttern und Vätern des Grundgesetzes zu verdanken. Dass wir etwa selbstbestimmt und selbstorganisiert protestieren können, haben viele Menschen ermöglicht, die in zum Teil erbitterten Kämpfen über viele Jahre dafür gestritten haben. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden Proteste in der Bundesrepublik stark reglementiert und von vielen als Bedrohung angesehen. In der DDR waren selbstbestimmte Proteste kaum möglich. Geändert hat sich das dadurch, dass sich immer wieder Menschen ihr Recht genommen haben.
Das Recht auf Widerstand im Grundgesetz
Das Grundgesetz geht aber noch weiter. Es gibt nicht nur den Rahmen für die Demokratie in Deutschland vor, indem es diese und andere Grundrechte sichert (z. B. das Recht, Asyl zu suchen und Religionsfreiheit) und indem es festlegt, nach welchen Prinzipien der demokratische Staat organisiert sein soll (z. B. freie Wahlen und Gewaltenteilung). Im Grundgesetz ist auch eine Situation vorweggenommen, in der sich jemand daran macht, diesen Rahmen abzuschaffen. Für den Fall, dass irgendeine Organisation oder Gruppe, egal ob staatlich oder nicht-staatlich, auf die Abschaffung des Grundgesetzes hinarbeitet, gilt das Widerstandsrecht. Im Grundgesetz, Artikel 20, Absatz 4, heißt es:
Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Das Widerstandsrecht gibt jeder und jedem das Recht, sich gegen die Abschaffung demokratischer Rechte zur Wehr zu setzen. In welcher Form das stattfindet, ist nicht festgelegt. Es kann auch bedeuten, dass man gegen geltende Gesetze verstößt - bis hin zum Tyrannenmord. Allerdings gilt das Widerstandsrecht ausschließlich in dieser Ausnahmesituation, wenn das Grundgesetz als solches auf dem Spiel steht, und nicht, wenn man mit einzelnen Entscheidungen oder mit der gegenwärtigen Regierung unzufrieden ist. Dazu kommt, dass das Widerstandsrecht nur dann gilt, wenn andere Formen des Widerspruchs unwirksam geblieben sind. Es ist also
ultima ratio - das letzte Mittel zur Verteidigung der Demokratie.
Protest – Widerstand – Gewalt
Auch wenn die im Grundgesetz festgelegten Bedingungen für das Recht auf Widerstand sehr eng gesetzt sind, ist "Widerstand" als Parole bei Protesten oder in sozialen Medien häufig zu hören. Dabei geht es darum, ein Problem als besonders dramatisch darzustellen und die Dringlichkeit zu erhöhen, selbst etwas zu dessen Lösung beizutragen. Wer Widerstand fordert, kann aber auch eine Atmosphäre schaffen, in der die Geltung von Regeln und Gesetzen nicht mehr anerkannt wird. "Widerstand" wurde auch bei der Demonstration von AfD, Pegida und Pro Chemnitz am 1. September 2018 skandiert, an der sowohl der mutmaßliche Mörder des hessischen CDU-Landrats Walter Lübcke als auch Mitglieder der rechtsterroristischen Gruppe "Revolution Chemnitz" teilnahmen.
Es zeigt sich also: Widerstand und Protest sind auch mit der Frage nach Gewalt verbunden. Wer protestiert, wird sich früher oder später überlegen: Welche Regeln müssen anerkannt werden, wenn man seinen Widerspruch zum Ausdruck bringt und welche Regeln dürfen (oder müssen) überschritten werden, um ein Übel abzuwenden? In der Diskussion über Protest und Gewalt ist häufig unklar, was überhaupt unter Gewalt verstanden wird. Ist eine Sitzblockade Gewalt? Ein Farbei? Das Gerempel mit Polizeibeamten?
Spätestens wenn ein Mensch angegriffen wird, dürfte niemand bezweifeln, dass die Grenze zur Gewalt überschritten ist. Tatsächlich gibt es auch in Protestbewegungen immer wieder Gruppen, die Gewalt gegen Menschen legitimieren. Wenn bei vielen der Eindruck entsteht, dass diese Grenzüberschreitung gerechtfertigt ist, um ein höheres Gut zu erreichen, wird es auch wahrscheinlicher, dass einzelne oder Gruppen Gewalt ausüben. Diese Entwicklung ist seit der jüngsten Welle völkischer Proteste zu beobachten, in denen Geflüchtete und nicht-weiße Personen entmenschlicht und als Bedrohung dargestellt werden. Wer eine Notsituation konstruiert, in der das Überleben des deutschen Volks auf dem Spiel steht, legt anderen nahe, dass jede Handlung gerechtfertigt ist, um das zu verhindern.
Aber es gibt auch Lerneffekte. In der ausgehenden Studentenbewegung der 1960er Jahre war die Annahme verbreitet, dass es in der Bundesrepublik eine sozialistische Revolution bräuchte. Menschen in der Wirtschaft, in der Politik und in anderen staatlichen Funktionen wurden zum Feindbild. In den Worten von Ulrike Meinhof, Journalistin und Gründerin der Rote Armee Fraktion, einer Gruppe, die mit Sprengstoffanschlägen, später auch mit Morden, die Revolution herbeiführen wollte, klang das so:
"Wir sagen, natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden."
(Quelle:
Externer Link: https://www.spiegel.de/spiegel/spiegelgeschichte/d-145934236.html)
Die Mordserie der
Rote Armee Fraktion führte in linken Bewegungen zu einem Lernprozess. Angriffe auf Menschen wurden spätestens zu Beginn der 1990er Jahre zu einer roten Linie. Aber auch wenn politischer Mord ein Tabu bleibt, wird diese Linie von kleinen Gruppen immer wieder in Frage gestellt. Insbesondere wenn es um Angriffe auf die Polizei oder auf Neonazis geht, sind immer wieder Stimmen zu hören, die solche Aktionen rechtfertigen.
Die begrenzte Regelverletzung: ziviler Ungehorsam
In einem symbolischen Akt Regeln brechen, weil ein "weiter so" moralisch verwerflich wäre - das ist die Begründung für zivilen Ungehorsam. Definiert wird der als ein angekündigter, in der Regel gemeinschaftlich begangener Regelübertritt, der aber immer begrenzt ist. Andere Menschen werden z. B. nicht gefährdet. Ziviler Ungehorsam ist spätestens seit den 1980er Jahren ein fester Bestandteil der Protestkultur in Deutschland. Als damals Gruppen aus der Friedensbewegung den Zugang zu Militärbasen der USA versperrten, lenkten sie die Aufmerksamkeit auf die Stationierung von Atomraketen in Deutschland, viele der Blockiererinnen und Blockierer wurden wegen Nötigung angeklagt, bis das Bundesverfassungsgericht diese Einordnung in Frage stellte. Seitdem haben sich Aktionen des zivilen Ungehorsams in verschiedenen sozialen Bewegungen etabliert: von den Protesten gegen Atommülltransporte und das Bauprojekt Stuttgart 21 über Sitzblockaden gegen Neonazi-Aufmärsche bis hin zu dem Schulstreik der Fridays for Future.
Doppelt normal – Demonstrationen
Spektakuläre Blockaden oder Angriffe auf Personen - diese Formen des Widerspruchs sind in der Bundesrepublik die Ausnahme. Die überwältigende Mehrzahl von Protesten läuft in eingespielten und allgemein akzeptierten Formen ab. Heute sind Proteste doppelt normal: Zum einen werden sie von politisch Verantwortlichen, von Journalistinnen und Journalisten und von der breiten Bevölkerung nicht als Bedrohung angesehen, sondern als wichtige Form der politischen Einmischung anerkannt. Zum anderen werden sie von immer mehr Menschen und von sehr unterschiedlichen Gruppen genutzt, um Einfluss zu nehmen. Proteste gehören zum politischen Alltag: Jeden Tag finden hunderte Proteste zu unterschiedlichen Themen statt. Der Einfluss von Protesten und damit ihr Erfolg unterscheidet sich sehr stark. Was als Erfolg gilt, ist aber auch abhängig vom Anspruch auf Veränderung. Bei einigen Protesten geht es um eine konkrete politische Maßnahme, z. B. die Verhinderung einer Abschiebung, andere zielen auf grundlegende gesellschaftliche Veränderungen, in dem Fall auf eine andere Asylpolitik. Dabei nehmen Proteste auf mehreren Ebenen Einfluss:
Die Menschen, die protestieren, fühlen sich ermutigt und mit ihren Anliegen nicht allein. Im Protestieren lernen sie, wie Demokratie funktioniert und welche Rolle sie darin spielen können.
Direkt angesprochene Verantwortliche in Wirtschaft und Politik bekommen die Rückmeldung, dass ihre Handlungen ungerecht sind oder die Bedürfnisse von Menschengruppen nicht berücksichtigen.
Die Menschen, die als Zuschauende oder über Medien vermittelt von den Protesten lernen, wägen vorgebrachte Deutungen und Forderungen ab. Unter Umständen ändern sie dadurch ihre Meinung, sie fühlen sich selbst zum Protestieren aufgerufen oder ändern ihre eigenen Handlungen.
Dadurch, dass Proteste nichts Außergewöhnliches mehr sind und massenhaft vorkommen, konkurrieren sie aber auch um Aufmerksamkeit und um Einfluss. Um mit ihrem Anliegen von vielen wahrgenommen zu werden, arbeiten viele Protestgruppen sehr professionell und sie werden kreativ, um z. B. Bilder zu erzeugen, die sich viral verbreiten. Auch wenn man über alternative Medien im Internet und Social Media viele Menschen direkt erreicht, sind professionelle Medien nach wie vor ein wichtiger Faktor. Ohne sie bleibt es schwierig, ein Thema auf die Tagesordnung zu setzen.
ist Soziologe am Zentrum Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin. Er ist einer der Gründer und Vorstandsmitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung, dem knapp 200 Protestforscherinnen und Protestforscher angehören (Externer Link: http://protestinstitut.eu).
Als Stiftungsrat ist Simon Teune außerdem in der Bewegungsstiftung aktiv, die Protestgruppen mit Geld und Beratung unterstützt (Externer Link: http://bewegungsstiftung.de).
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