Der Begriff "Ideologie" ist ein besonders schillernder und interessanter Begriff, weil mit ihm die Frage nach Objektivität und Wahrheit unmittelbar verbunden ist. Nicht nur in der Alltagssprache, mitunter auch in wissenschaftlichem und politischem Kontext ist mit der Behauptung, eine Person vertrete eine Ideologie, eine Abwertung des jeweiligen Standpunktes oder sogar der jeweiligen Person beabsichtigt. Die so bezeichnete Einstellung soll herabgesetzt werden, indem ihr zum Beispiel ein dogmatisch-totalitärer Herrschaftsanspruch oder eine intolerante Gesinnung unterstellt wird.
Wie ist ein solcher Wortgebrauch möglich, wenn (doch) das Wort Ideologie im etymologischen Sinne völlig unverdächtig nur auf die 'Lehre von Ideen' verweist? Inwiefern gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Ideen haben bzw. eine Ideologie vertreten und wie ist er zu bestimmen?
Für die Beantwortung dieser Fragen ist es hilfreich, einen kurzen und zielgerichteten Blick in die jüngere Geschichte zu werfen. Denn Worte haben nicht per se Bedeutung, vielmehr schreiben Menschen Worten im konkreten Sprachgebrauch Bedeutung zu, "machen sie mit Worten Bedeutung" auf Basis ihrer bisherigen Kommunikationserfahrungen. Im Folgenden werden nur die beiden Eckpunkte eines sich unverträglich gegenüber stehenden Gegensatzes skizziert.
Ideologie, Wissen, Wahrheit
"Während Marx und Engels noch die Möglichkeit, ideologische Verzerrungen der Wahrnehmung zu durchschauen, also Ideologiekritik zu betreiben, konstatieren" (Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie 1998; S. 228), so vertritt Karl Mannheim (1929) in seinem Werk Ideologie und Utopie die wissenssoziologische Auffassung, alles Denken sei standortabhängig und ideologisch. Diese Auffassung ist letztlich kompatibel mit poststrukturalistischen Auffassungen, die sich von der Vorstellung, dass man allgemein gültige Wahrheiten und "harte" Fakten entdecken könnte, abkehren und stattdessen das Ringen um das Richtige als einen Aushandlungsprozess in Diskursen verstehen. In diesen Diskursen versuchen Akteure Geltungsansprüche von Sichtweisen durchzusetzen, indem sie Gültigkeitsbedingungen von Aussagen im gesellschaftlichen Diskurs zu etablieren versuchen.
Im philosophischen und sprachtheoretischen Kontext steht der Ideologiebegriff in einem Spannungsverhältnis zu dem Begriff des Wissens und dem der Wahrheit. Das Begriffsfeld eröffnet den Spielraum, dass es zum einen so etwas wie unzweifelhaft richtiges Wissen und zum anderen so etwas wie "unwirkliches Wissen" geben muss. Damit sind wir angelangt beim Problem des Erkennens und bei den Bedingungen, Erfahrungen zu machen. Die Frage nach den Dingen an sich, dem Sein, wird seit Immanuel Kant ersetzt durch den Blick auf die Formen der Anschauung (Raum, Zeit) und durch die Kategorien des Verstandes, welche unsere Sichtweise prägen.
Erkennen, Erkenntnis und Erfahrung
In diesem Zusammenhang stellen sich zwei Fragen. Erstens: Kann man die Wirklichkeit ohne Vorwissen und Voreinstellung, also gewissermaßen unvoreingenommen wahrnehmen? Zweitens und im Anschluss daran lässt sich fragen: Können wir nur denken, wofür wir schon (a priori) Kategorien, Begriffe oder andere mentale "Schubladen" haben, wie die vorherrschende philosophische Sichtweise seit Immanuel Kant proklamiert?
Die erste Frage ist klar zu verneinen. Unsere Wahrnehmungen sind stets beeinflusst von Vorwissen, Einstellungen, Erwartungen, kulturellen Prägungen und all dem, was wir bereits zu wissen glauben. Man denke nur daran, dass wir zum Beispiel nach Medienberichten oder Medienkampagnen über Obdachlose auf einmal viel mehr Mitmenschen in den Städten wahrzunehmen glauben, von denen wir vermuten, sie könnten zu dieser Gruppierung gehören.
Die zweite Frage berührt die philosophische Grundsatzfrage nach den Möglichkeiten und Bedingungen von Erkennen, Erkenntnis und Erfahrung. Es würde zu weit führen, diese hier zu diskutieren, aber als Lese-Empfehlung sei hier der berühmte Roman Sofies Welt von Jostein Gaarder genannt, der dieses philosophische Grundproblem in einer fiktiven Geschichte erörtert. Wir spitzen stattdessen den Problemkreis unter sprachlichen Aspekten zu. Es ist – unabhängig von der differenzierten Beantwortung der gestellten Fragen – zweifellos richtig, dass wir uns zum Austausch unserer Erfahrungen, Gefühle, Einstellungen, und Wissensbestände der natürlichen Sprache bedienen müssen. Auf Grundlage dieser Erkenntnis gab es im 20. Jahrhundert einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel. Fortan wurden die Sprache, ihre Formen und Wirkungen in den Mittelpunkt der Geistes- und Sozialwissenschaften gestellt (als Referenzpunkt gilt in diesem Zusammenhang das Werk The linguistic turn von Richard Rorty von 1967).
Somit können wir festhalten: Jede Erkenntnis und Erfahrung ist auch sprachabhängig, weil Sprache das Medium ist, in dem wir unser Wissen über die Welt ausdrücken. Pointiert formuliert könnte man sagen: Da sich die Menschen in der kommunikativen Interaktion nur mit Hilfe sprachlicher Mittel über die Sachverhalte in der Welt austauschen können, schafft die Sprache die Realität, über die wir uns verständigen. Dies schließt nicht aus, dass vor der kommunikativen Verständigung auch sprachunabhängig Primärerfahrungen mit Hilfe unserer Sinne gemacht wurden. Wollen wir aber über diese Eindrücke und Erfahrungen sprechen, müssen wir uns der Worte bedienen.
Die grundlegende Relevanz dieser Gedanken für das Problem der Ideologie soll an zwei Beispielen gezeigt werden:
Ein zur Hälfte gefülltes Glas (das berühmte Beispiel) ist unabhängig von der Bezeichnung, ob es "halb voll" oder "halb leer" genannt wird, mit den Augen wahrnehmbar. Insofern relativiert sich die Benennungsbrisanz dieses Alltagsbeispiels, wenn alle Anwesenden den Gegenstand direkt wahrnehmen können und nicht nur auf seine sprachliche Vermittlung oder Beschreibung angewiesen sind.
Weitaus spannender und politisch interessanter ist das Beispiel der Berliner Mauer, die beinahe dreißig Jahre lang zwei deutsche Staaten trennte. Auch sie konnte man direkt wahrnehmen, von verschiedenen Seiten mit unterschiedlichem Abstand (von der Westseite aus konnte man sie direkt anfassen, von Osten her war sie weiträumig abgesperrt). Warum gab es zwischen Ost und West so einen heftigen Streit, ob dies "ein antifaschistischer Schutzwall" oder eine "menschenverachtende Grenze" war? Kann es in dieser Frage einen ideologiefreien Standpunkt geben, also einen unideologischen?
Ideologiefreie Sprache?
Wenn man unter Ideologie eine uneinheitlich gebrauchte "Bezeichnung für politische Ideengebäude unter Berücksichtigung ihres Ursprungs, ihrer Struktur, Wahrhaftigkeit oder Fehlerhaftigkeit und ihres Zusammenhangs mit politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen" (Kröner Wörterbuch der Politik 2004, S. 307) versteht, dann ist die Frage nach der Möglichkeit von ideologie-freien Positionen mit Sicherheit zu verneinen. Denn jeder Staatsform lagen und liegen Ideen zugrunde. Jede Positionierung in dieser Frage lässt also die politische und weltanschauliche Verankerung des jeweiligen Sprechers mit deutlich werden. Dies gilt auch für viele gesellschaftliche Debatten der Gegenwart. So erscheint zum Beispiel die Vokabel "Leitkultur" als ein Erkennungszeichen für ein konservativ geprägtes Weltbild (was immer dies genau bedeuten mag). Wer sich dieses Ausdrucks bedienen möchte, muss sich dessen bewusst sein und dem verbreiteten Sprachgebrauch entsprechend verhalten, um die gewünschte politisch-inhaltliche Positionierung vornehmen zu können. Auch dieses Beispiel zeigt: Die Worte, die Sprache sind kein neutrales Medium.
Aus sprachlicher Sicht stellt sich das Problem der Wahrheit oder Richtigkeit von daher unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit: ob also sprachliche Formulierungen dem referierten Sachverhalt, "der Sache" gerecht werden oder nicht. Neben inhaltlichen oder moralischen Aspekten (die hier keine Rolle spielen) geht es um die Frage, ob die Bezeichnungsweise angemessen ist. Und damit sind wir bei dem Phänomen, dass politische Wirklichkeit durch Sprache hergestellt wird, und bei der nicht unproblematischen Verwobenheit von Sprachgebrauch und Wirklichkeitsherstellung. Die Beurteilung des Sachverhalts selbst lässt sich nicht trennen von seiner Benennung (zumindest bei Abstrakta, selbst bei Konkreta wie der Berliner Mauer war dies – solange sie existierte – nicht möglich). Mit der Bezeichnung des Sachverhalts wird dieser gleichzeitig und unweigerlich in bestehende Denkschemata eingeordnet. Aus diesem Grunde können Wörter neben ihrer Funktion, Dinge und Sachverhalte der Welt zu benennen, auch als Erkennungszeichen für bestimmte Denk- und Wertehaltungen, Ideengebäude oder eben Ideologien erscheinen.
Dies ist aus kommunikativer und demokratietheoretischer Sicht kein grundlegendes Problem, sofern die Auseinandersetzung durch möglichst herrschaftsfreie Interaktion und Kommunikation gewährleistet ist (wie dies Habermas als kommunikativen Idealzustand postuliert, der so in der politischen Praxis allerdings nicht gegeben ist). Etwas vereinfacht – und außersprachliche Machtverhältnisse außer Acht lassend – könnte man formulieren: Wer die besten Argumente hat, wird sich im Diskurs schon durchsetzen. Und wenn sich keine Gruppierung durchzusetzen vermag, dann scheint es sich um einen Themenkreis zu handeln, der intersubjektiv nicht einheitlich beantwortet werden kann, weil die beteiligten Individuen bzw. Diskursteilnehmer beim jeweils anderen Standpunkt die eigenen Interessen und Ansichten nicht gebührend berücksichtigt sehen.
Fazit
Somit lassen sich die folgenden Schlussfolgerungen ziehen:
In einer politisch strittigen Angelegenheit kann es keine letztinstanzliche Wahrheit geben. Jede inhaltliche Position ist in einem weltanschaulichen und kulturellen Ideengebäude verortet. Ob man dieses Ideengebäude als Ideologie bezeichnet oder nicht, ist dem individuellen Sprachgebrauch anheim gestellt (man muss allerdings um das negative Konnotationspotential des Wortes wissen, um Missverstehen zu vermeiden) und wird im Sprachgebrauch nach wir vor unterschiedlich gehandhabt. Fest steht nur: Sprache ist kein neutrales Medium! Eine politisch-inhaltliche Auseinandersetzung korrespondiert oft mit einem Streit um Worte, also um angemessene Bezeichnungen für die Sache.
Wer von einer bestimmten Position überzeugt ist (und sie gegebenenfalls für die Wahrheit hält), muss seine Mitbürger davon überzeugen. Dabei ist zu beachten, dass schon die Wortwahl zur Bezeichnung dessen, worüber man spricht, eine bestimmte politische Verortung signalisieren kann. Das ist insofern kein Problem, als die Ausdrucksweise lediglich angemessen, die Argumentation jedoch plausibel sein muss. Ob dies der Fall ist, entscheiden die Zuhörer oder Leser.
Es stellt sich nun die gesellschaftliche Aufgabe, Kommunikationsformen zu finden, an denen möglichst viele Diskursteilnehmer gleichberechtigt teilnehmen können. Das ist ein Ideal, das auf Grund unterschiedlicher Bildungsvoraussetzungen nicht zu realisieren ist. Wenn sich Bürger allerdings zu Interessengruppen zusammenschließen und dort rhetorisch begabte Mitstreiter finden, erhöhen sich die Chancen, gesamtgesellschaftlich (d.h. zum Beispiel in Medien) Gehör zu finden, also die eigene Position darlegen zu können.
Ideologie und Sprache sind heute nicht mehr getrennt zu denken. Ideologiekritik sollte nicht länger die Illusion kultivieren, dass ein ideologie-unabhängiger Standpunkt möglich sei. Damit geht aber nicht die Forderung einher, dass Individuen in Gesellschaften nicht nach Wahrheiten streben sollten. Das Streben nach Wahrheit als unerreichbare Utopie ist Voraussetzung für ein Gemeinwesen, in welchem das zoon politikon (politische Lebewesen) sich für "seine Wahrheit" (d.h. Überzeugung) einsetzt. Viele Streiter für Wahrheiten sind Gewähr dafür, dass die Menschen ständig um das Bestmögliche bzw. höchste Gut (summum bonum) und die besten (Lebens-)Verhältnisse ringen. Wenn es diese Streiter für eine gute Sache nicht mehr gäbe, wäre eine Gesellschaft ideologie-frei und damit ohne Weltanschauung, Werte und Orientierung. Ideologien sind Sammelbecken für Ideen, die eine bessere Realität versprechen. Sie sind die Luft, ohne die wir nicht leben können. Wie "rein" die Luft ist, bleibt allerdings Verhandlungssache und der individuellen Beurteilung überlassen.
Salopp formuliert heißt es oft: "An der Sprache erkennst Du die Denke." Diese Sentenz verweist darauf, dass ein bestimmter Sprachgebrauch Erkennungszeichen für eine bestimmte Denkhaltung sein kann. Im Kontext politischer Auseinandersetzung hat sich im öffentlichen Diskurs beispielsweise herausgeschält, dass Gentechnik-Befürworter den Ausdruck "Genveränderung" vorziehen, während Gentechnik-Gegner von "Genmanipulation" sprechen. Die Gegner wollen die abwertende Konnotation des Manipulationsbegriffs zur klaren Herausstellung ihrer Position nutzbar machen, während die Befürworter das gemeinsprachlich nicht vorbelastete Wort "Veränderung" gebrauchen. Somit kann ein Streit um die Sache auch eine Auseinandersetzung um die angemessene Benennung beinhalten (manchmal nur implizit, mitunter aber auch explizit). Und die Sprache selbst ist kein neutrales Medium, sondern "spricht" – metaphorisch ausgedrückt – in der Realitätsherstellung ihre je eigene Sprache.