Wenn wir die Rolle von Repräsentationsdefiziten für den Aufstieg, die Wahlerfolge und die Etablierung rechtspopulistischer Parteien untersuchen wollen, müssen wir zuerst klären, was wir unter den zentralen Begriffen verstehen (Lewandowsky 2022; Sorace 2023).
Repräsentation
Repräsentationslücken
Wenn aber bestimmte Einstellungen oder politische Präferenzen unterdurchschnittlich oder gar nicht repräsentiert werden, obwohl sie in relevantem Ausmaß in der Bevölkerung vorkommen, können wir von mangelhafter substanzieller Repräsentation sprechen oder auch von einer Repräsentationslücke.
Ebenfalls relevant ist neben einer so verstandenen objektiven Repräsentationsleistung der Parteien auch das subjektive Repräsentationsgefühl der Bürger:innen, also die Wahrnehmung dieser Repräsentationsleistung (Weßels und Klingemann 2023). Zwar sind beide gekoppelt, aber nicht identisch (Wagner et al. 2014). So wurde beispielsweise die
Politische Akteure können versuchen, solche objektiven und subjektiven Repräsentationslücken auszunutzen. Sie können sich in den Leerstellen des politischen Raums derart positionieren, dass sie von bislang nicht oder mangelhaft repräsentierten Bürger:innen Stimmen erhalten und somit Wahlerfolge feiern können. Meist setzen diese "politischen Unternehmer:innen" (political entrepreneurs – Vries & Hobolt 2020)
Populistisch orientierte Akteure
Allerdings ist damit noch ungeklärt, warum diese neuen Parteien häufig auch populistisch orientierte Parteien sind. Es nutzen viele dieser Herausforderer eine Anti-Establishment-Rhetorik, um den Zuspruch zu etablierten Parteien zu mindern: Sie argumentieren, dass die politische Elite, das Establishment in Washington oder Paris oder Berlin die Wurzel allen Übels sei. Dies kann als Teil des Populismus aufgefasst werden, der entsprechend des sogenannten ideational approach (Mudde 2007) als eine „dünne Ideologie“ zu verstehen ist. Zentral für den Populismus ist dabei, dass Gesellschaften letztlich in zwei homogene und antagonistische Gruppen eingeteilt werden: einerseits das ‚reine Volk‘ und andererseits die ‚korrupte Elite‘ (Stanley 2008). Welche Elite im Zentrum der Kritik steht, ist dabei unterschiedlich. Fast immer sind es die angesprochenen nationalen politischen Eliten, häufig auch mediale Eliten und internationale Akteure wie beispielsweise die EU (Lewandowsky et al. 2016). Das Volk wird dagegen als weitgehend homogen verstanden, der Pluralismus moderner Gesellschaften steht dabei in der Regel zur Disposition.
Entsprechend diesem populistischen Verständnis von Gesellschaften präsentieren sich populistische Parteien als Verteidiger der Volkssouveränität und lehnen sowohl die für moderne Demokratien wesentlichen
Misstrauen in demokratische Institutionen
So verstanden wird auch plausibel, weshalb gerade populistische Parteien von faktisch schlechten Repräsentationsleistungen oder gefühlten Repräsentationsmängeln profitieren. Repräsentationsmängel werden dann nicht nur als ein Fehler einer Partei, sondern als
Zudem hätten demokratisch gewählte Institutionen wie Parlamente und Parteien an Bedeutung verloren, da viele wichtige Entscheidungen von Institutionen wie Zentralbanken, Verfassungsgerichten und internationalen Organisationen getroffen würden, die allerdings über weniger direkte demokratische Legitimation verfügen. Ähnlich argumentiert Manow (2023): Die „Überkonstitutionalisierung“ der Politik, insbesondere der Kompetenzzuwachs der Gerichte, aber auch der europäische Einigungsprozess, der der nationalen Politik immer mehr Grenzen setze, habe zu einer Entpolitisierung geführt. Viele politische Fragen seien demnach nicht mehr von nationalen Parteien bzw. in nationalen Parlamenten bearbeitbar und im Sinne der Interessen weiter Teile der Bevölkerung beantwortbar. Dahinter liege ein strukturelles Problem, dass Mair (2009) mit dem Begriffspaar von responsible parties und responsive parties beschrieben hat. So verhielten sich laut Mair die responsible parties, d.h. die etablierten Parteien innerhalb der institutionellen Einbindungen einer politisch und ökonomisch globalisierten Welt in dem Sinne weitgehend verantwortungsbewusst, als dass sie die vielfältigen Zwänge berücksichtigten, die sich aus internationalen Verpflichtungen, früheren Entscheidungen und auch den Marktkräften ergäben.
Dazu stehe aber die Responsivität teilweise und zunehmend im Widerspruch (Kriesi 2014; Plescia et al. 2019). So würden manche Präferenzen der Bürger:innen nur noch zu fast prohibitiv hohen Kosten in politische Entscheidungen umgesetzt werden können – der Austritt aus der Europäischen Union wäre ein Beispiel –, weshalb es nicht nur zu einem Repräsentationsdefizit einzelner Akteure, sondern in den Augen vieler Bürger:innen zu einem systemischen Repräsentationsversagen komme. In solchen Situation können Bürger:innen Unzufriedenheiten entwickeln, die sich auf die gesamte etablierte bzw. bestehende Demokratie beziehen (Landwehr et al. 2022).
Empirische Befunde
Die Intuition, dass defizitäre Repräsentation zu einem Erstarken populistischer Einstellungen führt, wurde durch Umfrageexperimente bestätigt. Dabei wurden Bürger:innen zufällig verschiedene Parteipositionen gezeigt – zum Umweltschutz, zu Fragen finanzieller Unterstützung für EU-Mitgliedstaaten, zur militärischen Zusammenarbeit oder zur Asylpolitik. In manchen dieser Positionen vertraten mehrere Parteien die gleichen Positionen wie die Befragten, manchmal nur eine Partei und manchmal vertrat keine Partei die gleichen Positionen wie die befragte Person. Bei denjenigen Personen, deren Einstellungen von keiner Partei repräsentiert wurden, verstärkten sich die populistischen Einstellungen und insbesondere die Anti-Establishment-Orientierungen (Castanho Silva und Wratil 2023). Repräsentationsmangel kann so zu mehr Populismus führen. Dieser Nachweis des Einflusses von Repräsentationsmangel auf den Populismus bestätigt sich nicht nur im Experiment. Gerade die ungleiche Repräsentation von Bevölkerungsinteressen – auch in Deutschland – führt dazu, dass das politische System für weniger responsiv eingeschätzt wird. Eine Folge dessen sei der Erfolg rechtspopulistischer Parteien (Hense und Schäfer 2022).
Blickt man anhand der Daten der Deutschen Wahlstudie (GLES) auf die Frage, welche Partei die eigenen persönlichen politischen Ansichten gut vertritt, zeigt sich ein nach Schichtzugehörigkeit interessanter Verlauf über die Zeit (GLES 2020). 2013 fühlten sich knapp vier Prozent der Unter- oder Arbeiterschicht von der AfD am besten vertreten, 2017 waren es bereits über 13 und 2021 über 14 Prozent. Für Menschen aus der Mittel- oder Oberschicht lagen die Werte deutlich darunter. 2013 waren zwei Prozent der Meinung, dass die AfD ihre Interessen ab besten repräsentiere, 2017 und 2021 jeweils mehr als vier Prozent. Die Rechtspopulisten bieten also insbesondere für Menschen aus der Unter- oder Arbeiterschicht das Gefühl, von ihnen besser vertreten zu werden, als von den anderen Parteien. Ein Befund, der zu der oben beschriebenen ungleichen Repräsentationsleistung des politischen Systems passt.
Diese Zahlen unterstreichen nochmals die Relevanz eines Repräsentationsdefizits für den Erfolg des Rechtspopulismus: Wer sich von niemandem repräsentiert fühlt, neigt dazu, in seinen politischen Ansichten offener für die Angebote populistischer Akteure zu werden.