Ein Eklat
Zornesbleich und durch den Bühneneingang verließ am 26. November 1966 Hans-Joachim Lieber, Rektor der Freien Universität Berlin, den Hörsaal A im Henry-Ford-Bau. Rund 600 Studierende blieben mit vielen offenen Fragen zurück und verließen ebenfalls, wenn auch zögerlich, den Hörsaal. Der Rektor hatte den Studierenden zugesagt, mit ihnen über die Themen Studienreform, Studienzeitbegrenzung und Zwangsexmatrikulation zu diskutieren. Doch es war anders gekommen. Die Diskussion verlief schleppend, der Rektor erging sich in unverbindlichen Gemeinplätzen und der Unmut der anwesenden Studierenden wuchs, bis eine Gruppe politisch aktiver Studenten um Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Eike Hemmer überraschend das Podium stürmte, dem Rektor das Mikrofon entriss und ein Flugblatt verlas, in dem harsche Kritik an den Zuständen an der Freien Universität geübt wurde:
"Wir müssen uns herumschlagen mit schlechten Arbeitsbedingungen, mit miserablen Vorlesungen, stumpfsinnigen Seminaren und absurden Prüfungsbestimmungen. Wenn wir uns weigern, uns von professoralen Fachidioten zu Fachidioten ausbilden zu lassen, bezahlen wir mit dem Risiko, das Studium ohne Abschluß beenden zu müssen. Nach fünf Monaten Kollaboration ruft uns der AStA zu diesem Gespräch mit dem Rektor, bei dem der Mensch Lieber verständnisvoll in das Publikum horcht, während der Funktionär Lieber beschämt in der Ecke wartet. VON DIESEM GESPRÄCH HABEN WIR NICHTS ZU ERWARTEN."
Die Berliner Presse glaubte, mit der Störaktion habe die Kulturrevolution an der FU Einzug gehalten. Der Abend schrieb, die "Rote Garde" des Berliner Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) habe das Podium in einer bewusst anarchistischen Aktion gestürmt und die Veranstaltung gesprengt.
Kommunikationsrituale in Unordnung
Jede Revolution zielt nicht nur auf politische Veränderungen, sondern greift tief in die Rituale des Alltags ein und verändert die alltäglichen Verkehrsformen. Sie wendet sich nicht nur gegen eine herrschende Klasse selbst, sondern auch gegen deren symbolische Praktiken. Auch die 68er-Bewegung wollte eine radikale Veränderung der bundesrepublikanischen Verhältnisse erreichen und sympathisierte mit der von Mao und seinen Roten Garden initiierten Kulturrevolution in China. Statt aber gewaltsam gegen einzelne Machthaber und Institutionen vorzugehen attackierten die Aktivisten jene Rituale, in denen ihrer Meinung nach gesellschaftliche Machtverhältnisse gespiegelt und zugleich reproduziert wurden. Dazu gehörten:
Vorlesungen und Seminare, in denen Wissen ex cathedra verkündet und nicht diskursiv verhandelt wurde.
Immatrikulationsfeiern, in denen Studenten kein Rederecht hatten.
Parlamentssitzungen, in denen über, aber nicht mit den Aktivisten debattiert wurde.
Vermeintlich voreingenommene Untersuchungsausschüsse, die nur der Verurteilung der Protestierenden, nicht aber der Auslotung der gesellschaftlichen Ursachen des Protests dienten.
Gottesdienste, in denen zwar Frieden gepredigt wurde, die Gräuel des Vietnamkrieges aber unerwähnt blieben.
Gerichtsverhandlungen, in denen von Angeklagten bei Strafe die totale Unterordnung in die in Gerichten geltenden Verhaltensnormen verlangt wurden.
In den meisten dieser Rituale spielte das Sprechen eine zentrale Rolle und wurde zum zentralen Gegenstand der Kritik. In Vorlesungen begannen die Studenten Fragen zu stellen und forderten Aussprache zu hochschul- und allgemeinpolitischen Themen. In Parlamentssitzungen brachen Protestierende mit der Forderung ein "Wir wollen diskutieren". In Untersuchungs- ausschüssen fingen die Aktivisten an, Gegenfragen an die Ausschussmitglieder zu richten, oder stellten aus Protest gegen die Fragemethoden so lange Rechtsbelehrungsfragen, dass ihre Einvernahme zu einer Farce wurde. In Gottesdiensten stiegen sie auf die Kanzel, um mit der versammelten Gemeinde über den Vietnamkrieg zu diskutieren. Und in Gerichtsverhandlungen schließlich setzten sich die Angeklagten mit dem Rücken zum Gericht, begannen mitten in der Verhandlung Gespräche mit dem Publikum zu führen oder spielten selbst Richter oder Staatsanwalt. Es waren demnach besonders asymmetrische Formen der Kommunikation, also solche Kommunikationsrituale, in denen die freie Rede und Gegenrede durch Tradition oder Macht eingeschränkt waren, die in den Jahren der 68er-Bewegung zum Gegenstand der Kritik wurden.
Was die 68er-Bewegung von ihren Vorläuferbewegungen unterscheidet, ist die Tatsache, dass diese Kritik nicht nur theoretisch formuliert und artikuliert, sondern vor allem effektvoll in Szene gesetzt wurde. Der Protest wurde dort ausagiert, wo die Ursache des Protests direkt spürbar war. Eine Diskussion in einer Vorlesung zu beginnen, war freilich nicht nur Kritik an asymmetrischen Kommunikationsstrukturen in einer machtgesättigten Institution, sondern zugleich der Versuch, ein Kommunikationsritual im Hier und Jetzt zu verändern und nach den eigenen Vorstellungen umzugestalten.
So waren die Jahre um 1968 weniger eine Revolution der Sprache als eine Revolte im Medium der Sprache und eine Neuverhandlung der Formen ihres Gebrauchs. Protest innerhalb von traditionellen Kommunikationsritualen verletzte Kommunikationsregeln und stiftete Unordnung. Allerdings war diese Unordnung häufig nicht Ergebnis eines chaotischen Aktionismus und anarchistischer Spontaneität, sondern war – wie die eingangs geschilderte Szene zeigt – von langer Hand geplant und sorgfältig inszeniert.
Teach-in, Studentisches Seminar und Kommunegespräch
Jede Revolution richtet sich zwar gegen die symbolischen Formen der herrschenden Ordnung, sie bringt aber auch eigene Formen hervor. Und so entwickelten sich auch 1968 Formen der Kommunikation, die Ideale und Werte der Revolte symbolisieren sollten und durch welche die Akteure sich von der Mehrheitsgesellschaft versuchten abzugrenzen.
Frankfurter Buchmesse 1968: Daniel Cohn-Bendit demonstriert auf einem vom SDS organisierten Teach-in gegen die Verleihung des Friedensbuchpreises an den senegalesischen Präsidenten Leopold Sedan Senghor. (© AP)
Frankfurter Buchmesse 1968: Daniel Cohn-Bendit demonstriert auf einem vom SDS organisierten Teach-in gegen die Verleihung des Friedensbuchpreises an den senegalesischen Präsidenten Leopold Sedan Senghor. (© AP)
Symbolisch in besonderer Weise aufgeladen war die Diskussion. Der dem besseren Argument verpflichtete freie Austausch von Meinungen galt als besonders demokratische Praxis. Mit ihr verbunden war die Hoffnung auf Erkenntnisgewinn, auf Selbstaufklärung und auf Überzeugung des politischen Gegners. Sinnfälligen Ausdruck fand das Diskussionsfieber im Teach-in. Das Teach-in war eine Form der politischen Massendiskussion, die ohne Beschränkung des Rederechts auskommen wollte und in der nicht der Diskussionsleiter, sondern alle Teilnehmer demokratisch über Inhalte und Verfahrensfragen entscheiden sollten. Das führte allerdings dazu, dass Teach-ins manchmal ganze Tage dauern konnten.
"Diskussion" und "diskutieren" waren positiv besetzte Schlagwörter, die zur Bezeichnung auch solcher Formen des Gesprächs verwendet wurden, die früher andere Namen trugen. Häufig freilich war der Austausch von Meinungen um 1968 weit entfernt vom Ideal herrschaftsfreier Diskussion. Insbesondere Diskussionen mit politischen Gegnern hatten oft den Charakter von Tribunalen und endeten mit Niederbrüllen und Beleidigungen. Innerhalb der 68er-Bewegung bemühte man sich – angeleitet durch Erkenntnisse aus Werbung und Publizistik – mittels ausgefeilten Argumentationshilfen und Schulungen um eine Professionalisierung der politischen Agitationsarbeit. Doch auch die Gegenseite gab ihren Vertretern Standardformeln für den Meinungsstreit an die Hand: Der CDU-nahe Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) publizierte einen Ratgeber mit dem Titel "Wie diskutiere ich mit einem Linksideologen".
Selbstorganisierte Podiumsdiskussion als Gegenentwurf zur Vorlesung: Studenten diskutieren 1968 an der FU Berlin mit Günther Grass über die Notstandsgesetze. (© AP)
Selbstorganisierte Podiumsdiskussion als Gegenentwurf zur Vorlesung: Studenten diskutieren 1968 an der FU Berlin mit Günther Grass über die Notstandsgesetze. (© AP)
Als Gegenentwurf zu den autoritär empfundenen Vorlesungen und gegen den Seminarstil so mancher Professoren wurden in den Universitäten studentische Seminare etabliert. In ihrem Rahmen sollten Studenten in kleinen Gruppen zu gesellschaftlich relevanten Themen eigenständig Projekte durchführen. In Plenarsitzungen sollten die Ergebnisse der Gruppenarbeiten vorgestellt und ihre Relevanz für eine künftige politische Praxis kritisch diskutiert werden. Allzu häufig verstrickten sich aber die Teilnehmer der Arbeitsgruppen in aufreibende Detaildiskussionen und auch in den Plenarsitzungen konnte wegen der großen Selbstständigkeit in der Themenwahl nur mit Mühe thematische Kohärenz hergestellt werden. Nur selten gelang es den studentischen Seminaren ihren Anspruch einzulösen, selbstbestimmte wissenschaftliche Arbeit mit politischer Praxis zu verbinden.
Fritz Teufel war eines der bekanntesten Gesichter der Kommune I. (© AP)
Fritz Teufel war eines der bekanntesten Gesichter der Kommune I. (© AP)
Parallel dazu entwickelten sich in Kommunen hochritualisierte Gesprächsformen, die symbolisch gegen das Beschweigen und die Tabuisierung bestimmter Themen in bürgerlichen Familien- zusammenhängen gerichtet waren. Kommunegespräche wurden meist durch ein Schwellenritual eingeleitet. Dieses konnte zum Beispiel in einer längeren Schweigepause oder im gemeinsamen Konsum eines Joints bestehen. Kommunegespräche fanden meist regelmäßig und zu festgelegten Zeiten statt und verliefen nach festen Sequenz- mustern: je nach Kommune hatten sie den Charakter eines Reihengesprächs oder auch eines auf eine Person fokussierten Therapiegesprächs. Thematisch blieben die Kommunegespräche auf die gruppendynamischen Prozesse innerhalb der Kommune, auf die Psyche ihrer Mitglieder und auf Politisches beschränkt. Dagmar Seehuber bezeichnete die Gespräche in der Kommune I rückblickend als "Psychomarathons" oder "Psychoterrorsitzungen", während etwa Dieter Kunzelmann sie als solidarische Hilfestellungen zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit erinnert.
Das Kommunegespräch war ungleich erfolgreicher als etwa das studentische Seminar bei der Vergemeinschaftung der Aktivisten. Entscheidend hierfür war der Beteiligungszwang, der für die Kommunegespräche galt. Und zwar in doppelter Hinsicht: Kommunegespräche waren die einzige kommuneinterne Aktivität, bei der die Teilnahme aller Mitglieder erwartet wurde. Zum anderen wurde erwartet, dass alle Kommunarden sich auch tabulos am Gespräch beteiligten. So hatte die Kommune 2 einen einzigen Grundsatz, nämlich "über alle auftauchenden Probleme gemeinsam zu sprechen." So problematisch diese Totalisierung für den Einzelnen gewesen sein mag – ehemalige Kommunarden berichten von psychischen Zusammenbrüchen – so wichtig war sie für die Formierung eines von der Mehrheitsgesellschaft abgekoppelten Milieus, in dem sich alternative Ausdrucksformen entwickelten.
Der Kommunikationsstil im hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu
Rainer Langhans und Fritz Teufel: lange Haare und Vollbart als sichtbares Zeichen für eine unangepasste Lebensform (© AP)
Rainer Langhans und Fritz Teufel: lange Haare und Vollbart als sichtbares Zeichen für eine unangepasste Lebensform (© AP)
In den Kommunen wurde die kommunikative Unordnung in den Alltag integriert. Für ihre Mitglieder lag in der radikalen Veränderung von Lebenspraxen, in der Revolutionierung des Alltags und der "Revolutionierung des bürgerlichen Individuums" (so der programmatische Titel der Dokumentation der Kommune 2 zu ihrem Wohnexperiment) das eigentliche Ziel der Revolte. Und so entwickelte sich in den Kommunen ein alternativer Lebensstil, der sich in seiner Kultivierung von Unordnung deutlich vom Lebensstil der Mehrheitsgesellschaft, aber auch häufig von den Formen der studentischen Aktivisten unterschied.
Diese Unordnung zeigte sich zum einen in der Inszenierung des Körpers. Auch Männer trugen die Haare lang und der in den 1960er Jahren gesellschaftlich geächtete Vollbart wurde zu einem wichtigen Erkennungszeichen für unangepasste Lebensformen. In ihrer Kleidung kombinierten Kommunarden – inspiriert durch die Hippie-Mode – Selbstgemachtes und Altes aus dem elterlichen Kleiderschrank oder dem Second-Hand-Laden wild durcheinander zu einer bunten Collage aus allen erdenklichen Farben und Stilen. Mit der legeren Kleidung wurden auch die Körperhaltungen informeller: Man saß demonstrativ entspannt und legte Füße auf Tische, Sitzflächen und Polster. Das Sitzen auf dem Boden wurde zum Symbol des Lebens in den Kommunen, in denen auf dem Boden liegende Matratzen zum zentralen Möbelstück gerieten. Auch das Verhältnis zum Körper der anderen kam in Unordnung: körperliche Nähe, auch gegenüber kaum bekannten Menschen, wurde zu einem Merkmal des Kommunemilieus: die persönliche Schutzzone wurde gegenüber Berührungen durchlässiger und ermöglichte neue Beziehungsmuster und neue Formen der Sexualität.
APO-PRESS-Kommune (1967): Auf St. Pauli in Hamburg lebte die erste Pressekommune Deutschlands. Im Keller produzierte die Kommune ihre dem SDS nahestehende Publikation. (© Günter Zint)
APO-PRESS-Kommune (1967): Auf St. Pauli in Hamburg lebte die erste Pressekommune Deutschlands. Im Keller produzierte die Kommune ihre dem SDS nahestehende Publikation. (© Günter Zint)
Mit diesem Lebensstil korrespondierte ein Kommunikationsstil, der durch Informalität, Emotionalität, Subjektivität und Vagheit geprägt war. In den erhaltenen Gesprächsprotokollen aus Kommunen finden sich beispielsweise – anders als in Gesprächsprotokollen aus den universitären Milieus – für die gesprochene Sprache typische Verkürzungen durch Laut- oder Silbenweglassungen: "was" statt "etwas", "ne" statt "eine" oder "weißte" statt "weißt du". Diese sprechsprachlichen Phänomene finden sich auch in den Protokollen wieder, was ein Beleg dafür ist, dass sie absichtlich zur Stilisierung von Informalität eingesetzt wurden.
Der Kommunikationsstil der intellektuellen Avantgarden
Ganz anders klangen dagegen die Gespräche in den studentisch geprägten politischen Verbänden und den politischen Clubs. Schon äußerlich unterschieden sich die Aktivisten deutlich von ihren Mitstreitern aus den Kommunen.
Sprache als zentrales Medium der Unterscheidung: SDS-Aktivist Jürgen Krahl während der Frankfurter Uni-Besetzung 1968. (© AP)
Sprache als zentrales Medium der Unterscheidung: SDS-Aktivist Jürgen Krahl während der Frankfurter Uni-Besetzung 1968. (© AP)
Auch sie verweigerten sich zwar einer aufstiegsorientierten bürgerlichen Kleidung und verzichteten meist auf Kostüm oder Anzug. Doch betrieben sie keine ostentative Stilisierung ihres Äußeren, sondern machten die Sprache zum zentralen Medium ihrer sozialsymbolischen Unterscheidung.
In langen Sätzen, die mit Fachvokabular aus Soziologie, Psychologie und Marxismus gespickt waren, verhandelten sie politische Themen. Eines ihrer Sprachrohre war Rudi Dutschke, zentrale Figur und intellektueller Vordenker des SDS, dessen Sprachstil paradigmatisch für den Kommunikationsstil der intellektuellen Avantgarden steht. Während einer Podiumsdiskussion in der Evangelischen Akademie Bad Boll im Februar 1968 sagte er etwa: "Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft hat doch gerade ihre Stärke darin, dass jede Gruppe diskutieren darf. Das ist eine Stärke, die wir in der Tat nicht beseitigen wollen, denn sie ist unsere Basis unserer Arbeit und die Basis unserer Diskussion, aber aus diesem Pluralismus der Meinungen, der ergänzt wird eigentlich durch einen Pluralismus der Oligomonopole in der materialistischen Basis der Gesellschaft, aus dieser Gesamtheit von Pluralismen kommt nicht notwendigerweise die Veränderung, sondern ist im Grunde die Harmonie, die Harmonie der Repression gewährleistet."
30. Januar 1968: Rudi Dutschke und der FDP-Politiker Ralf Dahrendorf diskutieren die Frage, ob Veränderungen in der Bundesrepublik nur auf revolutionärem oder aber auch auf parlamentarischem Wege erreichbar seien. Foto: AP (© AP)
30. Januar 1968: Rudi Dutschke und der FDP-Politiker Ralf Dahrendorf diskutieren die Frage, ob Veränderungen in der Bundesrepublik nur auf revolutionärem oder aber auch auf parlamentarischem Wege erreichbar seien. Foto: AP (© AP)
Mag hier noch das theoretisch geschulte Publikum die Wortwahl und syntaktische Komplexität der Äußerung rechtfertigen, so zeigt das folgende Zitat aus einer Rede vor Schülern in Baden-Baden, dass die Sprache vor allem zur Symbolisierung einer Protestidentität eingesetzt wurde und weniger auf Verständigung mit möglichen Adressaten zielte: "Der Faschismus steckt in unserer Struktur, die Struktur ist kapitalistisch, und die haben wir zu stürzen, um die wirklichen Grundlagen des deutschen Faschismus zu beseitigen und eine demokratische Gesellschaft in Deutschland endlich einzuführen, die nicht identisch ist mit dem, was heute in der DDR ist, sondern eine neue Struktur, geschaffen von Menschen, die nicht mehr bereit sind, sich manipulierenden Eliten auszuliefern, sondern ihre Interessen in die eigene Hand nehmen, über ihr eigenes Schicksal bestimmen und nicht mehr zulassen, dass sie zu Objekten der Herrschaft von CDU, NPD, SPD und anderen restaurativen Cliquen wird." Dieser Stil repräsentierte im Verbund mit häufigen Zitaten aus marxistischen Klassikern, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen einen elitären Führungsanspruch. Dieser leitet sich her aus intellektueller Überlegenheit über politische Gegner und einem Vorsprung an wissenschaftlich begründeten Erkenntnissen – meist aus den Theorien des Marxismus.
Dass diese Sprache nicht allen verständlich war, führte schon 1968 dazu, dass zahlreiche Fremd- und Schlagwörter der außerparlamentarischen Opposition wie "Aktion", "Anarchie / Anarchismus", "autoritär / Autorität", "Establishment / etabliert", "Faschismus / faschistisch/ faschistoid", "Go-in / Love-in / Sit-in / Teach-in", "Hearing", "Kapitalismus / Spätkapitalismus", "Manipulation / manipulativ" oder "Repression / repressive Toleranz" in einem "Sprachführer durch die Revolution" und einem " Revolutions-Lexikon" der Öffentlichkeit erklärt wurden.
Dennoch muss an dieser Stelle betont werden, dass die These, wonach die 68er-Bewegung schon ihrer unverständlichen Sprache wegen die Massen nicht erreichte, zu undifferenziert ist. Untersuchungen von SDS Flugblättern an die Bevölkerung zeigen, dass SDS-Aktivisten durchaus ihre Sprache den Adressaten anpassten und ihren ironisch oft als "Soziologenchinesisch" bezeichneten Kommunikationsstil nur in verbandsinternen Debatten verwendeten.
1968 und die sprachgeschichtlichen Folgen
Der Kommunikationsstil der Avantgarden blieb allerdings eine Episode in der Sprachgeschichte des Deutschen. Er lebte fort in den zahlreichen linken Kaderorganisationen, die sich nach dem Abebben der breiten Mobilisierung nach 1968 formierten. Dagegen erwiesen sich Kommunen und ihre säkularisierte Variante, die Wohngemeinschaft, als das erfolgreichere Modell der Vergemeinschaftung. Sie entwickelten sich zum organisatorischen Rückgrat politischer Aktivitäten im sich in den 1970er Jahren formierenden Alternativmilieu, aus dem heraus sich die Neuen Sozialen Bewegungen rekrutierten. Zugleich erwies sich ihr Kommunikationsstil als anschlussfähiger für weitere Kreise der Gesellschaft als der sperrige und elitäre Jargon der intellektuellen Linken.
Rudi Dutschke auf dem Parteitag der "Grünen" 1979: Kommunikationsstil und inhaltliche Ausrichtung der neugegründeten Partei waren stark durch '68 beeinflusst. (© AP)
Rudi Dutschke auf dem Parteitag der "Grünen" 1979: Kommunikationsstil und inhaltliche Ausrichtung der neugegründeten Partei waren stark durch '68 beeinflusst. (© AP)
Allerdings dauerte es bis in die 1980er Jahre, bis der Kommunikationsstil des Alternativmilieus einen Einfluss auf den Sprachgebrauch der Mehrheitsgesellschaft entfaltete. Der Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 war ein wichtiges Zeichen für die Re-Integration des Protestmilieus in die etablierte politische Ordnung der Bundesrepublik. Parallel dazu avancierte das Alternativmilieu zu einem hegemonialen Milieu, dessen symbolische Formen und Sprachgebrauchsweisen einen wichtigen Einfluss auf andere soziale Milieus entfalteten.
So zeigen sich seit den 1980er Jahren klare Tendenzen zur Informalisierung des öffentlichen Sprachgebrauchs. In Zeitungen etwa finden sich vermehrt umgangssprachliche Wendungen – zuerst freilich in der TAZ, einem publizistischen Ableger des Alternativmilieus. Aber auch im Anstandsdiskurs, in Benimmbüchern und Ratgebern für gutes Benehmen, ist eine Abkehr von formellen Formen des sprachlichen Umgangs zu beobachten: Sprachliche Formen der Ehrerbietung etwa werden aufgegeben und stattdessen sprachliche Inszenierungen von Nähe und Vertrautheit empfohlen. Statt wie in den 1960er Jahren mit "Hochachtungsvoll", schließt man Briefe standardmäßig "mit freundlichen Grüßen", häufig auch "mit lieben Grüßen". Die Emotionalität, mit der man um 1968 hoffte, einen neuen, zärtlicheren Menschen zu schaffen, kam allmählich in der Mehrheitsgesellschaft an. Freilich nicht als authentisches Gefühl, das es auch schon in der 68er-Bewegung nur selten gewesen war, sondern als Inszenierung von Emotionalität und Nähe.
Die Geschichte der 68er-Bewegung aus der Perspektive der Sprache und ihres Gebrauchs ist demnach keine Geschichte einer Zäsur, einer Stunde Null oder einer Zeitenwende. Vielmehr ist sie die Geschichte der Entstehung eines neuen kommunikativen Stils, der im Zuge seines Eindringens in die Mehrheitsgesellschaft eine Umwertung erfuhr. Intendiert als Ausdruck authentischer Gefühle und solidarischer Nähe, wurde er zu einem Kommunikationsstil der inszenierten Nähe, zur Verkumpelung zum Ausdruck eines doing buddy umgewertet, der noch heute den Sprachgebrauch prägt.
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