Erst die Wahl François Mitterrand 1981 zum Präsidenten der Republik begünstigte den Aufstieg des FN. Nie zuvor war die von Charles de Gaulle 1958 gegründete V. Republik von einem Sozialisten regiert worden. Der mit der Wahl Mitterrands einhergehende Einflussverlust der der politischen Rechten trug entscheidend zu deren Radikalisierung bei. In deren Folge eröffnete sich der Partei Jean-Marie Le Pens erstmals eine politische Perspektive. 1983 betrat der FN mit einem Wahlergebnis von 16,3 % in der Stadt Dreux die politische Bühne. Bei den Gemeindewahlen in Dreux war ein Gaullist erstmalig gemeinsam mit dem FN gegen die Parti Socialiste (PS) des Staatspräsidenten angetreten. Während die politische Linke im Land gegen diese Allianz protestierte, verurteilten aus den Reihen der Konservative nur wenige diesen Schritt, der den FN aus seiner politischen Isolation herausführte.
Ein Jahr zuvor hatte Präsident Mitterrand die französischen Medien in einem Brief ermahnt, ihrer Verpflichtung zum Pluralismus nachzukommen und dem FN die ihm zustehende öffentliche Sichtbarkeit zu geben. Mittelfristig hat schließlich die Wirtschaftspolitik Mitterrands zum Erstarken des FN beigetragen. Sie ließ neue Industrieregionen entstehen, die Einwanderung, eine Zunahme der Bevölkerung und soziale Spannungen zur Folge hatten. In den neuen Industriezentren konnte der FN bei Wahlen bis ins Jahr 2002 über 10 % der Stimmen auf sich vereinen.
In den 1990er Jahren griff der FN eine Formulierung des französischen Rechtsextremismusforschers Pierre-André Taguieff auf, der die Partei als "nationalpopulistisch" gekennzeichnet hatte. "Populistisch und stolz darauf" versuchte die Partei seither, ihre rechtsextreme Gesinnung zu verharmlosen und zu banalisieren. Das Erfolgsrezept, das der FN/RN anderen rechtsextremen Parteien in Europa ins Stammbuch schrieb, beruhte auf "ethno-nationalistischer Fremdenfeindlichkeit und der Vermischung von Anti-System und Anti-Establishment-Rhetorik". Gut zehn Jahre lang kam dieser Modernisierungsschub dem FN/RN zugute. Zu Beginn des Millenniums drohte die Partei jedoch in der Bedeutungslosigkeit zu versinken: 2004 rutschte sie bei Wahlen erneut unter 10 %. Mit einem Ergebnis 4,3 % beziehungsweise 6,3 % der abgegebenen Stimmen endeten die Parlamentswahlen 2007 und die Präsidentschaftswahlen 2009 für den FN im Desaster. 2011 übergab Jean-Marie Le Pen, der den FN vier Jahrzehnte geführt hatte, die Partei an seine Tochter Marine.
Eine feste Größe in der französischen Politik
Seither erzielte die Partei bei Wahlen immer wieder Achtungserfolge. Bei den Europawahlen erzielte der FN/RN sowohl 2014 als auch 2019 das beste Resultat aller französischen Parteien (2014: 24,9 %, 2019: 23,3 %). Bei den Regionalwahlen vom Dezember 2015 votierten durchschnittlich 28 % der Französinnen und Franzosen für die Partei. Besonders hervor sticht, dass es Marine Le Pen 2017 und 2022 gelungen ist, in die Stichwahl um das Präsidentenamt in Frankreich einzuziehen. Zwar verlor sie in beiden Fällen gegen Emmanuel Macron, konnte gleichwohl bereits 2017 über 10 Millionen Stimmen auf sich vereinen.
Mit 13.288.686 abgegeben Stimmen konnte sie ihr Ergebnis fünf Jahre später noch verbessern – und den Abstand zu Präsident Macron auf 5,5 Millionen Wählerstimmen verringern. Im Vergleich zum Wahlergebnis ihres Vaters Jean-Marie Le Pen im Jahr 2002 zeigt sich, dass es der rechtsextremen Partei in den vergangenen 20 Jahren gelungen ist, ihr Ergebnis der ersten Wahlrunde nahezu zu verdoppeln. In der Stichwahl 2022 erhält Marine Le Pen sogar knapp zweieinhalbmal so viele Stimmen wie 2002 ihr Vater. Dieser Erfolg liegt nicht zuletzt darin begründet, dass Marine Le Pen den Wandlungsprozess des FN von einer rechtsextremen zu einer rechtspopulistischen Partei umfangreicher und zielstrebiger vorangetrieben hat als ihr Vater. Eine Machtoption bleib der Partei aber auch unter Marine Le Pen verwehrt – bislang. Auf gute Wahlergebnisse erfolgte in der Regel ein nachlassendes Engagement für die Partei. 2021 etwa gelang es Marine Le Pens Partei bei den Regionalwahlen nicht, eine Region zu gewinnen. Vielerorts verschlechterte sich ihr Wahlergebnis im Vergleich zu den Regionalwahlen von 2015.
Insgesamt büßte das Rassemblement National auf regionaler Ebene 6,6 % seiner Wählergunst ein. Im Jahr 2017 konnte der FN sein sehr gutes Abschneiden bei den Präsidentschaftswahlen wenig später nicht wiederholen: Bei den Parlamentswahlen 2017 konnte der FN lediglich 8 Abgeordnetenmandate erringen. Anders stellt sich die Situation jedoch 2022 dar: Mit 89 gewonnenen Wahlkreisen übertraf der RN alle Prognosen. Marine Le Pen führt seit Ende Juni die größte Oppositionspartei in der französischen Nationalversammlung an. Sie hat nun bedeutenden Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess in ihrem Land. Sie kann die politische Agenda mitbestimmen und verfügt über erhebliche Redezeit im Parlament. Damit kann sie nun zum Sprung ansetzen, ihre Partei von einem Prozess der „Normalisierung“ in einen der „Notabilisierung“ zu überführen.
Warum aber geben so viele Französinnen und Franzosen einer antieuropäisch, antidemokratisch, fremdenfeindlich und antimuslimisch argumentierenden Partei und deren Frontfrau ihre Stimme? Wer wählt in Frankreich eine Partei, welche die Einwanderung drastisch beschränken, vermehrt Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung abschieben, bestimmte Banken nationalisieren, das Prinzip der "nationalen Priorität" u.a. durch den Vorrang von Franzosen bei Sozialleistungen verankern, eine größere Unabhängigkeit gegenüber internationalen Organisationen erreichen und Einfuhrzölle zum Schutz der heimischen Landwirtschaft und Industrie erheben will?
Entdiabolisierung und inhaltliche Neuausrichtung
Eine erste Erklärung für die Erfolge der Partei liegt darin begründet, dass Marine Le Pen an die Macht will. Das mag paradox klingen. Ihr Vater zielte darauf ab, die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung Frankreichs aus einer Systemopposition heraus zu destabilisieren. Marine Le Pen hingegen möchte das System von innen heraus verändern, etwa dadurch, dass sie den Bürgerinnen und Bürger über das regelmäßige Abhalten von Referenden mehr politische Mitsprache einräumen will – explizit auch zu einem Referendum, das darauf abzielt, Einwanderung "drastisch" einzuschränken – oder danach strebt, Frankreich mehr Souveränität in Bezug auf die EU zurück zu geben. Dazu benötigt sie politische Macht. Um diese zu erlangen, beschränkt sie sich nicht länger auf das vom Vater meisterhaft genutzte Instrument der gezielten Provokation. Vielmehr zeichnet sie das Bild einer gemäßigten, modernen Rechten mit gewöhnlichen Parteistrukturen – präsentiert ihr Programm als frei von Antisemitismus und Rassismus, den Werten und Normen der französischen Republik verpflichtet.
So hat Marine Le Pen unmittelbar nach der Übernahme des Parteivorsitzes begonnen, den FN zu "entdiabolisieren". In einem ersten Schritt kehrte sie den antisemitischen und rassistischen Äußerungen ihres Vaters den Rücken. Dieser hatte die Gaskammern der Konzentrationslager wiederholt als "Detail der Geschichte des Zweites Weltkriegs" bezeichnet. Jedwede Huldigung des faschistisch anmutenden Vichy-Regimes, jeden Ruf nach Wiedereinführung des französischen Kolonialsystems in Algerien und auch die Debatte über die Rolle ihres Vaters im Algerienkrieg hat Marine Le Pen aus dem Diskurs der Partei entfernt.
Ihr oberstes Ziel besteht darin, ihre Partei modern erscheinen zu lassen und sich strategisch für die Zukunft zu positionieren, nicht aber die – aus demokratischer Perspektive problematische und gesellschaftlich nicht anschlussfähige –Vergangenheit verherrlichen zu lassen. Dafür hat sie auch den Kader der Partei runderneuert. Auf die alten Rechtsextremen folgten junge, mehrheitlich aus dem eigenen Parteinachwuchs stammende Mitglieder, die in vielen Fällen hervorragend ausgebildet sind und moderne Lebensformen vertreten. Auch das Image einer homophoben rechtsextremen Partei sollte so gebrochen werden. Lange warb einer ihrer engsten Vertrauten, der homosexuelle Politiker Florian Philippot, für den FN als "moderne", "junge" Partei, der "sexuelle Präferenzen und Praktiken" egal sind.
Das Internet hat Marine Le Pen nach antisemitischen, rassistischen, NS-verherrlichenden, homophoben oder die Kolonialgeschichte Frankreichs verharmlosenden Äußerungen von Parteimitgliedern durchsuchen und diese aus der Partei ausschließen lassen. Im August 2015 gipfelte dieses Vorgehen im Parteiausschluss ihres Vaters. Im März 2018 schließlich benannte Marine Le Pen die Partei in „Rassemblement National“ um – der Bruch mit der Ära ihres Vaters, der zuvor seinen Titel des „Ehrenvorsitzenden“ verlor, ist damit vollständig vollzogen. Mit der Namensänderung verfolgte Marine Le Pen aber auch das Ziel, ihrer Partei eine Vorrangstellung im rechten politischen Lager zu verschaffen. Le Pen hoffte, für ihre „neue Partei“ Anhänger sowohl der Parti Socialiste auf der linken, als auch der Les Républicains auf der rechten Seite des politischen Spektrums gewinnen zu können. Die zwei traditionellen Parteien Frankreichs waren bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2017 in der Bedeutungslosigkeit verschwunden.
Im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen des Jahres 2022 gab Le Pen schließlich den Vorsitz ihrer Partei an ihren Vertrauten Jordan Bardella. Diese im Frühjahr 2021 von ihr bekannt gegebene Entscheidung begründete Marine Le Pen damit, nicht allein ihre Partei repräsentieren zu wollen, sondern „all jene, die den nationalen Kampf führen wollen“.
Um ihre Wählerschaft zu verbreitern, hat Marine Le Pen zweitens den Diskurs ihrer Partei verändert. Den explizit diskriminierenden und xenophoben Äußerungen ihres Vaters lässt Marine Le Pen ein Vokabular folgen, das sich zu den Grundwerten Frankreichs – ihrem Verständnis von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – bekennt und den Eindruck vermitteln soll, die Partei sei die Schutzpatronin aller Franzosen. Im "Namen des Volkes" und „Für alle Franzosen“, wie ihre Slogans für die Präsidentschaftswahlen 2017 und 2022 lauteten, verteidigt Marine Le Pen nach eigenen Angaben die Identität, die Werte und die Souveränität des Landes – gegen den Islam, gegen korrupte Politiker, gegen die Macht Brüssels und gegen eine vermeintlich ausufernde Globalisierung.
Die Themen der Partei hat sie systematisch erweitert. Die einstige auf das Thema Immigration reduzierte Randpartei befasst sich mittlerweile mehrheitlich mit wirtschaftlichen und sozialen Themen und Fragestellungen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 machte es dieser Fokus der Parteivorsitzenden möglich, auf die wirtschaftliche Schieflage Frankreichs einzugehen. In den 2010er Jahren lag die Arbeitslosigkeit in Frankreich um 10 %. Ein Viertel der 18-24-jährigen suchte in Frankreich Arbeit – im Februar 2022 betraf es noch ein Sechstel der jungen Französinnen und Franzosen. Zum anderen ermöglicht der Fokus auf wirtschaftliche Fragen, über die besonderen Vorteile eines starken Staates zu sprechen. Frankreich, so Marine Le Pen, habe die Kontrolle über die eigene Wirtschaft verloren. Ausländische Finanzinteressen bestimmten die nationale Ökonomie, die zudem unter einer massiven Zuwanderung billiger Arbeitskräfte leide. Diesen Missständen könne allein der französische Staat entgegenwirken. Nur er könne die wirtschaftliche Genesung des Landes bewirken und prekäre Bevölkerungsgruppen schützen.
Bei den Präsidentschaftswahlen im April 2022 konnte Frankreich auf eine gute wirtschaftliche Lage blicken. Gleichwohl nutze es Marine Le Pen, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine die Energiepreise in Frankreich in die Höhe trieb. Das Thema „Kaufkraft“, auf das Le Pen seit den Gelbwesten-Protesten in Frankreich setzt, war 2022 meiner Einschätzung nach wahlentscheidend. Mit ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Aussagen spricht Marine Le Pen die gewichtigen Wählerschichten ihrer Partei an: Die am stärkstem um ihre Arbeitsplätze fürchtenden Arbeiterinnen und Arbeiter sowie die kleineren Angestellten im öffentlichen Dienst, die das RN im April 2022 zu 35 % (Arbeiterschaft) und zu 33 % (Angestellte im öffentlichen Dienst) im ersten Wahlgang wählen.
Der soziale Anstrich ihrer Partei hilft Le Pen natürlich auch dabei, die rechtsextremen Züge ihres Programms zu kaschieren. Nach wie vor ist es ein Kernanliegen Marine Le Pens, die Einwanderung nach Frankreich zu stoppen. Illegale Einwanderer will Le Pen durch einen verbesserten Grenzschutz aufhalten. Die legale Zuwanderung nach Frankreich soll dadurch begrenzt werden, dass Asylanträge allein im Ausland gestellt können und die Familienzusammenführung begrenzt ist. Französischen Staatsbürgerinnen und -Bürgern will sie eine „nationale Priorität“ bei der Vergabe von Arbeitsplätzen und Sozialleistungen einräumen, das Abstammungsrecht will sie ändern: die französische Staatsbürgerschaft soll nach ihrem Willen allein für bestimmte Verdienste, nicht aber durch das Geburtsortprinzip vergeben werden. Die Migrationspolitik ist für Marine Le Pen eng verbunden mit der Frage der nationalen Identität und der inneren Sicherheit. Beide sieht sie durch die Zuwanderung bedroht.
Schließlich hat Marine Le Pen in den vergangenen Jahren viel investiert, ihr eigenes Image zu verbessern. Im Rennen um das Präsidentenamt zeigte sie sich 2022 viel ruhiger und besonnener. Sie suchte die Nähe der Wählerinnen und Wähler und versuchte, ihr Bild einer "Volkstribunin" zugunsten desjenigen einer fürsorglichen Politikerin zu ändern. Mit Erfolg: Mitte April 2022 gaben in einer Meinungsumfrage 46 % der Befragten an, Marine Le Pen kenne die Probleme der Bevölkerung. Emmanuel Macron attestierten diese Kenntnis lediglich 25 % der Befragten. Im Vergleich zu Marine Le Pen schnitt der amtierende Präsident auch bei der Frage danach, wer die „Zustände des Landes“ verändern wolle, deutlich schlechter ab: 41 % der Befragten bescheinigten dem Präsidenten einen Gestaltungswillen, gut 20 % mehr sahen diesen auf Seiten Le Pens (63 %). Die langjährige Vorsitzende des rechtsextremen Rassemblement National wird schließlich auch als weniger „autoritär“ angesehen als Präsident Macron (51 % der Befragten finden Le Pen autoritär; 55 % den Präsidenten).
Bruchlinien der französischen Gesellschaft als Stärke des FN/RN
Die zweite Erklärung für den Erfolg der Partei liegt in den Veränderungen, die in der französischen Gesellschaft aufgetreten sind. Diese haben neue Wählerinteressen entstehen lassen, die Marine Le Pen für sich zu nutzen sucht. So hat sie erkannt, dass etwa einige französischen Katholiken antimuslimisch rassistisch eingestellt sind und ein ausgeprägtes „Schutzbedürfnis“ gegen „den Islam“ verspüren, der ihrer Meinung nach in Frankreich immer sichtbarer werde. Anlässlich der Regionalwahlen vom Dezember 2015 votierten im landesweiten Schnitt bereits 25 % der praktizierenden und 34 % der nicht-praktizierenden Katholiken für Marine Le Pens Partei, die etwa strengere Auflagen für den Bau von Moscheen und die getreue Anwendung des Prinzips des Laizismus fordert. Dies gehe einher mit dem Verbot, den Bau von Moscheen durch öffentliche Gelder zu unterstützen und das Tragen des Kopftuches im öffentlichen Raum verbieten zu wollen.
Im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen 2022 konnte Marine Le Pen 27 % der katholischen Wählerstimmen auf sich vereinen – landesweit stimmten im ersten Durchgang 23 % der Wählberechtigten für sie. Rechnet man zu diesem Ergebnis die 10 % der katholischen Stimmen hinzu, die der rechtsextreme Kandidat Eric Zemmour im ersten Wahlgang erhalten hat, zeigt sich, dass sich Le Pens lange Fürsprache für diese Wählergruppe auszahlt: Mit zusammengenommen 37 % der Stimmen aus dem katholischen Milieu lagen Le Pen und Zemmour am 10. April 2022 deutlich vor Emmanuel Macron, den 29 % der Katholiken an den Wahlurnen unterstützten.
Sehr früh hat sich Marine Le Pen darüber hinaus zur Fürsprecherin des ländlichen Raumes erklärt, insbesondere des vorstädtischen Raumes, der in Frankreich seit Jahren beachtlich wächst. Der Angst der Bewohner der französischen Vorstädte vor einem sozialen Abstieg, die in ähnlicher Weise auch durch einen zunehmenden Mangel an Infrastruktur und Daseinsvorsorge in den Dörfern befeuert wird, setzt sie seit Jahren das Versprechen entgegen, Strukturprogramme aufzulegen und einen flächendeckenden öffentlichen Dienst zu erhalten. 2022 hat dieses ländliche und vorstädtische Frankreich Präsident Macron besonders abgestraft. Dieser landete in der Stichwahl am 24. April 2022 mit 37 % der Stimmen knapp vor seiner rechtsextremen Kontrahentin, die 34 % der Zustimmung erhielt. Im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen von 2017 büßte der Präsident in diesem Raum indes 13 % der Zustimmung ein. Marine Le Pen hingegen konnte ihr Ergebnis um 4 % verbessern.
Mit der Forderung nach einem starken öffentlichen Dienst richtet sich Le Pen darüber hinaus an kleinere und mittlere Angestellte. Ein Stellenabbau im öffentlichen Dienst gilt als dringend geboten, wenn das Land seine Staatsverschuldung zurückfahren will, die 2021 zwischenzeitlich auf den Rekordwert von 18 % des Bruttoinlandsproduktes gestiegen ist. Um die 5,6 Millionen Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst zu erhalten, fordert Marine Le Pen beständig, die Globalisierung zurückzudrängen und die Macht der EU-Institutionen einzuschränken. Auch hier ist ihre Strategie von Erfolg gekrönt: 33 % der französischen Angestellten gaben Le Pen im ersten Durchgang der Präsidentenwahlen 2022 ihre Stimme – im Unterschied zu Emmanuel Macron, dessen Politik lediglich 18 % der Angestellten zustimmten. Auffällig an dieser sozialen Gruppe ist gleichzeitig, dass sie zu 80 % aus Frauen besteht, die – obgleich angestellt – die sehr oft in prekären Arbeitsverhältnissen sind, in Teilzeit arbeiten und mehrheitlich in sozialen Berufen sind, deren schwierige Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung von der Politik ignoriert werden.
Marine Le Pen wurde in der Stichwahl der Präsidentschaftswahlen 2022 deutlich stärker als Emmanuel Macron von Personen gewählt, deren monatliches Haushalteinkommen unter 1250€ liegt. Bereits 2017 zeigte sich bei den Präsidentschaftswahlen, dass jungen Frauen im Alter von 18-26 Jahren zu 32 % für Marine Le Pen stimmten. In der Regel scheuen Frauen vor der Wahl extremer Parteien zurück. Seit ihrer Wahl zur Parteivorsitzenden hat Marine Le Pen die Frauen aber gezielt als Zielgruppe ausgemacht – sie stellen in Frankreich 53 % der Wahlbevölkerung. Le Pen inszeniert sich daher selbst als Frau, als Mutter, als Frau, die arbeitet, aber gleichzeitig modern ist. Es zeigt sich, dass dieser Kurs verfängt: Bei Frauen, die den FN/RN allein unter der Führung von Marine Le Pen kennen, hat sich ihre Politik der Entdiabolisierung und ihre Banalisierung in der öffentlichen Wahrnehmung am stärksten ausgezahlt.
Dem schwachen Frankreich helfen – die beste Strategie
Zwischen 2017 und 2022 ist es Marine Le Pen sowohl aus geographischer wie auch aus soziologischer Perspektive heraus gelungen, Frankreich zu durchdringen. Während sie bei den Präsidentschaftswahlen 2017 nur in 2 der 101 Départements vor Emmanuel Macron lag, war dies 2022 in 29 Départements der Fall. In ihren traditionellen Hochburgen im Norden und Osten Frankreichs konnte Marine Le Pen ihr Wahlergebnis von 2017 im Schnitt um 5-7 % verbessern. Gleichzeitig ist es ihr gelungen, in die traditionell linken Regionen des Landes vorzudringen, die sich im (Süd)Westen befinden. In der Bretagne etwa konnte sie ihr Resultat von 2017 um 10 % verbessern, in der Dordogne und Haute-Vienne um etwa 12 %. Mit einem Plus von 15,32 % erzielte Le Pen in Corrèze ihren stärksten Stimmenzuwachs.
In den Parlamentswahlen vom Juni 2022 standen Kandidatinnen und Kandidaten des RN bei der Stichwahl um die 577 Sitze in der Assemblée in 110 Wahlkreisen Vertreterinnen und Vertretern des Wahlbündnisses von Emmanuel Macron (Ensemble!) gegenüber. Die Mehrheit der Duelle konnte das RN für sich entscheiden. Darüber hinaus ist es Marine Le Pen gelungen, ihre Wählerschaft zu verbreitern. 2022 ist ihre Wählerschaft generationsübergreifend: Sie lag bei den 24-64-jähigen Wählerinnen und Wählern vorn, Emmanuel Macron bei den 18-24-jährigen sowie – mit deutlichem Abstand zu Le Pen – bei den Rentnerinnen und Rentnern ab 65 Jahren. Deutlich vor Emmanuel Macron liegt Marine Le Pen auch 2022 bei den Arbeitern (35 % Le Pen, 17 % Macron) und den Angestellten (33 % Le Pen, 18 % Macron). Bei den Freiberuflern wie den Selbstständigen liegt sie 2022 nahezu gleichauf mit Präsident Macron. Marine Le Pens Einfluss verlagert sich somit vom „Frankreich von unten“ mehr und mehr in die Mittelschichten. Das zeigt sich auch daran, dass sie in der Stichwahl um das Präsidentenamt Stimmen aus allen politischen Lagern erhalten hat.
Es ist heute auch der Berufsabschluss, der eine Wahl Marine Le Pens zur Präsidentin Frankreichs verhindert. Wählerinnen und Wähler mit einem Bildungsabschluss Abitur oder höher wählten auch 2022 mit deutlicher Mehrheit für Emmanuel Macron. So wird auf lange Sicht vermutlich nur eine Bildungs- und Ausbildungsoffensive Frankreich von einem rechtsextremen Experiment abhalten.
Bei diesem Text handelt es sich um eine vollständige Aktualisierung eines vorherigen Texts von 2017.