Ein Volk ist ein irgendwie zusammen in einem Boot hängender Teil der Menschheit. Aber wenn man vom deutschen Volk spricht, wer ist damit alles gemeint? Das erfahrt ihr im heutigen Video.
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Das Volk ist eins und das Volk ist viele
In autokratischen Diktaturen ist es ganz einfach: In ihnen herrscht eine Person über alle anderen. Und diese Person, die gibt es einfach. Sie hat einen Namen, eine Adresse, eine Telefonnummer und – möglicherweise – einen klaren Willen. Wenn man wissen will, welche Regeln gelten sollen und wer was zu tun hat, kann man die Person fragen. In Demokratien ist es dagegen sehr viel schwieriger. In ihnen soll das Volk herrschen. Aber: Das Volk gibt es gar nicht – jedenfalls nicht auf dieselbe Art, auf die es eine Person gibt. Das Volk ist nicht einfach so da, es hat keine Adresse, keine Telefonnummer und keinen klaren Willen, den man kurz per Direktnachricht abfragen könnte. Wenn man Demokratie will, muss man sich deshalb genauer Fragen: Wer oder was ist das Volk? Und was will es eigentlich?
Dabei zeigt sich in mehrfacher Hinsicht, dass das Volk immer eines und zugleich viele ist.
Das Volk ist ein Wort und hat doch viele Bedeutungen
"Das Volk" ist jedenfalls nicht einfach nur ein anderes Wort für "die Bevölkerung". "Die Bevölkerung" bezeichnet die Summe aller Menschen, die dauerhaft auf einem gewissen Gebiet leben. "Das Volk" bezeichnet dagegen etwas anderes. Aber was? Hier zeigt sich der erste Sinn, in dem das Volk zugleich eines und viele ist: Das eine deutsche Wort "Volk" hat mehrere Bedeutungen. Drei davon sind besonders relevant – und im Altgriechischen gibt es für jede ein eigenes Wort.
Das erste dieser drei griechischen Worte heißt Demos. Das ist das Volk der Demokratie – übersetzen könnte man es mit Staatsvolk. Zum Demos gehören alle Bürger_innen des entsprechenden Staates. Aber der Demos ist nicht einfach nur die Summe all dieser einzelnen Bürger_innen. Zu einem Demos werden Bürger_innen nur durch Politik. Idealistisch könnte man sagen: wenn sie alle gemeinsam politisch handeln. Etwas realistischer müsste es heißen: wenn sie in dieselben demokratischen Institutionen eingebunden sind.
Das zweite griechische Wort, das sich mit "Volk" übersetzen lässt, lautet Ethnos. Es steckt in den heutigen deutschen Wörtern Ethnie und ethnisch. Wer von einem Volk im ethnischen Sinne spricht, meint eine Gruppe von Menschen ähnlicher "Abstammung", die sich durch kulturelle, sprachliche oder auch biologische Gemeinsamkeiten auszeichnen – zum Beispiel also durch ähnliche Sitten und Gebräuche. Diese Verwendungsweise des Wortes Volk ist in mancher Hinsicht gefährlich, weil sie Falsches suggeriert: Zweifelsohne kann man Unterschiede zwischen Menschen in verschiedenen Ländern feststellen. Menschen in Indien gestalten ihren Alltag, ihr Familienleben und ihre Arbeitswelt im Durchschnitt anders als Menschen in Deutschland. Aber weder in Indien noch in Deutschland gestalten alle Menschen ihr Leben auch nur annähernd gleich. Viel wichtiger: Es gibt kulturelle Gemeinsamkeiten, die quer zu allen "Ethnien" oder Ländern liegen: Überall auf der Welt gibt es Menschen, in deren Leben bestimmte Kulturgüter (Harry Potter, Shah Rukh Khan, Fußball, Fortnite, Pokémon usw.) sehr wichtig sind, was sie mit anderen Menschen am anderen Ende der Welt verbindet, was ihre Nachbarin aber nicht verstehen kann. Der Glaube, es gebe irgendwo auf der Welt kulturell einheitlich "Völker", die sich klar von anderen "Völkern" unterscheiden lassen, erweist sich somit als Irrtum. Die Idee, dass es solche Völker in einem ethnischen Sinne gibt, wird auch als Ethnonationalismus bezeichnet. Ethnonationalismus kam im 19. und 20. Jahrhundert auf und hat seitdem immer wieder zu Massenmord und Vertreibung geführt. Deshalb empfiehlt es sich, mit dem ethnischen Volksbegriff sehr vorsichtig zu sein – am besten verzichtet man ganz auf ihn.
Als drittes kann man auch den griechischen Ausdruck Hoi Polloi zumindest grob mit Volk übersetzen. Genauer bedeutet Hoi Polloi "die Leute", "das einfache Volk" oder – dann eher verächtlich – "der Pöbel". Während der ethnische Volksbegriff darauf zielt, ein Volk von anderen Völkern zu unterscheiden, zielt der Begriff vom "einfachen Volk" darauf, die Massen gegen die Eliten (Hoi Oligoi) abzugrenzen. In einigen Fällen geschieht das, um die Tugend des Volkes zu loben und die Korruptheit der Eliten anzuprangern, in anderen Fällen, um die stumpfen Massen abzuwerten und die vornehmen Eliten zu loben. Dieser Volksbegriff und seine Entsprechungen – die einfachen Leute, der kleine Mann – tauchen im Alltag oft auf.
Die Tatsache, dass in der deutschen Sprache alle drei Bedeutungen mit dem einen Wort "Volk" bezeichnet werden, ist gefährlich: Sie lädt dazu ein, die Worte miteinander zu verwechseln oder sie in eins zu setzen – sei es mit Absicht oder aus Versehen. Eine solche Verwechslung findet statt, wenn gefordert wird, dass in einer Demokratie eine bestimmte Ethnie das Sagen haben soll, weil sie "das Volk" sei. Dies passiert zum Beispiel dann, wenn einer deutschen Staatsbürgerin, deren Großeltern aus der Türkei eingewandert sind, abgesprochen wird, Teil des deutschen Volkes zu sein, weil sie "ethnisch nicht deutsch" sei.
Das Volk der Demokratie ist vielfältig
Für die Demokratie ist der Volksbegriff zentral. Das merkt man auch an den zentralen Institutionen der Bundesrepublik: An der Fassade des Reichstagsgebäudes, in dem der Deutsche Bundestag sitzt, steht "Dem deutschen Volke". In der Präambel des Grundgesetzes heißt es, dass "sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben" habe. Und deutsche Gerichte sprechen ihre Urteile "im Namen des Volkes". Gemeint ist jeweils das Staatsvolk oder der Demos.
Dahinter steht die Idee der Volkssouveränität, die in Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes festgeschrieben ist: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Volkssouveränität bedeutet, dass alle Gesetze, die auf dem Grundgesetz beruhen, im Parlament beschlossen, von der Regierung ausgeführt und von den Gerichten angewendet werden, Ausdruck des Volkswillens sein sollen.
Das führt zurück zur Frage am Anfang dieses Textes: Was ist ein Volkswille? Woran erkennt man, was das Volk will? Muss jede einzelne Person im Volk etwas wollen, damit es der Volkswille ist? Oder reicht es, wenn mehr als die Hälfte es will? Oder sogar, wenn 40 Prozent dafür, aber nur 30 Prozent dagegen sind? Oder wenn das Volk jemanden gewählt hat, der es will? Wie wird der Wille abgefragt? Wer entscheidet, in welchen Belangen man das Volk nach seiner Meinung fragt? Ähnliche Fragen stellte der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau, der die moderne Idee der Volkssouveränität im 18. Jahrhundert entwickelte – nur dass er nicht vom Volkswillen, sondern vom Allgemeinwillen sprach.
Es gibt verschiedene Arten, auf diese Fragen zu antworten. Eine Antwort gab der antiliberale Staatsrechtler Carl Schmitt. Er war der Ansicht, dass es Demokratie eben nur geben könnte, wenn das Volk einen eindeutigen Willen habe. Damit das Volk aber einen eindeutigen Willen haben könne, müsse es auch homogen sein, müssten also alle Bürgerinnen und Bürger gleich sein. Wenn man Demokratie wolle, müsse man daher dafür sorgen, dass das Volk homogen ist. Im Ergebnis forderte Schmitt damit die oben angesprochene Verwechslung oder Ineinssetzung von Demos und Ethnos: Nur wer ethnisch deutsch ist, soll Teil des deutschen Demos sein. Weil Schmitt nicht akzeptiert, dass das Volk viele ist, will er künstlich Einheit herstellen. Dies ist jedoch in zweifacher Hinsicht eine Scheinlösung. Erstens ist nicht ohne weiteres klar, wer als "ethnisch deutsch" zu gelten hat und wer nicht. Zweitens wird auch ein ethnisch homogenes Volk keinen einheitlichen Willen haben – es wird immer noch interne Interessenkonflikte geben. Entsprechend läuft Schmitts Antwort auf die demokratische Frage auf eine Abschaffung der Demokratie hinaus: Die Entscheidung darüber, wer als Teil des Volkes gelten kann und was der Wille dieses Volkes ist, wird an eine diktatorische Instanz übertragen. Dazu passt, dass Schmitt aktiver Unterstützer des Nationalsozialismus war.
Eine andere Antwort geben liberale und pluralistische Demokratietheorien. Diese nehmen die Tatsache, dass das Volk vielfältig ist und keinen einheitlichen Willen hat, im Gegensatz zu Carl Schmitt, als unabänderliche Tatsache hin – und sie finden das auch gut so. In den allermeisten Fragen stellt es ohnehin kein Problem dar, dass die Menschen Unterschiedliches Wollen. So kann jede Person für sich entscheiden, ob sie am Freitag in die Moschee, am Samstag in die Synagoge, am Sonntag in die Kirche, an allen drei Tagen in Fußballstadien und Großraumdiskos geht oder einfach zu Hause bleibt. Allerdings gibt es einige Fragen, in denen Menschen, die in einer Gesellschaft zusammenleben, sich auf eine Entscheidung einigen müssen, obwohl sich nicht alle einig sind.
Die Reaktion auf die Coronavirus-Pandemie 2019/2020 stellt einen solchen Fall dar. Hier haben verschiedene Menschen verschiedene Interessen und Bedürfnisse: Die einen sind jung und gesund und können mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sie eine Infektion unbeschadet überstehen, die anderen sind alt oder krank und wissen, dass sie in Lebensgefahr geraten, wenn sie sich anstecken. Die einen nehmen Social-Distancing-Politik als wohltuende Entschleunigung des Alltags war, die anderen leiden sehr darunter, sich nicht mehr mit anderen treffen zu können. Einige stehen vor dem finanziellen Ruin, weil sie ihr Geschäft schließen müssen, andere gehen in die Kurzarbeit, wieder andere ins Home-Office und wieder andere arbeiten im überlasteten Krankenhaus. Einige sind überzeugt, dass die Krankheit sehr viele Menschenleben kosten wird, andere haben im Internet Videos gesehen, denen zufolge alles nicht so schlimm wird. All diese Menschen sind Teil des Demos, aber alle wollen etwas anderes – die einen Ausgangssperren, die anderen, dass alle Einschränkungen des alltäglichen Lebens sofort aufgehoben werden.
Im Normallfall können alle für sich entscheiden, ob sie am Samstag in die Synagoge oder ins Fußballstadion gehen, ohne dass dies das Leben der anderen beeinträchtigt. Im Fall einer Pandemie gilt das nicht. Wenn die Gegenmaßnahmen irgendetwas bewirken sollen, müssen sie einheitlich und koordiniert sein. Dasselbe gilt auch für die Fragen, ob wir auf der linken oder rechten Straßenseite fahren oder wie hoch der Spitzensteuersatz ist: Auch hier wollen die einen dies und die anderen jenes. Aber damit wir in einer Gesellschaft leben können, müssen in solchen Fragen einheitliche Entscheidungen getroffen werden. Auch wenn das Volk viele ist, muss in diesen Fragen ein Wille gefunden werden. Denn die Entscheidungen führen zu Gesetzen und diese sollen den Volkswillen ausdrücken.
Aber wie geht das, wenn alle etwas anderes wollen? Die liberalen und pluralistischen Theorien der Demokratie beantworten diese Frage, indem sie den Begriff des Volkswillens stark ausdünnen und sich auf Institutionen und reglementierte Prozeduren verlassen. Dazu zählt insbesondere, dass Regierungen in allgemeinen, freien, geheimen und gleichen Wahlen gewählt werden und auch wieder abgewählt werden können, dass Grundrechte und Minderheiten gegen die Entscheidungen der Mehrheit geschützt sind, dass alles, was die Regierung tut, öffentlich ist sowie öffentlich diskutiert werden kann, und dass alle Entscheidungen in Zukunft auch wieder zurückgenommen werden können. Entscheidungen, die auf diese Weise getroffen werden, gelten dann einfach als Entscheidungen des Volkes – auch dann, wenn möglicherweise die Hälfte der Bürger_innen sie ablehnt.
Die Tatsache, dass viele verschiedene Meinungen existieren, die Entscheidung aber den Volkswillen repräsentieren soll, führt in der politischen Debatte oft dazu, dass alle versuchen, die eigenen Interessen als den Willen des Volkes und die eigene Gruppe als das Volk darzustellen. Die einen verkaufen die Kleinunternehmer_innen als das Volk, die anderen die Arbeitnehmer_innen, die einen die Autofahrer_innen, die anderen die Fahrradfahrer_innen. Das gehört in gewissem Maße zum politischen Spiel innerhalb liberaldemokratischer Institutionen. Damit diese Institutionen funktionieren können, müssen die Gruppen aber am Ende akzeptieren, dass sie überstimmt werden.
Auch diese liberal-pluralistische Antwort auf die Frage der Demokratie kann man für einen wenig befriedigenden Taschenspielertrick halten. Aber anders als Carl Schmitts Taschenspielertrick führt sie nicht in die ethnonationalistische Diktatur.
Herrschaft, Grenzen und Populismus
Trotzdem bleiben auch mit diesem Verständnis von Volk und Volkswillen grundlegende Probleme, von denen ich zum Abschluss drei nennen will.
Erstens erzwingen die liberaldemokratischen Institutionen zwar keine Homogenität. Aber sie können doch dazu führen, dass einige Gruppen in der Gesellschaft alle anderen dominieren. Das passiert zum Beispiel, wenn diejenigen, die besonders reich sind, ihren Reichtum nutzen, um politische Entscheidungen zu beeinflussen. Dann können die Institutionen und Prozeduren genauso liberal und pluralistisch gestaltet sein, wie oben beschrieben, aber im Ergebnis führen sie doch dazu, dass immer dieselben reichen Gruppen Vorteile genießen und immer reicher werden. Einige Kritiker_innen sagen, dass es in den letzten Jahrzehnten in westlichen Demokratien zu solchen Entwicklungen gekommen sei.
Der Populismus kann zumindest teilweise als Reaktion auf solche Prozesse der Entdemokratisierung verstanden werden. Er kann aber auch selbst zum zweiten Problem werden. Auch der Populismus besteht in gewisser Weise in einer Verwechslung zweier Volksbegriffe: Der Populismus kritisiert, dass "die Eliten" sich der Demokratie bemächtigt hätten, und fordert, dass "das einfache Volk" wieder die Macht bekommen sollte. Damit wird gefordert, dass die Hoi Polloi der souveräne Demos werden sollen – oder zumindest, dass sie wieder ihren berechtigten Platz im Demos erhalten sollen. Das kann für eine Demokratie unter Umständen heilsam sein. Es kann aber auch gefährlich werden. Gefährlich ist es vor allem dann, wenn die Institutionen und Prozeduren, die Minderheiten schützen, angegriffen werden oder wenn der Populismus den Demos nicht nur mit den Hoi Polloi, sondern auch ethnonationalistisch mit einem Ethnos identifizieren. Genau dies tun rechtsradikal-populistische Parteien.
Das führt zu einem dritten Problem, nämlich zum Problem der Grenze oder Zugehörigkeit. Auch wenn man den Demos nicht mit dem Ethnos gleichsetzt, muss man sich trotzdem die Frage stellen, wer dazugehört und wer nicht. Diese Frage besteht zumindest, solange es keine einheitliche weltweite Demokratie gibt. Aber es gibt auf diese Frage keine einfache Antwort. Menschen, die in ein Land kommen und dort länger wohnen, müssen irgendwann die Möglichkeit bekommen, Teil des Demos zu werden. Dafür muss es wieder Regeln, Institutionen und Prozeduren geben, die für alle gelten. Wie genau dies funktionieren soll, kann man aber nicht ein für alle Mal festlegen. Deswegen gibt es auch um diese Frage immer Streit.
All diese Institutionen, Regeln und Prozeduren, in denen "das Volk" und "der Volkswille" zustande kommen und in denen diese Probleme bearbeitet werden, unterscheiden sich von einer Demokratie zur nächsten. Sie sind in den USA anders als in Südafrika und so weiter. Auch in diesem Sinne ist das Volk eins und viele.
ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Seit 2018 ist er Koordinator des Promotionskollegs Rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er publiziert in verschiedenen wissenschaftlichen Medien (zuletzt Leviathan und Prokla) sowie auf seinem Blog (Externer Link: blog.florisbiskamp.com).
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