MENSCHENWÜRDE – Warum ist sie unantastbar?
"Die Würde des Menschen ist unantastbar." So steht es wortwörtlich im Grundgesetz. Menschenwürde muss man sich nicht verdienen oder erarbeiten. Jeder besitzt sie von Anfang an. Doch leider wird die Menschenwürde weltweit trotzdem ziemlich oft angetastet. - Abdelkarim erklärt euch heute, was es mit der Menschenwürde auf sich hat!
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Artikel 1 Grundgesetz
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Menschenwürde: Ein Grundrecht der Nachkriegszeit
Dass das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland mit diesem Artikel über die unantastbare Würde des Menschen beginnt, ist kein Zufall. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hielten nach allem, was sie in der Nazizeit erlebt hatten, eine Vorschrift zum Schutz der Menschenwürde für unerlässlich. Die Idee der Menschenwürde hat eine lange Geschichte. Sie reicht zurück bis in die römische Antike. Zum Verfassungsbegriff und zum Schutzgut eines Grundrechts wurde sie aber erst in der Nachkriegszeit.
Strikt und ausnahmslos: Das Antastungsverbot
Wortlaut und Aufbau des ersten Grundgesetzartikels zeigen: Jeder Mensch hat Würde, und niemand darf die Würde eines anderen Menschen antasten. Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz gilt nicht nur Deutschen, sondern ausnahmslos allen Menschen, ein Leben lang, schon vor der Geburt und selbst über den Tod hinaus. Er muss von allen beachtet werden – vom Staat, aber auch von Privaten. Und er kennt keine Ausnahmen: Eine Antastung der Würde des Menschen, etwa die Folter zur Erzwingung einer Aussage oder eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung ist niemals zu rechtfertigen, auch nicht im Verteidigungsfall und selbst dann nicht, wenn sich durch sie vielleicht das Leben vieler Menschen retten lässt.
Nur an den Staat adressiert: Die Achtungs- und Schutzpflicht
Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz geht über das strikte Antastungsverbot des ersten Satzes hinaus, nimmt aber nur den Staat – also alle demokratisch legitimierten Organe, Einrichtungen, Behörden, Bediensteten und Beauftragten des Bundes und der Länder – in die Pflicht. Der Staat ist verpflichtet, die unantastbare Würde des Menschen auch zu achten und durch geeignete Regelungen und Maßnahmen zu schützen, wenn sie durch Dritte oder prekäre Lebensumstände wie extreme Armut oder schwere Krankheit gefährdet ist, wie es beispielsweise durch die sozialrechtlichen Regelungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums geschieht. Die Vorschrift macht deutlich, dass die vom Grundgesetz verfasste staatliche Ordnung “um des Menschen willen da” ist und “nicht der Mensch um des Staates willen”, wie es im Herrenchiemseer Verfassungsentwurf prägnant hieß. Alles, was der Staat regelt und tut, muss sich danach ausrichten und daran messen lassen.
“Darum”: Die Menschenwürde und die Grundrechte
Die beiden folgenden Absätze des ersten Grundgesetzartikels zeigen, dass Menschenwürde, Menschenrechte und Grundrechte aufs Engste miteinander verbunden sind: “Darum”, um der Würde des Menschen willen, bekennt sich das Deutsche Volk zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten, die allen Menschen um ihrer selbst, um ihrer Würde willen zukommen.
Diese Menschenrechte gewährleistet und konkretisiert das Grundgesetz in den “nachfolgenden Grundrechten” der Artikel 2 bis 19 Grundgesetz als “unmittelbar geltendes” Recht. Weil jeder Mensch Würde hat, ist die freie Entfaltung der Persönlichkeit grundrechtlich geschützt. Weil das Leben die “vitale Basis” der Menschenwürde ist und die Innerlichkeit jedes Menschen, sein Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Dafürhalten und Wollen, leiblich verankert ist, sind das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit grundrechtlich geschützt. Weil alle Menschen in ihrer Würde gleich sind, sind sie auch vor dem Gesetz gleich, sind Männer und Frauen gleichberechtigt, darf niemand wegen unverfügbarer Merkmale wie dem Geschlecht, der Abstammung, dem Glauben oder der sexuellen Identität diskriminiert werden, ist rassistische Diskriminierung untersagt.
Weil der Wortlaut des ersten Grundgesetzartikels insoweit nicht ganz deutlich ist, war lang umstritten, ob auch die Menschenwürde selbst zu den unmittelbar geltenden, gerichtlich durchsetzbaren, verfassungsbeschwerdefähigen Grundrechten gehört. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage mittlerweile geklärt – und den Grundrechtscharakter der Menschenwürde bejaht.
Fundamental: Die Menschenwürde als Teil der Verfassungsidentität
Die Grundsätze des Artikels 1 Grundgesetz sind nach Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz verfassungsänderungs- und nach Art. 23 Absatz 1 Satz 3 Grundgesetz integrationsfest: Wo die Menschenwürde berührt ist, geht es um die Identität der Verfassung. In solchen Fällen kann es keine verfassungsgerichtliche Nachsicht geben, weder aus Respekt vor den verfassungsändernden Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat noch im Interesse der unionsweit einheitlichen Geltung des Rechts der Europäischen Union. Das Bundesverfassungsgericht wacht darüber, dass die Menschenwürde durch Verfassungsänderungen nicht berührt wird, und es prüft in jedem Einzelfall und ohne jede Einschränkung, ob Rechtsakte der Europäischen Union – etwa bei der Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls – die Menschenwürde oder den durch die Menschenwürde unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz verletzen. Wenn das der Fall ist, erklärt es solche Rechtsakte für in Deutschland unanwendbar. Artikel 1 Grundgesetz ist also nicht nur die feierliche, aber folgenlose Präambel des Grundrechtsabschnitts, sondern eine vollwertige Rechtsnorm, die Verhalten vor- und subjektive Rechte zuschreibt. Sie ist für das Grundgesetz identitätsprägend, von grundlegender Bedeutung für die Gewährleistung und das Verständnis der übrigen Grundrechte, strikter als diese formuliert und stärker als diese geschützt.
Schwer zu bestimmen: Das Schutzgut der Menschenwürde
Das Schutzgut des Menschenwürdegrundrechts ist die “Würde des Menschen”, die vom umgangssprachlichen Begriff der Würde, die staatlichen oder religiösen Würdenträgerinnen und Würdenträgern zugeschrieben wird oder in würdevollem Verhalten von Menschen zum Ausdruck kommt, ebenso zu unterscheiden ist wie von den Würdekonzeptionen, die philosophische, theologische und ethische Debatten bestimmen. Rechtswissenschaft und Rechtsprechung tun sich auffällig schwer damit, das Schutzgut des ersten Grundgesetzartikels positiv zu beschreiben und die “Würde des Menschen” von den Schutzgütern anderer Grundrechte abzugrenzen. Für das Bundesverfassungsgericht umfasst die Garantie der Menschenwürde insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität, mit der ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch verbunden ist, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt: Die Würde des Menschen besteht für das Bundesverfassungsgericht darin, dass der Mensch “stets als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt”. Entscheidend ist das “stets”: Auch die Würde von Menschen, die sich ihrer Würde nicht bewusst sind und sie nicht selbst zu wahren wissen oder deren Haltungen und Handlungen in Widerspruch zu der Mehrheitsauffassung in der Gesellschaft stehen, steht unter dem Schutz des ersten Grundgesetzartikels. Auch sie dürfen nicht wie Sachen behandelt werden, auch über sie darf nicht einseitig verfügt werden. Hier bleibt, wenn man genauer hinsieht und die rechtswissenschaftlichen Debatten betrachtet, vieles undeutlich und manches umstritten, ohne dass dies jedoch in der Rechtspraxis zu unüberwindlichen Schwierigkeiten führt.
Rechtsfolgenreich: Menschenwürde in der Praxis
Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Menschenwürdegrundrecht sehr konkrete und weitreichende Konsequenzen gezogen. So hat es etwa formuliert, dass die lebenslange Freiheitsstrafe für Mord überhaupt nur dann mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz vereinbar ist, wenn Verurteilten die rechtlich gesicherte Chance verbleibt, je wieder in Freiheit zu gelangen. Es hat betont, dass die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge nicht aus migrationspolitischen Erwägungen niedriger als das Existenzminimum angesetzt werden dürfen, weil die Menschenwürde, aus der sich in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt, migrationspolitisch nicht zu relativieren ist. Weil die diesen Anspruch fundierende Menschenwürde allen zusteht und selbst durch vermeintlich “unwürdiges” Verhalten nicht verlorengeht, hat das Bundesverfassungsgericht den teilweisen oder vollständigen Entzug existenzsichernder Leistungen wie “Hartz-IV” als Sanktion für die Nicht-Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Bedürftigkeit nur unter sehr strengen Voraussetzungen gebilligt.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Tötung Unschuldiger zur Rettung des Lebens anderer als menschenunwürdige Verzweckung, Verdinglichung und Entrechtlichung kategorisch ausgeschlossen und aus der Menschenwürde des ungeborenen Lebens abgeleitet, dass der Schwangerschaftsabbruch für die gesamte Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen und (straf-)rechtlich verboten sein muss (allerdings werden ärztlich durchgeführte Schwangerschaftsabbrüche in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft nach vorheriger Beratung durch eine anerkannte Beratungsstelle nicht strafrechtlich verfolgt). Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass politische Konzepte, die auf die Ersetzung der bestehenden Verfassungsordnung durch einen an der ethnischen “Volksgemeinschaft” ausgerichteten autoritären “Nationalstaat” zielen, die Menschenwürde aller missachten, die der ethnischen “Volksgemeinschaft” nicht angehören. Aus Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz hat es das allgemeine Persönlichkeitsrecht abgeleitet, das den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten, aber auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben einschließlich der Inanspruchnahme der Hilfe dazu bereiter Dritter umfasst.
Menschenwürde: Mehr als ein “Sehnsuchtsbegriff”
Viele dieser Entscheidungen sind umstritten, weil sie den Gestaltungsspielraum des demokratisch legitimierten Gesetzgebers gravierend beschränken oder weil sie die Unantastbarkeit der Menschenwürde hochhalten, dann aber doch Einschränkungen zuzulassen. Sie zeigen aber, dass die Menschenwürde in Deutschland weitaus mehr ist als ein “Sehnsuchtsbegriff” (Bernhard Schlink): Sie ist – ungeachtet ihrer relativen Unbestimmtheit – der das Grundgesetz prägende und bestimmende Verfassungsbegriff.
studierte Jura in Heidelberg und absolvierte sein Rechtsreferendariat in Bamberg und Karlsruhe. Anschließend war er an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Bonn tätig, wo er mit einer Dissertation zum Menschenwürdebegriff des Grundgesetzes promoviert wurde. Er ist Prodekan und Professor für Öffentliches Recht am Fachbereich Verwaltungswissenschaften der Hochschule Harz in Halberstadt.
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