Als im März 2010 die Hartz-IV-Debatte erneut hochkochte, warf der Kabarettist Michael Lerchenberg dem FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle vor, er wolle Hartz-IV-Empfänger in einem mit Stacheldraht umgebenen Lager sammeln, über dessen Eingang der Satz stehe: Leistung muss sich wieder lohnen. Daraufhin bezeichnete Charlotte Knobloch, die Vorsitzende des Zentralrats der Juden, "Scherze, die das Leid der Opfer in den Konzentrationslagern verharmlosen oder gar der Lächerlichkeit preisgeben" als "eine Schande"; die bayerische FDP-Generalsekretärin Miriam Gruß forderte von Lerchenberg eine sofortige Entschuldigung. Auch Westerwelle selbst wies die "Nazi-Vorwürfe" empört zurück: "Scharf kritisiert zu werden, gehört zu meinem Amt dazu. Mit einem KZ-Wächter verglichen zu werden, geht zu weit", schrieb Westerwelle in einem Brief. Das Beispiel zeigt, dass oft nicht einmal die konkrete Verwendung eines belasteten Wortes notwenig ist, sondern die bloße Assoziation ausreicht, um eine sprachliche Auseinandersetzung auszulösen.
NS-Vokabular und NS-Vergleiche
NS-Vokabular und NS-Vergleiche, also die Übertragung eines Wortgebrauchs im metaphorisch-vergleichenden Sinn, werden noch heute teils inflationär verwendet. Woran liegt das? Während einerseits nach 1945 ein Großteil des NS-Vokabulars unterging bzw. als Vermeidungsvokabular tabuisiert wurde, wurden andererseits viele NS-Vokabeln oder als NS-Vokabular deklarierte Ausdrücke weiterverwendet – entweder unreflektiert oder aber als NS-Wortschatz gekennzeichnet und zum Teil als Diffamierungs- und Vorwurfsvokabeln oder Stigmawörter eingesetzt.
Diese Praxis des instrumentalisierenden Gebrauchs von NS-Vokabular – also etwa Personen-Vergleiche (z.B. Hitler- oder Goebbels-Vergleiche), Vergleiche mit Methoden (z.B. Machtergreifung, Gestapo, Anschluss), Institutionen (z.B. SA, SS, Wehrmacht), Verbrechen (z.B. Konzentrationslager, Euthanasie) oder Gebietsansprüchen (Großdeutschland) der Nationalsozialisten – zeigt nicht nur, wie brisant der sprachliche Rückbezug auf die NS-Vergangenheit ist. Sie zeigt auch, dass diese "belasteten" Wörter, also Ausdrücke, die negative Assoziationen an die NS-Zeit wecken, im politischen Tagesgeschäft zumeist nicht historisch-aufklärend verwendet werden. Allzu oft geht es nicht darum, vor ihrem Gebrauch und der damit befürchteten Weiterverbreitung der mit ihnen verknüpften Gesinnung zu warnen. Sie werden nicht nur als legitime "Zitatwörter" oder warnend bzw. gesinnungskritisch im Sinne einer "sprachlichen Bewältigung der Vergangenheit" gebraucht, sondern leichtfertig oder absichtlich eingesetzt, um die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen und/oder um unliebsame Zeitphänomene, den politischen Gegner bzw. seine Haltung, Programmatik oder Handlungen in schärfster Form zu kritisieren und diskreditieren. So verglich etwa der Chef des Münchener Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, im Oktober 2008 im Berliner Tagesspiegel die Managerschelte in Folge der Wirtschaftskrise mit der Judenverfolgung: Damals habe es "in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager".
Historischer Abriss
Diese Sprachpraxis hat eine lange Geschichte. Sie beginnt schon in der frühen Nachkriegszeit, als 1947 der zu NS-freundliche Sonderminister für Entnazifizierung (Alfred Loritz) etwa vom SPIEGEL als "blonder Hitler" [1.3.1947] tituliert wird. Im in der frühen Nachkriegszeit beginnenden und sich schnell zuspitzenden Kalten Krieg war es in den Medien wie auch parteiübergreifend möglich und üblich, Ausdrücke wie KZ, Gestapo, oder SS in Vergleichen als Vorwurfs- und Diffamierungsvokabeln zu verwenden: Die NEUE ZEITUNG bezeichnete z.B. 1948 die neu gegründete Abteilung K5 der Kriminalpolizei in der SBZ als "Gestapo der Ostzone" [NEUE ZEITUNG, 15.7.1948]. Die ZEIT charakterisierte 1950 das neu geschaffene Staatssicherheitsamt (SSA) der DDR stigmatisierend als "SSA statt SS und SA" [DIE ZEIT, 2.3.1950], und die RHEINISCHE POST diffamierte Walter Ulbricht, den stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, 1949 als "Gestapochef" [RHEINISCHE POST, 2.11.1949]. Die in der SBZ als Kriegsgefangenen- und Internierungslager weitergeführten ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald, Sachsenhausen und Fünfeichen wurden diffamierend als Ostzonen-KZ bezeichnet.
Diese Vergleichspraxis setzte sich während der gesamten fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre fort. Am 13.8.1961, dem Beginn des Mauerbaus, erklärte der regierende Bürgermeister Berlins, Willy Brandt (SPD), "die Maßnahmen" seien "ein empörendes Unrecht", denn sie "bedeuten, daß mitten durch Berlin nicht nur eine Art Staatsgrenze, sondern die Sperrwand eines Konzentrationslagers gezogen" [Externer Link: zur Erklärung auf chronik-der-mauer.de] würde. Den Vorsitzenden des Staatsrats der DDR, Walther Ulbricht, bezeichnete die RHEINISCHE POST als "KZ-Chef der Zone" [RHEINISCHE POST, 26.8.1961] und die DDR als "Ulbrichts großes Konzentrationslager" [RHEINISCHE POST,17.8.1961].
1976 erstritt sich Fernsehmoderator Bernhard Grzimek das Recht, die Käfighaltung von Legehennen mit dem Ausdruck KZ-Eier kritisieren zu dürfen, in den Abtreibungsdebatten wurden abtreibende Frauen als Massenmörderinnen, die Abtreibung als Holocaust, Embryocaust oder Babycaust diffamiert, und seit 1979 verwenden Atomkraftgegner Parolen wie "Gorleben ist Holocaust".
In einer Fernseh-Debatte am 12. Mai 1985 bezeichnete Willy Brandt den CDU-Generalsekretär Heiner Geißler als "seit Goebbels schlimmsten Hetzer in unserem Land". Im Jahr 1986 verglich Bundeskanzler Kohl den sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow mit Goebbels. Gorbatschow sei "ein moderner kommunistischer Führer, der sich auf Public Relations versteht. Goebbels, einer von jenen, die für die Verbrechen der Hitler-Ära verantwortlich waren, war auch ein Experte für Public Relations" [Externer Link: helmut-kohl.de].
Im Bundestagswahlkampf 1986/87 entfaltete sich mit der Aussage Helmut Kohls, die DDR halte Menschen "in Gefängnissen und Konzentrationslagern" interniert [Externer Link: www.hdg.de/lemo], eine breite öffentliche Debatte. Weite Teile der Öffentlichkeit reagierten mit heftigen Vorwürfen und Ablehnung des "Nazibegriffs". Die niederländische Anne-Frank-Stiftung warf Kohl vor, "er trage zur Bagatellisierung von Verbrechen bei, die in der Geschichte einmalig seien." [NRZ, 8.1.1987] Ähnlich kommentierte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin, Heinz Galinski: "Wer diese schrecklichen Geschehnisse der Vergangenheit mit heutigen Ereignissen vergleicht, geht einen gefährlichen Weg", einen Weg, "Vergessen zu predigen und die Vergangenheit zu verharmlosen." [TAZ, 6.1.1987] Der aus der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann bezeichnete diese Vergleichspraxis als "eine Verhöhnung der Millionen Opfer in den faschistischen Konzentrationslagern" [NRZ, 8.1.1987] und als eine "Verharmlosung der Nazi-Verbrechen" [TAZ, 8.1.1987].
Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung über den gesellschaftspolitischen Umgang mit der Immunschwächekrankheit Aids verwendeten Ende der achtziger Jahre die Befürworter rigoroser Zwangsmaßnahmen zur Eindämmung der Krankheit umstrittene NS-Vokabeln, um diese politische Programmatik zu legitimieren und durchzusetzen. Sie forderten z.B. eine staatliche Auslese, sprachen von absondern [DER SPIEGEL, 9.2.1987], von konzentrieren [DER SPIEGEL, 16.3.1987], von Entartungen, die ausgedünnt [DER SPIEGEL, 2.3.1987] werden müssten oder von Seuchenherden, die auszumerzen [STERN, 19.2.1987] seien. Kritiker dieser Politik befürchteten die Installation einer Aids-Gestapo [TAZ, 9.12.1988], ein Wiederaufleben des Begriffs lebensunwertes Leben und staatlicher Euthanasieprogramme [DIE ZEIT, 27.2.1987], eine Endlösung für AIDS-Betroffene [TAZ, 21.5.1987] und die Einrichtung von Aids-KZs [DER SPIEGEL, 25.5.1987].
Seit Ende der achtziger Jahre wurde in den Debatten über die Möglichkeiten der neuen Pränataldiagnostik bzw. Präimplantationsdiagnostik immer wieder die NS-Termini lebensunwertes Leben und Euthanasie verwendet, mit denen die Nationalsozialisten die Sterilisation und Tötung "geistig oder körperlich Minderwertiger" bezeichneten.
2002 soll die damalige Justizministerin Herta-Däubler-Gmelin US-Präsident George Bush mit Hitler verglichen haben und musste daraufhin ihr Amt aufgeben. Im selben Jahr sorgte auch der "Judenstern"-Vergleich des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch für Empörung: Koch kritisierte Ver.di-Bundeschef Frank Bsirske dafür, in der Debatte um die Vermögenssteuer Namen reicher Deutscher genannt zu haben. Dies sei eine neue Form "von Stern an der Brust", so Koch in einer Landtagsdebatte am 12. Dezember 2002 [TAZ, 13.12.2002]. Am 3. Oktober 2003 hielt der Bundestags-Abgeordnete Martin Hohmann in Neuhof bei Fulda eine Rede, die zum Skandal wurde, "(…) weil der Redner judenfeindliche Klischees bedient, weil er antisemitische Ressentiments, Vorurteile und Feindbilder in seiner Beweisführung genutzt hatte". (Benz, 2004, S. 156) In seiner Rede operierte Hohmann auch mit dem Begriff des "Tätervolks": "Nach der detaillierten Schilderung 'jüdischer' Menscheitsverbrechen durch die Erfindung und Durchsetzung des Bolschewismus, mit der 'die Juden' zum Tätervolk definiert werden könnten, erklärt Hohmann dann in einer rhetorischen Volte, wenn die Juden nicht als Täter wahrgenommen würden, dann seien die Deutschen auch nicht schuldig." (Benz, 2004, S. 158)
2005 kam es zu erregten Debatten, als Oskar Lafontaine am 14. Juni bei einer Kundgebung in Chemnitz von "Fremdarbeitern" sprach, 2007 sorgten die Aussage des Kölner Kardinals Joachim Meisner über eine "Kultur, die entartet" [TAGESSPIEGEL, 16.9.2007] und der Pseudo-Autobahn-Vergleich der ehemaligen Tagesschau-Sprecherin Eva Hermann [BERLINER MORGENPOST, 12.10.2007] für wochenlange öffentliche Debatten. Und 2009 brachte der Augsburger Bischof Mixa "die Zahl der Holocaust-Opfer mit den in Deutschland durchgeführten Abtreibungen in Verbindung" [RHEINISCHE POST, 3.3.2009].
Fazit
Wie dieser nur sehr kurze und notwendigerweise unvollständige Abriss zeigt, werden NS-Vokabular (oder nur als solche aufgefasste Wörter) und NS-Vergleiche schon seit langem in der politischen Auseinandersetzung verwendet. Die Zunahme dieser Sprachpraxis während der vergangenen Jahrzehnte, die geschichtliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die allmähliche Entstehung eines gesellschaftspolitischen Konsenses über die Unvergleichbarkeit der NS-Verbrechen führte zugleich aber auch zur Entwicklung einer öffentlichen Kritik am instrumentalisierenden Gebrauch dieser als "unangemessen" betrachteten Vokabeln und zu einem eigenen Kritikwortschatz mit Ausdrücken wie unvergleichbar, belastete Wörter, relativieren, verharmlosen, bagatellisieren, verniedlichen und Verhöhnung der Opfer.
Inzwischen hat sich in der öffentlichen Kommunikation ein festes Handlungsschema etabliert: Nach dem – gewollten oder fahrlässigen – Tabubruch durch die Verwendung eines "belasteten" Wortes oder eines NS-Vergleichs wird dieser Gebrauch in den Medien als "unangebracht" kritisiert, da er den gesellschaftlichen Konsens über die Einzigartigkeit der NS-Verbrechen verletzt. Daraufhin folgt unweigerlich eine öffentliche Entschuldigung, das Eingeständnis eines Irrtums oder die Behauptung, man habe die Äußerung gar nicht getätigt, gar nicht vergleichen oder in Beziehung setzen wollen.
Hier zeigt sich – zum Teil bei den gleichen Sprechergruppen – das Auseinanderfallen von öffentlich vertretener Norm und tatsächlichem Sprachverhalten. Das Streitthema "Vergangenheitsbewältigung" wird im politischen Geschäft der "Bewältigung der Gegenwart" von allen Parteien und gesellschaftlich relevanten Gruppierungen ausgenutzt. Trotz der inzwischen ritualisierten, geradezu reflexhaft gewordenen öffentlichen Kritik erfreut sich die Benutzung von NS-Vokabular und NS-Vergleichen in der öffentlichen Kommunikation stetig wachsender Attraktivität. Diese immer noch zunehmende Inflationierung führt im Resultat aber nicht nur zu einer Relativierung der NS-Verbrechen, sondern auch dazu, dass sich dieser Sprachgebrauch allmählich "abnutzt". Je häufiger NS-Vokabular und NS-Vergleiche eingesetzt werden, desto alltäglicher erscheinen sie und desto weniger zuverlässig funktioniert ihr Einsatz als "Eyecatcher" und "Waffe" in der politischen Auseinandersetzung. Die gezielte sprachliche Normverletzung sichert nicht mehr automatisch die öffentliche Aufmerksamkeit. Ablesen lässt sich das unter anderem daran, dass inzwischen eine Vielzahl solcher sprachlichen "Entgleisungen" von den Medien nur noch vermeldet, jedoch nicht mehr kritisch kommentiert werden und dass neue Bildspendebereiche wie etwa die DDR oder die Stasi (z.B. Stasimethoden) auftauchen.
Literatur
Benz, Wolfgang: Was ist Antisemitismus? Bonn 2004 (Lizenzausgabe für die Budneszentrale für politische Bildung).