Weltweit breitet sich nicht nur in den Autokratien Chinas und Russlands, sondern auch in den Staaten westlicher freiheitlicher Demokratien in der Europäischen Union (EU) und in den USA eine neue politische Rückbesinnung auf die Nation aus. Diese Wiederentdeckung der Nation als Ideal gesellschaftlicher innerstaatlicher und internationaler Ordnung – im Folgenden als Nationalismus bezeichnet – stellt sich gegen die liberalen Errungenschaften offener, freiheitlicher Demokratien und gegen eine multilaterale, von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägte Globalisierung. Auch die politische Kultur der Bundesrepublik, die nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst wegen der Lehren aus deutschem nationalen Größenwahn im 20. Jahrhundert geläutert schien, ist nicht länger vor einer Renaissance eines neuen deutschen Nationalismus gefeit, wie der rechtspopulistische Zulauf zu AfD und Pegida zeigt.
Im Folgenden soll daher dem Bedeutungswandel des Begriffs der "Nation" in der deutschen Geschichte (I) kurz nachgegangen werden, um vor diesem historischen Hintergrund (II) zu analysieren, welches Nationenverständnis AfD und Pegida zu eigen ist und warum sie damit so erfolgreich sind; (III) schließlich ist deren rechtspopulistisches Begriffsverständnis in die Begriffsgeschichte einzuordnen und zu bewerten.
Ursprünge und Wandel des Begriffs der Nation
Der Begriff der Nation wurde erstmals im Zuge der Bemühungen um Reichs- und Kirchenreformen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als Kampfbegriff reichsständischer und reichskirchlicher Opposition gegen die Universalgewalten von Kaiser und Papst verwendet. Als Kaiser Friedrich III. auf dem sog. "Türkenreichstag" in Regensburg im Mai 1454 die versammelten Reichsstände durch seinen Gesandten Piccolomini auffordern ließ, den Kreuzzug gegen die Türken zu unterstützten, widersetzten sie sich dem zunächst, indem sie vom Kaiser verlangten, erst einmal die innere Ordnung im Reich herzustellen – " das reich und Teutsch gezunge...in ordenung ...zu setzen" – , bevor sie ihn in seinen universalen Pflichten unterstützen könnten. Die partikulare deutsche Sprachnation – "Teutsch gezunge" – wird vom Universalreich des Kaisers unterschieden und erschien zugleich auch als die Nation, die das Reich eigentlich trägt. Nationale, innerreichisch-deutsche Reformbelange haben nach Auffassung dieser Opposition Vorrang vor dem Kampf gegen die Türken als einem universalen Interesse des Kaisers. Fast gleichzeitig beschwert sich der Mainzer Erzbischof durch seinen Kanzler Mayr 1457 in Rom über tausend Vorschriften, die man sich am römischen Stuhle ausgedacht habe, um den Deutschen das Geld aus der Tasche zu ziehen, und so ihre "einstmals berühmte Nation", die "durch ihre Tapferkeit und ihr Blut - alles für (Anm. des Autors) - das Römische Reich erworben" habe und nunmehr zur Sklavin gemacht und tributpflichtig geworden sei. Das zeigt an, wie sehr die spätere Reformation Luthers nicht nur ein theologisches, sondern auch ein deutsches nationales Auflehnen gegen die römische universale Kirchenherrschaft des Papstes darstellte; nicht umsonst übersetzte er die Bibel in die deutsche Sprache und betitelte zu "christlichen Standes Besserung" eine Schrift "An den christlichen Adel deutscher Nation". Umgekehrt erfasste die kaiserliche Propaganda bald die politische Anziehungskraft von Appellen an die "Teutsche nacion" und begründete ihre personellen und materiellen Forderungen an die Reichsstände damit, dass sie so "zu ere und rettung Tutscher nacion" beitrügen. Aus universaler Reichssicht stiftet der Begriff "Teutsche nacion" eine einende, reichspatriotische Identität. Der politische Verweis auf die "Teutsche nacion" ist also schon im Zeitpunkt seines Entstehens ein Ausdruck von oppositionellen Partikularinteressen gegenüber transnationalen Universalinteressen einerseits, andererseits integriert er aber auch einzelne Reichsteile.
Zur selben Zeit wird in der damaligen Gelehrtenwelt des Reichs die historiografische Schrift "Germania" von Tacitus wiederentdeckt, die "germanischer Eigenarten" beschreibt. Sie bietet eine historische Traditionsbrücke, mit der sich ein akademisches deutsches Nationsverständnis als Nachfolge Germaniens begreift. Damit erhält der Begriff der deutschen Nation auch eine über das rein Politische hinausgehende kulturelle Wertschätzung. Die Kompromissformel des "Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation" der damaligen staatsrechtlichen Literatur versucht diese besondere Gemengelage einzelner politischer Einheiten einer deutschen Nation unter dem Dach eines über die deutsche Nation hinausgehenden Gesamtreichs als letzter Rechts- und Gerichtsinstanz zu beschreiben – eine staatsrechtliche Formel für ein Reich, das erst 1806 in den Napoleonischen Kriegen untergeht.
Wie diese genauere Betrachtung seines Entstehens in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zeigt, enthält der Begriff der Nation von Beginn an schon wesentliche, prägende Merkmale, die bis heute nicht ihre Aktualität verloren haben: partikulare Opposition gegen universale, heute: globale Ordnungsinteressen; regierungsamtliche Appelle an eine deutsche nationale Integrationsfunktion zur Wahrung trans- oder supranationaler Interessen – "Europa ist in Deutschlands Interesse" – und die Behauptung einer eigenen nationalen sprachlichen ("Teutsch gezunge" ) und kulturellen Dignität.
Mit der Vertiefung des religiösen Zwiespalts und der Politisierung konfessioneller Konflikte in der Phase von der Reformation bis zum Dreißigjährigen Krieg verliert der Begriff der Nation seine Integrationskraft. Die Konfessionsunterschiede sind wichtiger als nationale Zugehörigkeiten. "Cuius regio, cuius religio" (Wessen Regierung, dessen Religion) ist das Ordnungsprinzip der Friedensverträge von Augsburg 1555 bzw. nach dem Dreißigjährigen Krieg 1648 von Münster und Osnabrück . In der nach diesem Ordnungsprinzip entstehenden Staatenwelt bestimmt sich die staatliche Zugehörigkeit nach der Religion des Herrschers, nicht nach nationalen Merkmalen.
Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird der Begriff der Nation unter den aufsteigenden gelehrten und gebildeten Bürgerschichten – durchaus auch als Emanzipation zum noch ständestaatlichen Adel – wiederbelebt, und zwar in der Kultur durch "Nationaltheater" und "Nationalerziehung". Deutsche Nationaltheater entstehen in Hamburg (1767), Mannheim (1777), Berlin (1786) und Weimar (1791). Wilhelm von Humboldt plädiert 1792 für eine Erziehung durch die Nation, die er als eine dem Staat gegenüberstehende Gemeinschaft freier Bürger versteht. Diese Forderung spiegelt schon den von der Revolution in Frankreich ausgehenden revolutionären Umbruch wider. Herder begründet in Deutschland den Gedanken einer Kulturnation, die verbunden ist durch ähnliche Gesinnung, Geist und Seele und natürlich gleiche Sprache. Eine solche Kulturnation bedürfe gar keines äußeren Zusammenschlusses zu einem Staat: "Staaten ...können überwältigt werden, aber die Nation dauret."
Die politische Verwirklichung der Nation in einem Nationalstaat begann mit der amerikanischen Revolution durch die Unabhängigkeitserklärung vom britischen Mutterland 1776 und durch die Französische Revolution 1789. In Washington protestierten die "Gründungsväter", eine kleine Schicht amerikanischer Intellektueller, die "Gründungsväter", von den Gedanken der europäischen Aufklärung unveräußerlicher, universeller, bürgerlicher Grundrechte für jeden einzelnen Bürger beseelt, gegen die Londoner Kolonialmacht und Monarchie, die sich keinen Deut um die Belange versprengter englischer Siedlungen in der Neuen Welt scherte. Die verschiedenen amerikanischen Gründerstaaten einte der Gedanke, sich vom britischen Kolonialreich zu lösen und als eine neue amerikanische demokratische und republikanische Nation zu verstehen. In der Pariser Revolution stürzte der Dritte Stand den König mit der Forderung von "Liberté, E’galité, Fraternité" für alle Bürger einer französischen Nation. In beiden Revolutionen, wie natürlich auch bei Herder, war die Nation eine künstliche, abstrakte Konstruktion von akademisch gebildeten Intellektuellen. Denn tatsächlich identifizierten sich vor allem in Deutschland weite Teile der Bevölkerung mit ganz anderen Loyalitäten, wie Familie, sprachlichem Dialekt und lokalem und regionalem, sozialen und kulturellem Umfeld. Der politische Rückgriff auf eine intellektuell imaginierte Nation diente einem wachsenden bürgerlichen Selbstbewusstsein dazu monarchische Loyalitätsverpflichtungen des Volkes gegenüber Kaiser und König aufzulösen. Er sollte politische Macht neu legitimieren, eben national. Da die "Nation" eine künstliche, intellektuelle Konstruktion zur Legitimation von Herrschaft war, gleich einer "Ersatzreligion", passt sich auch der Begriffsinhalt von Nation und dessen, was national ist, den jeweiligen innerstaatlichen und außenpolitischen Bedürfnissen flexibel an. Als "Ersatzreligion" begründet ein so überhöhter Begriffsinhalt der Nation mitunter einen messianischen Beglückungswahn, Werte des eigenen Nationsverständnisses anderen aufzudrängen; das ist dem US-amerikanischen Nationenverständnis eigen, aber auch phasenweise dem deutschen. Für die Überlegenheit einer Nation über andere Gruppen in einem Staat und um Gebietsansprüche außenpolitisch zu reklamieren, werden "nationale" Traditionen weit zurück in die Vergangenheit konstruiert, wie jüngst bei der Krim-Annexion durch Russland.
In Deutschland führt der von der französischen Revolution inspirierte Gedanke der Nation zu einer politischen Strömung, dem Nationalismus, die die deutsche und europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts neben dem Liberalismus entscheidend prägte. Der aus den westfälischen Verträgen von 1648 entstandene Staat mit einem fest umrissenem Territorium, auf dem eine politische Herrschaft über die dort lebende Bevölkerung regiert, indem sie sie nach außen gegenüber fremden Mächten schützt und nach innen Frieden und Sicherheit verantwortet, wird nicht mehr alleine monarchisch legitimiert, sondern jetzt auch national. Die Überhöhung des Gedankens der Nation in Europa und sein ideologischer Missbrauch durch Faschismus und Nationalsozialismus führen zu den beiden Weltkriegen und ihren Katastrophen im 20. Jahrhunderts. Das von US-Präsident Wilson zuvor in seinem 14-Punkte-Programm proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker bestimmt wenige Monate nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1919 den Versailler Friedensvertrag. Auch dieses Selbstbestimmungsrecht trägt dazu bei, dass aus dem Niedergang dreier Imperien – dem Habsburger Vielvölkerstaat, dem Osmanischen Reich und dem Zarenreich – nach dem Krieg eine Vielzahl von Abspaltungskonflikten entstehen, weil viele Bevölkerungen auf der Basis eines national verstandenen Selbstbestimmungsrechts eigene souveräne Staatlichkeit fordern. In der Entkolonialisierung Asiens und Afrikas nach dem Zweiten Weltkrieg begründen ehemalige britische und französische Kolonien eigene Staaten, deren politische Herrschaft sich national legitimiert.
Der Territorialstaat und seine territorial begrenzte Herrschaftsgewalt des Staatssystems der Westfälischen Verträge von 1648 werden mit seiner jetzt nationalen Legitimierung zum bestimmenden politischen Ordnungsmodell politischer Gesellschaften weltweit. Diese nationale Legitimierung gilt bis heute, trotz aller sie modifizierenden, supranationalen Souveranitätsübertragungen, wie etwa in der Europäischen Union, und trotz aller globaler, staatlicher und nicht-staatlicher wechselseitiger Abhängigkeiten.
In der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte ist der Begriff der Nation nach seinem ideologischen Missbrauch durch den Nationalsozialismus im öffentlichen politischen Diskurs weitgehend delegitimiert. Als gespaltene Nation wurde zwar eine nationale deutsche Wiedervereinigung als Ziel in der Präambel des deutschen Grundgesetzes von 1949 formal verankert. Tatsächlich aber bestimmte die eindeutige Priorität der Westintegration des westdeutschen Staats vor einer deutschen Wiedereinigung seit der Regierung Adenauer die bundesdeutsche Nachkriegspolitik bis zum Fall der Mauer am 9. November 1989 – einer Politik, die zumindest zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland von Kurt Schuhmacher, dem Oppositionsführer der SPD, als Aufgabe der Wiedervereinigung der deutschen Nation gesehen wurde. In der Bonner Republik beherrsche ein "negativer Nationalismus" den intellektuellen Diskurs, nach dem die deutsche Nation im 19. und 20.Jahrhundert einen "deutschen Sonderweg" durchlaufen habe, der im sogenannten Dritten Reich ein Extrem erreicht habe, – so Martin Walser 1988. Im ideologischen Wettstreit der beiden deutschen Teilstaaten um die wahre Rechtsnachfolge des Deutschen Reichs tat sich die DDR leichter, auf nationale Traditionen deutscher Geschichte bis hin zum Reformator Martin Luther und den Bauernkriegen zurückzugreifen, um die sozialistische Herrschaft der SED auch historisch zu legitimieren.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die friedliche Revolution des 9. November 1989 und mit ihr die Wiedervereinigung der geteilten deutschen Nation mit der Forderung der verfemten vierten Zeile der DDR Hymne von Becher – "Deutschland, einig Vaterland" – von weiten Teilen der DDR-Bevölkerung ausging, und weniger von der Mehrheit der Intellektuellen der DDR.
Der völkische Nationalismus der AfD
In der Präambel ihres Grundsatzprogramms vom 1.5.2016 bekennt die AfD "die historisch‐kulturelle Identität unserer Nation und ein souveränes Deutschland als Nationalstaat des deutschen Volkes bewahren zu wollen". Die historisch-kulturelle Identität einer Nation entspringt dem Wertekanon, den eine Bevölkerung mit der Identität ihrer Nation verbindet. Dieser variiert in der subjektiven Wahrnehmung jedes einzelnen und unterliegt dem Wandel der Zeit. Ein Charakteristikum der deutschen Identität mag in Abwandlung von Nietzsches Frage: "Was ist deutsch?" gerade sein, sich immer auf ihrer Suche zu befinden. Der im Grundsatzprogramm der AfD so verwendete Begriff eines "souveränen Deutschland als Nationalstaat des deutschen Volkes" kehrt zum Verständnis eines deutschen Nationalstaats des frühen 19. Jahrhunderts zurück und ignoriert die vielfachen Souveränitätseinschränkungen eines jeden Nationalstaats des 21. Jahrhunderts durch internationale Verträge, durch Mitgliedschaften in internationalen Organisationen und etwa der EU und durch wechselseitige Wirtschafts-, Handels- und Finanzabhängigkeiten. Insofern stellt das Bekenntnis der AfD nichts als ein längst vergangenes Abziehbild aus einem Poesiealbum des 19. Jahrhunderts dar. Indem das oben zitierte Grundsatzprogramm seinen Begriff des Nationalstaates auf das "deutsche Volk" bezieht, erhält dieser Begriff eine völkische Konnotation aus der alldeutschen Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts – "Deutschland den Deutschen". Wie sehr diese völkische Definition des Nationenbegriffs der AfD sich einem nationalsozialistischen Rassismus nähert, verdeutlicht der Satz des stellvertretenden AfD-Bundesvorsitzenden Alexander Gauland, er verstünde die Leute, die den Fußballspieler Boateng nicht als Nachbarn haben wollten. Später distanzierte er sich mit dem Hinweis, dass er Boateng nicht habe beleidigen wollen, dessen "gelungene Integration und christliches Glaubensbekenntnis" ihm bekannt seien. Boateng ist zwar in Berlin als Sohn einer deutschen Mutter geboren und mit der Muttersprache Deutsch aufgewachsen, aber als Sohn eines ghanaischen Vaters nicht so "reinen deutschen Bluts" wie der "reinrassige" Gauland, und "beschmutzt" daher die weitere "reinrassige" Wohnnachbarschaft Boatengs in München-Bogenhausen – nur so ist der in bekannter AfD-Perfidie sublimierte Subtext von Gaulands Aussage zu verstehen.
Mit einem solchen völkischen Nationenbegriff schließen die AfD und andere rechtsextreme politische Gruppierungen viele Deutsche als nicht zur Nation gehörig aus. Hier gibt es Parallelen zum nationalsozialistischen Gedankengut. Verfassungswidrigkeit wäre auf dem Rechtsweg jedoch schwer festzustellen, weil dieser völkische Nationenbegriff nie ausdrücklich erklärt wird, sondern formal und oberflächlich betrachtet auch immer andere Interpretationsmöglichkeiten nicht völlig ausschließt. Spitzenvertreter der AfD haben mittlerweile eine professionelle Spitzfindigkeit entwickelt, mit der entsprechenden medialen Erregung durch unausgesprochene, aber unmissverständliche Unterstellungen einen an sich verfassungswidrigen völkischen Nationenbegriff im öffentlichen politischen Diskurs zu etablieren.
Renaissance einer "Deutschen Nation" als Kulturnation
Selbst wenn viele AfD-Sympathisanten die völkische Komponente des von der Partei etablierten Nationenbegriffs nicht wahrnehmen, ist eine Renaissance des Begriffs einer "deutschen Nation" weit über ihren Kreis hinaus festzustellen – bei aller weiteren Schwierigkeit zu bestimmen, was nun "deutsch" ist. In einer in seiner Globalität und Komplexität für viele Menschen kaum noch zu verstehenden Gegenwart und bei gleichzeitig schwindenden oder sich wandelnden kirchlichen und familiären Identitäten bietet vor allem – aber nicht nur – den Wählern und Sympathisanten der AfD eine Rückbesinnung auf einen traditionellen Nationenbegriff des 19. Jahrhunderts einen letzten Identitätsanker. Die AfD hat großen Rückhalt bei Arbeitern und Arbeitslosen, aber auch im bürgerlichen Lager, sie umfasst vornehmlich Männer, besonders jüngere und solche mittleren Alters - so zumindest bei den drei Landtagswahlen in Baden Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt am 13. März 2016. Bei den Landtagswahlen in Mecklenburg – Vorpommern am 2.9.2016 (AfD: 20,8%) überwogen bei den AfD-Wählern indessen die älteren Männer. Bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen gewinnt die AfD auch in den gutsituierten bürgerlichen Bezirken Berlins. Bei allen sozialen, wirtschaftlichen, regionalen und altersbedingten Unterschieden gewinnt die AfD ihre Anziehungskraft vor allem bei Protestwählern, die unzufrieden sind mit dem Funktionieren der Demokratie und von den etablierten Parteien enttäuscht sind. Nicht nur eine befürchtete Abstiegsangst habe zum Erstarken der AfD beigetragen, sondern auch der Verlust nationaler Identität. Auf jenen traditionellen Nationenbegriff des 19. Jahrhunderts baut auch eine "Neue Rechte" auf, deren politische Ideen politisch rechts von CDU und CSU die rechtsextremen Ideologien einer "konservativen Revolution" der Weimarer Republik auf die Gegenwart beziehen. Mit Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" im Jahre 2010 fanden durch einen Vertreter des Establishments mit seinen kruden Begründungen einer genetischen Überlegenheit des Europäers gegenüber türkischen und arabischen Moslems Gedanken rechtskonservativer Nischengruppen erstmals wieder Eingang in den breiten öffentlichen bundesdeutschen Politikdiskurs. Das Buch, das mehrere Monate als Bestseller Auflagenhöhen erreichte, die für ein Sachbuch ungewöhnlich sind, sprach unterschiedliche, verunsicherte Gesellschaftsgruppen an, die der wütende Protest gegen wechselnde Themen (Demokratie, Parteien, Presse, Euro, Flüchtlingspolitik) und ein subjkektiv empfundener Verlust nationaler Identität vereint.
Dabei beleben vor allem zwei historische Muster den Nationenbegriffs wieder. Wie im späten Mittelalter gegen die Universalinteressen von Kaiser und Papst dient der Nationenbegriff auch heute wieder als Kampfbegriff gegen jede supranationale und heute globale, vermeintliche Fremdbestimmung, ob nun gegen Eurokrise oder gegen die EU-Flüchtlingspolitik oder gegen Demokratiedefizite in der EU. "Ohnmacht durch Globalisierung" lautet die Parole. Zum Zweiten vermittelt die "Nation als Ersatzreligion" heute wieder eine Ersatzidentität, in einer Moderne, in der kirchliche und familiäre Identitäten für manche Menschen weiter schwinden. Die weltweite Renaissance des Begriffs der Nation in den USA, in China, Indien, Russland und in Europa zeigt wie globalisiert die Welt, der Nationalismus und seine Ursachen sind, wobei zwar zunächst überraschen mag, dass auch die Bundesrepublik trotz der deutschen Geschichte davon nicht mehr frei ist. An der wachsenden öffentlichen Diskussion des Nationen-Begriffs und den Wahlerfolgen der AfD lässt sich ablesen, dass mancher Bundesbürger neben einer europäischen Identität und der des Weltbürgers auch eine nationale Identität zu benötigen scheint, die sich nicht alleine mit der Begeisterung für die deutsche Fußballmannschaft begnügt.
Der für dieses Bedürfnis nach nationaler Identität angebotene Begriff des "Verfassungspatriotismus" war nur eine intellektuelle Flucht aus den Kategorien nationalstaatlichen politischen Denkens hin zu einer "postnationalen Gesellschaft. Für den ehemaligen Bundesverfassungsrichter und bedeutenden Staatsrechtslehrer Ernst-Wolfgang Böckenförde war der Verfassungspatriotismus nicht mehr als ein "blasser Seminargedanke". Gleichzeitig war dieser Diskurs der Professoren ein Symptom dafür, wie weit sich schließlich ein abgehobener intellektueller Diskurs in der Bundesrepublik vor aber auch nach der Wiedervereinigung von der politischen Meinung der Wahlbürger entfernt hatte. Diese Diskrepanz ähnelt der zuvor dargestellten in der DDR. Gipfel dieser Kluft zwischen Intellektuellen und Bürgern war die in seiner Poetik-Vorlesung im Februar 1990 verkündete Äußerung des Literatur-Nobelpreisträgers Günter Grass, Auschwitz verböte eine Wiedervereinigung, – für ein ehemaliges Mitglied der Waffen-SS eine bemerkenswerte Aussage. Inwieweit gerade die Leugnung und Unterdrückung eines solchen nationalen Identitätsbedürfnisses im akademischen und medialen Diskurs der Bonner Republik der 70er und 80er Jahre auch für die Renaissance des deutschen Nationenbegriffs heute mitursächlich ist, kann hier nicht weiter erörtert werden.
Meinung
Wie könnte nun angesichts einer solchen Herausforderung des Nationenbegriffs durch die Rechtspopulisten die Nation heute neu und anders begriffen werden? Erst wenn es gelingt, den politischen Nationenbegriff wieder im Sinne einer Herder’schen Kulturnation zu erweitern – und gleichzeitig jede kleinste Anleihe an einen völkischen Nationalismus mit allen Mitteln zu bekämpfen – , kann die so verengte, gänzlich subjektive Weltsicht, die der gegenwärtigen Renaissance des deutschen "Nationenbegriffs" zu Grunde liegt, der objektiven Realität angenähert werden. Denn diese wird ja durch eine nie dagewesene globalen und supranationalen Interdependenzen und daraus folgenden notwendigen Einschränkungen staatlicher Souveranität geprägt, die jeder Bürger heute ganz selbstverständlich unter anderem durch globales Kommunizieren, Reisen und Einkaufen nutzt und schätzt. Erst wenn der deutsche Nationenbegriff als politischer Kampfbegriff aufgegeben und wieder kulturgeschichtlich erweitert als Kulturnation verstanden wird, ist zu erkennen, welch europäisch-integratives Weltverständnis dem Begriff der deutschen Kulturnation ursprünglich zu Grunde liegt. Denn dann wird die deutsche Kulturnation wieder nach Thomas Mann "ein Deutschland als selbstbewusst dienendes Glied eines in Selbstbewusstsein geeinten Europa." Die Verschiedenheit der vielzähligen europäischen Kulturnationen macht ja erst den Reichtum und die weltweite Anziehungskraft eines politisch geeinten Europas aus. Eine Einheit jeder Nation wird so von einer Einheit Europas überwölbt. Die deutsche geographische Lage in der Mitte Europas und die Jahrhunderte währende, kleinstaatliche Zersplitterung der "verspäteten Nation" prädestinieren eine deutsche Kulturnation zur Integration des europäischen Kontinents. Gegenwärtige politische Tendenzen, die Balance zwischen deutscher und europäischer Identität, zwischen Nationalstaat und europäischer Supranationalität, möglicherweise neu zu justieren, tun ihrer beider engen, wechselseitigen Abhängigkeit keinen Abbruch.