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Die Entwicklung der Nation in China

Dr. Elisabeth Forster

/ 7 Minuten zu lesen

Elisabeth Forster beschreibt die Bedeutung des Nationalismus in Chinas Vergangenheit und Gegenwart.

(© picture alliance / dpa | Xiao Yi)

Als Beijing als Austragungsort für die Olympischen Spiele im Jahr 2008 ausgewählt wurde, propagierte der chinesische Staat dies als Zeichen, dass China seine frühere Position der Stärke auf dem internationalen Parkett wiederhergestellt habe, die es im 19. Jahrhundert verloren habe. Umso schockierter waren Chinas politische Kreise und Teile der Bevölkerung, als der Olympische Fackellauf mit Pro-Tibet-Protesten beispielsweise in Frankreich konfrontiert wurde, was von vielen Seiten in China als weiterer Beweis dafür gesehen wurde, dass der Westen China seinen Wiederaufstieg nicht gönne. Zentral für all dies war Chinas Verhältnis zu den verschiedenen Facetten des Nationalismus – der Frage, was, wo und wer China ist; wie es international positioniert ist; und welche Rolle patriotischer Stolz in der Bevölkerung spielt.

Ausgangslage

Die Ideologie, durch die sich China vor dem 19. Jahrhundert zu verstehen behauptete, wird oft als „Tributsystem“ oder „alles unter dem Himmel“ (tianxia) bezeichnet. Dahinter steht die Idee, dass im Zentrum der Welt der chinesische Kaiser als Hüter der konfuzianischen Zivilisation stehe. Von ihm aus strahle diese Kultur mit abnehmender Intensität auf die ganze Welt („alles unter dem Himmel“) aus. Umgekehrt sandten ausländische Völker, beeindruckt von Chinas überlegener Zivilisation, Tributgesandtschaften zum Kaiser. Chinese zu sein war, so die Ideologie weiter, keine Frage von Abstammung, sondern von Kultur: Wer die konfuzianischen Riten befolgte, war Chinese.

So beispielsweise legitimierten die Kaiser der letzten großen Dynastie, der Qing (1644-1911), ihre Herrschaft, obwohl sie eigentlich Mandschuren waren. Oft standen Ideologie und Realität jedoch im Konflikt. Es gab Aufstände von Han-Chinesen gegen mandschurische Herrscher oder gegen die Mongolen, die China von 1271 bis 1368 regierten. Umgekehrt diskriminierten mandschurische oder mongolische Gesetze Han-Chinesen. Ausländische Tributgesandtschaften waren oft nicht von Bewunderung für die chinesische Zivilisation motiviert, sondern von Furcht vor seiner militärischen Macht. Dass China nicht „alles unter dem Himmel“ umfasste, war eklatant klar, wenn ausländische Völker Teile des chinesischen Territoriums eroberten – im 12. Jahrhundert verlor die damalige Dynastie beispielsweise die Hälfte ihres Gebiets.

Der Weg zum Nationalstaat

Vollständig brach dieses Selbstbild jedoch mit dem westlichen Imperialismus im 19. Jahrhundert zusammen. Als Briten und Franzosen – die weit weg vom Zentrum konfuzianischer Zivilisation lebten und deswegen als Barbaren wahrgenommen wurden – China in den Opiumkriegen (1839-42 und 1856-60) besiegten, begannen Chinas Eliten nicht nur an ihrer militärischen Ausrüstung zu zweifeln. Sie identifizierten auch Chinas konfuzianische Kultur als Ursprung ihrer Schwäche und umgekehrt die westliche Gedankenwelt als Wurzel westlicher Stärke. Ende des 19. Jahrhunderts studierten sie deswegen in großem Stil westliche Ideen: Feminismus, Philosophie, aber auch Sozialdarwinismus und Rassendenken, sowie Nationalismus.

Ein komplettes Umdenken über Chinas Gesellschaft, Kultur, Technologie und Politik folgte. Im Jahr 1911 wurde die Qing-Dynastie durch eine Revolution gestürzt und durch eine Republik ersetzt. In der Frage, was China sei, sahen sich seine Denker und Politiker mit der Frage konfrontiert, wie man das Tributsystem konzeptionell in ein Nationalstaatensystem übersetzen konnte: Was bedeutete es nun, Chinese zu sein? Wo waren Chinas Grenzen? Was war die chinesische Sprache? Was die Rolle des Staates und das Verhältnis zum Ausland?

Die Republikzeit (1912-1949) war eine Brutstätte für Antworten auf diese Fragen. Doch da die Republik nicht zuletzt wegen des Zweiten Weltkriegs politisch instabil war, konnte keine der Antworten umgesetzt werden. Mit der Gründung der Volksrepublik im Oktober 1949 unter der Kommunistischen Partei Chinas setzte sich jedoch ein starkes Regime durch, das die lange diskutierten Fragen wiederaufnahm.

Wo ist China?

China beansprucht grob gesagt das Territorium der Qing-Dynastie (1644-1911), von dem die politische Rhetorik behauptet, dass es schon immer zu China gehört habe und von dem „kein Stückchen fehlen darf“ (yi dian’er bu neng shao). Dazu gehört Hongkong, das seit dem 19. Jahrhundert eine britische Kolonie gewesen war und 1997 an China zurückgegeben wurde, ebenso wie Xinjiang und Tibet, die sich nach dem Fall der Qing unabhängig erklärt hatten und in denen Teile der Bevölkerung auch heute noch Unabhängigkeit anstreben. Die Volksrepublik verhandelte und eroberte diese Gebiete 1949 und in den 1950er Jahren zurück – aus ihrer Sicht eine „Befreiung“ der Gebiete. Ebenfalls beansprucht wird Taiwan, auf das sich nach einem Bürgerkrieg in den späten 1940ern die Rivalen der Kommunistischen Partei, die Nationalisten (Guomindang), zurückzogen, und das sich mittlerweile de facto (wenngleich nicht rechtlich gesehen) zu einem eigenständigen, demokratischen Staat mit einem zunehmend eigenen, taiwanesischen Nationalverständnis entwickelt hat. Bis heute kündigt China die schlussendliche Eroberung, oder in seinen Worten „Befreiung“, Taiwans an.

Wer ist Chinese?

Seit im 19. Jahrhundert „Chinesisch sein“ allmählich nicht mehr kulturell sondern ethnisch verstanden wurde, ergab sich die Frage, wie mit den Völkern des Qing-Reiches umzugehen sei, die keine Han-Chinesen waren, darunter die Mandschuren, Tibeter oder Uighuren. Die Volksrepublik vertritt das Modell, dass die chinesische Nation aus den Han und 55 „nationalen Minderheiten“ (shaoshu minzu) bestehe. Diese 55 Minderheiten wurden in den 1950er Jahren identifiziert – und erfunden, denn manche von ihnen verstanden sich zuvor gar nicht als nicht-Han. In der Mao-Zedong-Ära (1949-1976) versuchte der Staat, diese Minderheiten kulturell zu assimilieren, was jedoch nur deren lokalen Nationalismus und Ressentiments gegen die Han verstärkte. Seit den 1980er Jahren betont der Staat deswegen die kulturellen Eigenheiten der Minderheiten, ihre eigene Sprache und eine gewisse Autonomie in der Verwaltung ihrer Gebiete. In der Realität ist die Autonomie jedoch stark begrenzt und die Eigenheiten werden recht starr und klischeehaft dargestellt. Spannungen und Aufstände gibt es insbesondere in Tibet und Xinjiang nach wie vor.

Was ist die chinesische Sprache?

Durch seine Größe besitzt China eine Vielfalt an Sprachformen. In der Kaiserzeit sprach die Elite – die einzigen, die regelmäßig andere Teile des Landes besuchten – eine künstliche Sprache und schrieb in klassischem Chinesisch, einer toten Sprache, die auf den konfuzianischen Werken basierte. Der Einzug des Nationalismus im 19. Jahrhundert erschuf jedoch den Anspruch, dass die gesamte Bevölkerung eine einheitliche Sprache sprechen sollte. Die Volksrepublik löste diese Herausforderung dadurch, dass sie Wissenschaftler in den 1950er Jahren die chinesische Hochsprache (Mandarin, Putonghua) erschaffen ließ, eine Kunstsprache, die auf dem Pekinger Dialekt basiert. In diesem Zusammenhang wurde die Frage, ob andere Sprachformen, wie beispielsweise das Kantonesische, Dialekte oder eigene Sprachen seien, zum Politikum: Die Behauptung, dass es sich hierbei um eigene Sprachen handele, wurde als gleichbedeutend mit der Idee wahrgenommen, dass China keine richtige Nation sei.

Was für ein Staat ist China?

Mit Chinas wirtschaftlichen Reformen und Erfolgen seit den 1980er Jahren, erwarteten viele westliche Beobachter, dass das Land bald auch eine Demokratie werden würde. Das hat sich jedoch nicht bewahrheitet und Trends gehen derzeit in die umgekehrte Richtung. Es ist ein zentrales Element der staatlich propagierten nationalen Identität, dass China ein sozialistischer, von der Kommunistischen Partei regierter Ein-Parteien-Staat ist, wenngleich die genaue Ausführung der sozialistischen Ideologie über die Jahre hinweg stark modifiziert wurde. Seit den 1950er Jahren sind Partei- und Staatsinstitutionen eng verknüpft. Beispielsweise ist der derzeitige Präsident Xi Jinping gleichzeitig Generalsekretär der Partei.

Verhältnis zum Ausland

Die Kommunistische Partei verwendet Nationalismus und Patriotismus, um sich in einer Zeit zu legitimieren, in der China faktisch eine Marktwirtschaft ist. Nachdem im Jahr 1989 Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing unter Anderem für demokratische Reformen demonstrierten und somit den Herrschaftsanspruch der Partei infrage stellten, initiierte die Partei ein Programm der „Patriotischen Erziehung“. In Museen, Schulunterricht oder Fernsehprogrammen sollten die Bevölkerung an die „hundert Jahre der nationalen Demütigung“ (von den Opiumkriegen zur Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949) durch den westlichen Imperialismus erinnert werden. Erst die Kommunistische Partei habe China davon befreit. Chinas Staat beharrt deshalb auf territorialer Integrität und verbittet sich jegliche Einmischung in Dispute, die er als seine inneren Angelegenheiten betrachtet. Zeitgleich betonte man wieder Chinas konfuzianische Tradition, die nun von manchen dazu verwendet wurde, sich einerseits gegen westliche Ideen abzugrenzen, und andererseits Chinas angebliche Verbundenheit zu hierarchischer Herrschaft zu behaupten, die hinwiederum das autoritäre Regime der Partei legitimiert.

Akteure

Diese Abgrenzung nach außen stärkt die Partei, führt in der Bevölkerung jedoch teilweise zu Rassismus, beispielsweise gegenüber den Bewohnerinnen und Bewohnern afrikanischer Ländern, mit denen China auf offizieller Ebene enge Beziehungen pflegen will. Manchmal droht die Partei, ihre Kontrolle über den so entstandenen – bisweilen überaus xenophobischen – Populärnationalismus zu verlieren. Beispielsweise kommt es immer wieder zu Protesten gegen den Feind aus dem Zweiten Weltkrieg, Japan. Andere Formen von Populärnationalismus können sich hinwiederum ein China ohne die Partei vorstellen. Mit diesen Entwicklungen setzt sich ein langer Wettstreit darüber fort, wer bestimmen kann, was China ist: von den Eliten im 19. Jahrhundert, die diskutieren, ob die herrschenden Mandschus wirklich chinesisch seien; zu den Demokratiebewegungen von Studenten in den 1980er Jahren.

Ausblick

Unter Präsident Xi Jinping strebt China eine Führungsrolle in der Welt an, die durch Chinas rapide wachsende wirtschaftliche und militärische Stärke ermöglicht werden soll. Was für eine Nation China ist, wie sein Verhältnis mit dem Ausland ist, was sein Territorium ist – all dies sind Fragen, die die Welt in den nächsten Jahrzehnten umtreiben werden.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Elisabeth Forster ist Dozentin für chinesische Geschichte an der Universität Southampton. Zuvor unterrichtete sie in Hamburg, Freiburg und Oxford.