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Die ursprüngliche Version dieses Textes wurde am 16.03.2017 veröffentlicht und am 15.11.2024 aktualisiert.
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Die Niederlande sind seit über 20 Jahren mit rechtspopulistischen Parteien konfrontiert. Bei den Wahlen 2023 wurde schließlich mit Geert Wilders' "Partij voor de Vrijheid" erstmals eine rechtsradikale Partei Wahlsieger.
Die ursprüngliche Version dieses Textes wurde am 16.03.2017 veröffentlicht und am 15.11.2024 aktualisiert.
Erst führte er einen kleinen Freudentanz auf, dann schlug er die Hände vors Gesicht. Auch Geert Wilders konnte es kaum fassen: Mit einem deutlichen Vorsprung hatte seine islam- und europafeindliche Partij voor de Vrijheid PVV die vorgezogenen
Knapp 24 Prozent und 37 der 150 Parlamentssitze hatte die PVV erobert, zwölf mehr als das neue Linksbündnis PvdA/GL,
Fast 20 Jahre lang hatte Wilders auf diesen Moment gewartet. 20 Jahre, in denen der inzwischen 60-Jährige von der Opposition aus die Politik mit provokanten Sprüchen aufmischte und auch jenseits der niederländischen Grenzen für Unruhe sorgte – man denke etwa an seinen 16 Minuten langen islamkritischen Film Fitna, den er 2008 ins Internet stellte. Aus Angst vor Anschlägen wütender Muslime hatte die Regierung in Den Haag damals die Terrorwarnstufe erhöht. Wilders scheut sich nicht zu polarisieren, auch wenn er dafür einen hohen Preis bezahlt und aufgrund der vielen Morddrohungen rundum die Uhr bewacht werden muss. "Ein Händler in Sachen Angst" hat ihn der niederländische Schriftsteller Geert Mak bereits 2005 genannt. “Wilders bietet den Wählern ein parlamentarisches Ventil für ihre Ängste vor Überfremdung”, sagt etwa Sarah de Lange, Professorin für politischen Pluralismus an der Universität von Amsterdam. "Er weiß wie kein anderer, die allgemeine Verunsicherung zu nutzen.”
Hinzu kommt die Politikverdrossenheit der niederländischen Wähler, die sich spätestens mit Ruttes viertem und letztem Vierparteien-Kabinett 2022 eingestellt hatte – einer Neuauflage von Ruttes dritter Koalitionsregierung (2017-2022), die von Affären und Pannen geprägt war. Zum Beispiel dem kindertoeslagen-schandaal. Dabei ging es um die Beihilfe für die Kinderbetreuung. Kindergeld bekommen in den Niederlanden alle Eltern, die Betreuungsbeihilfe hingegen ist abhängig von der finanziellen Situation. Rund 20.000 Eltern, vor allem alleinerziehende Mütter mit Migrantenhintergrund, waren vom Finanzamt zu Unrecht als Betrügerinnen und Betrüger abgestempelt worden und mussten sich hoch verschulden, um das angeblich über viele Jahre hinweg unrechtmäßig erhaltene Geld zurückzuzahlen. Ganze Existenzen wurden ruiniert, viele der Betroffenen verloren ihren Job und ihre Wohnung, da sie die Miete nicht mehr bezahlen konnten; manche daraufhin sogar das Sorgerecht, sprich: ihre Kinder.
Die Regierung musste wegen des Skandals im Januar 2021, kurz vor den Parlamentswahlen, zurücktreten. Sie entschuldigte sich und versprach Entschädigungszahlungen. Doch die verlaufen nach wie vor schleppend. Das gilt auch für die Opfer der Erdgasgewinnung in der Provinz Groningen, wo es jahrzehntelang zu Erdbeben kam und Tausende von Häusern beschädigt wurden – der zweite Langzeitskandal aus der Ära Rutte.
Nach den Wahlen im März 2021, während der Koalitionsverhandlungen, verstrickte sich Mark Rutte dann auch noch in Lügen und erweckte den Eindruck, den Mann, der den Skandal um die kindertoeslagen aus dem Parlament heraus aufgeklärt hatte, auf einen unbedeutenden Posten abschieben zu wollen: den christdemokratischen Abgeordneten Pieter Omtzigt. Der gründete daraufhin eine eigene Partei: den Nieuw Sociaal Contract NSC (Neuer Sozialvertrag).
Hinzu kamen Coronapandemie und Inflation, hohe Mieten, Wohnungsnot, zu wenig Krankenhausbetten, steigende Kosten für Gesundheit, Lebensmittel, Strom und Gas.
Was die Unzufriedenheit weiter anschwellen ließ: die Flüchtlingssituation in dem Land. Viele Wähler machen sie für die Wohnungsnot verantwortlich und klagen darüber, dass Asylbewerber vorrangig behandelt werden würden, auch bei der Jobsuche, in Schulen und in Krankenhäusern.
Missstände in der zentralen Flüchtlingsanmeldestelle ter Apel im Nordosten des Landes scheinen diesen Eindruck zu bestätigen: Dort kommt es immer wieder zu menschenunwürdigen Zuständen; Bilder von Flüchtlingen, die im Freien schlafen müssen, gingen im Sommer 2022 um die Welt. Nach wie vor fehlt es im ganzen Land an Betten. In vielen Gemeinden werden leerstehende Krankenhäuser zu provisorischen Flüchtlingsheimen umfunktioniert, Hotels, Fabrikgebäude, Gefängnisse, Altenheime, Sporthallen. Und vielerorts kam und kommt es dort dann auch zu Protesten von Anwohnern. “Die Wähler haben gesagt, dass sie es satt haben – sowas von satt!”, jubilierte Wilders nach seinem Wahlsieg und versprach: “Wir werden den Asyltsunami eindämmen! Wir sorgen dafür, dass die Niederländer wieder an erster Stelle stehen!”
Tatsächlich ist die Wohnungsnot auch in den Niederlanden sehr hoch und derzeit eines der größten Probleme überhaupt. Es fehlt an rund 400.000 Wohnungen. Die Ursachen allerdings sind vielfältig: So hat die Finanzkrise der Jahre 2008 bis 2014 den Wohnungsbau in den Niederlanden so gut wie lahmgelegt. Verantwortung aber trägt auch die Regierung: Sie hat das Problem unterschätzt. Das Wohnungsbauministerium wurde 2017 sogar für überflüssig befunden und abgeschafft. Stattdessen vertraute das rechtsliberale Kabinett um Rutte auf den Markt. Die Folge: Es fehlt nicht nur an Wohnraum, er ist auch unbezahlbar geworden. Mieten und Immobilienpreise sind extrem stark gestiegen.
Was die Rede vom Asyltsunami angeht: Beim Blick auf die tatsächlichen Zahlen zeigt sich ein anderes Bild. Die Niederländer lagen mit 37.020 Asylanträgen im Jahr 2022 innerhalb der EU auf Platz sieben. Mit Blick auf die Gesamtbevölkerung entspricht das ungefähr dem Durchschnitt der EU. Aber, so Assistenz-Professorin Léonie de Jonge vom Dokumentationszentrum für politische Parteien der Universität Groningen, die ab Januar 2025 die neu eingerichtete Professur für Rechtsextremismusforschung IRex an der Universität Tübingen übernehmen wird: “Flüchtlinge sind ein dankbarer Sündenbock für Dinge, die in einer Gesellschaft schief gehen.”
Tatsächlich sind Missstände wie in ter Apel auf Einsparungen und das Streichen von Stellen bei der Ausländerbehörde zurückzuführen: “Die Zahl der Asylbewerber ist in den letzten Jahren eigentlich stabil geblieben”, stellt der Amsterdamer Migrationsforscher Hein de Haas klar. “Die Probleme, die wir haben, sind auf mangelnde Kapazitäten zurückzuführen, es gibt zu wenig Auffangplätze. Wir haben keine Asylkrise, wir haben eine Auffangkrise. Und das hat mit politischem Willen zu tun.”
Von allen Menschen, die in die Niederlande immigrieren, sind die Flüchtlinge mit 11 Prozent die kleinste Gruppe – aber bislang die meistbeachtete. Der Anteil der internationalen Studenten liegt fast doppelt so hoch. Größte Einwanderer-Gruppe sind die Arbeitsmigranten und ihre Familienmitglieder: Sie machen gut 50 Prozent aller Migranten in den Niederlanden aus – und belasten Wohnungsmarkt, Gesundheitssystem und Schulwesen dementsprechend mehr.
Mitverantwortlich für den als historisch geltenden Wahlsieg der PVV sind neben Skandalen, Affären und der anschwellenden Unzufriedenheit der Wähler auch mehrere Strategiefehler der Rechtsliberalen von Rutte. Der wichtigste: In der letzten heißen Wahlkampfphase schloss Ruttes Nachfolgerin, die ehemalige Justizministerin Dilan Yesilgöz, erstmals nach mehr als 12 Jahren eine Koalition mit Wilders nicht länger aus. Rutte hatte sich nur ein einziges Mal auf das Wagnis einer Zusammenarbeit mit Wilders eingelassen. 2010 formte er mit den Christdemokraten eine von Wilders geduldete Minderheitsregierung. Die aber ließ Wilders schon zwei Jahre später, mitten in einer schweren Wirtschaftskrise, platzen. “Nie wieder!” kündigte Rutte daraufhin an, damit habe sich der PVV-Chef als unfähig erwiesen, Regierungsverantwortung zu tragen. Fortan sorgte Rutte dafür, dass die PVV in der niederländischen Politik konsequent isoliert wurde und in der Opposition blieb.
Das ging so lange gut, wie Rutte VVD-Parteichef und Ministerpräsident war. Doch dann, im Sommer 2023, liess die VVD die erst Anfang 2022 gebildete Vierparteienkoalition völlig unerwartet am Streit über die Asylpolitik auseinanderbrechen. Sie bestand auf einer Beschränkung des Familiennachzugs, das jedoch lehnten die Koalitionspartner ab. Bei den Neuwahlen wollten die erfolgsverwöhnten Rechtsliberalen nun Migration zum wichtigsten Wahlkampfthema machen, um dann – das jedenfalls war der Plan – ein weiteres Mal Wahlsieger zu werden und mit Rutte erneut den Premierminister zu stellen. Ein Schuss, der nach hinten losging: Nicht nur, weil Rutte kurz nach dem Auseinanderfallen des Kabinetts und ebenfalls völlig unerwartet bekannt gab, sich von der Politik zu verabschieden. Er wollte nicht als Spitzenkandidat der VVD in den nächsten Wahlkampf ziehen und äußerte stattdessen Interesse, im Oktober 2024 als NATO-Chef die Nachfolge von Jens Stoltenberg anzutreten. Die damalige VVD-Justizministerin Dilan Yeşilgöz trat daraufhin Ruttes Nachfolge an: Als erste Frau und erste Person mit Migrantenhintergrund wollte sie Ministerpräsidentin der Niederlande werden. Das Eindämmen des Flüchtlingsstroms war ihr Hauptanliegen, mit dem sie sich zu profilieren versuchte. Damit aber, und in dieser Hinsicht waren sich viele Wahlforscher*innen und Politolog*innen einig, machte sie die VVD zu einer Art PVV light: “Und das funktioniert nicht!”, sagt auch Léonie de Jonge. “Die Wähler*innen wollen immer das Original und nicht die Kopie.”
Zweiter Strategiefehler der VVD: Anders als Rutte, der Wilders kategorisch ausgeschlossen hatte, öffnete Yeşilgöz in der letzten Wahlkampfphase die Tür einen Spalt weit und schloss eine Koalition mit der PVV nicht mehr länger aus. Damit war eine Stimme für Wilders nach gut zwölf Jahren auf einmal keine verlorene Stimme mehr.
So kam es, dass die PVV in den letzten Tagen vor den Wahlen zu einem überraschenden Aufholmanöver ansetzte, nachdem sich drei Parteien in den Umfragen monatelang ein Kopf-an-Kopf-Rennen geliefert hatten: die rechtsliberale VVD, das neue von Frans Timmermans angeführte Linksbündnis aus Grünen und Sozialdemokraten und der christlich-konservative “Neue Soziale Kontrakt” (NSC) des ehemaligen Christdemokraten Pieter Omtzigt, der den Skandal um die Kinderbeihilfe aufgeklärt hatte. Aus diesem Dreikampf machte Wilders auf der Zielgeraden einen Vierkampf.
In den letzten TV-Debatten vor den Wahlen wusste Wilders, inzwischen Dienstältester Abgeordneter in Den Haag, dann auch noch mit starken Auftritten zu punkten. Seine unerfahrenen Konkurrenten Yeşilgöz und Omtzigt und sogar Timmermans konnten ihm nicht das Wasser reichen. In Umfragen kürten ihn die Zuschauer wiederholt zum Debattensieger. Außerdem spricht Wilders eine einfache Sprache, die jeder versteht, und nimmt kein Blatt vor den Mund. Dabei legt er den Finger auf wunde Punkte, also auf tatsächlich existierende Probleme, wie etwa hohe Mieten, Wohnungsmangel, gestiegene Lebenshaltungskosten oder zunehmende Armut – allerdings ohne wirkliche Lösungen zu bieten.
Ein weiterer Grund für Wilders Erfolg: Er verteidigt populäre Positionen. Auf kultureller Ebene gibt er sich rechtskonservativ, sprich: nationalistisch und migrationsfeindlich, auf sozial-wirtschaftlicher links – allerdings auch hier fremdenfeindlich: So etwa fordert er mehr Krankenhausbetten – aber nur für Henk und Ingrid, nicht für Fatima und Mohammed.
Ehe die 2006 gegründete PVV die politische Bühne betrat, gab es bereits eine verhältnismäßig erfolgreiche rechtspopulistische Partei in den Niederlanden: die "Liste Pim Fortuyn" (LPF) – benannt nach jenem Soziologieprofessor, der um die Jahrtausendwende für den Einzug des Rechtspopulismus in das Land gesorgt hatte. Pim Fortuyn hatte als erster die Schattenseiten der bis dahin vergleichsweise liberalen niederländischen Einwanderungspolitik angeprangert und diese an den Islam gekoppelt – für ihn eine "rückständige Kultur".
"Integration unter Beibehaltung der eigenen Kultur" lautete das Motto der damals noch zwanglosen und als vorbildlich geltenden niederländischen Einwanderungspolitik, die kaum Forderungen stellte. Die meisten Einwanderer landeten in alten Großstadtvierteln, die aufgrund hoher Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität ohnehin schon unter Druck standen und in denen nun Parallelwelten entstanden.
Fortuyn plädierte deshalb für einen vorläufigen Zuwanderungsstopp. Erst einmal müssten die 1,7 Millionen Immigranten, die sich bereits in den Niederlanden befänden, anständig integriert werden: "Bei laufendem Wasserhahn lässt es sich schlecht aufwischen."
Zu jenem Zeitpunkt (und seit 1994) regierte in den Niederlanden das so genannte "lila Kabinett" aus Sozialdemokraten, Rechts- und Linksliberalen. "Erstmals waren Kontrahenten vereint, die bis dahin als unvereinbar gegolten hatten", erklärt der Groninger Politologieprofessor Gerrit Voerman. "Damals entstand in Teilen der Gesellschaft das Gefühl, dass in Den Haag alle unter einer Decke steckten. Außerdem überhörte diese Regierung geflissentlich alle Klagen über Probleme der Einwanderung. So konnte sich die für den Populismus so typische Kluft zwischen Volk und Elite bilden."
Vor allem in den alten Großstadtvierteln wuchs der Unmut – auch in Rotterdam. Bis Fortuyn dort 2002 bei den Kommunalwahlen ein erstes politisches Erdbeben verursachte: Aus dem Stand heraus eroberte seine bis heute bestehende Lokalpartei "Leefbaar Rotterdam" (lebenswertes Rotterdam) 17 der 45 Sitze im Gemeinderat.
Die etablierten Parteien mühten sich, Fortuyn zu dämonisieren und ansonsten zu ignorieren – offenbarten damit aber nur ihre Hilfslosigkeit. Sie wussten nicht, wie sie mit dem exzentrischen Shootingstar am Polithimmel umgehen sollten – erst recht nicht, als dieser nach seinem Wahlerfolg in Rotterdam beschloss, sich mit der “Liste Pim Fortuyn”, kurz LPF genannt, nun auch den Parlamentswahlen vom 15. Mai 2002 zu stellen.
Doch dann, neun Tage vor diesen Wahlen, wurde Fortuyn auf einem Parkplatz in Hilversum von einem linksradikalen Tierschutzaktivisten niedergeschossen und starb kurz darauf im Krankenhaus. Der Täter hatte in ihm eine wachsende Gefahr für die Gesellschaft gesehen. Fortuyn hinterließ eine Partei, die bei den Wahlen 2002 zwar auf Anhieb 17 Prozent erreichte und zusammen mit Christdemokraten und Rechtsliberalen eine Regierungskoalition bildete. Innerlich jedoch war die LPF so zerrissen, dass sie sich 2008 auflöste.
Wilders hatte seine PVV zu diesem Zeitpunkt bereits gegründet. Er sieht sich als rechtmäßiger Erbe Fortuyns, ist aber weitaus extremer als dieser: Verglichen mit Wilders war Fortuyn allerhöchstens ein populistischer Rechtsexzentriker, der längst fällige Tabus brach, dem aber liberale Prinzipien wie die Religionsfreiheit heilig waren. Nie wäre es Fortuyn in den Sinn gekommen, Moscheen oder den Koran zu verbieten. Wilders hingegen gesteht die Freiheit, die er für sich selbst beansprucht, in diesem Falle die Religionsfreiheit, Muslimen nicht zu.
Seine politische Karriere begann Ende der 1990er-Jahre bei den Rechtsliberalen. Doch wegen seiner extremen Auffassungen hatte er sich im Streit von der VVD getrennt. Zunächst schien seine politische Karriere damit beendet. Doch dann verschaffte ihm ein zweites Attentat einen unverhofften Popularitätsschub: Im November 2004 wurde der islamkritische Regisseur Theo van Gogh mitten in Amsterdam von einem Islamisten regelrecht hingerichtet – ein zweiter politischer Mord innerhalb von nur zwei Jahren, der die niederländische Gesellschaft aus den Angeln hob. Die Kluft zwischen Migranten und Alteingesessenen, die sich bereits nach den New Yorker Terroranschlägen aufgetan hatte, wurde noch größer. Bei den Parlamentswahlen 2006 gewann Wilders’ soeben erst gegründete PVV aus dem Stand heraus sechs Prozent und neun der 150 Abgeordnetensitze.
Dabei ist sie bis heute keine richtige Partei, hat sie doch nur ein einziges Mitglied: Geert Wilders. In Deutschland würde die PVV anders als in den Niederlanden nicht zu Wahlen zugelassen. Auf diese Weise hält Wilders die Kontrolle über die Ausrichtung seiner Fraktion.
Inhaltlich hat sich an seinem Parteiprogramm seit 2006 kaum etwas geändert. Seine Rhetorik allerdings ist härter geworden – und der Umgangston im Parlament rauher: So etwa bezeichnete es der PVV-Abgeordnete Gidi Markuszower im November 2021 als “widerwärtig”, dass die Regierung ihr eigenes Volk mit Füssen trete, aber “Glückssucher aus Afrika und zurückgebliebene Sandkastenländer des Mittleren Ostens verhätschelt”. Die niederländische Asylpolitk sei ein einziges großes Verbrechen am niederländischen Volk: “Ihr solltet alle vor ein Tribunal gestellt und zur Rechenschaft gezogen werden”, so Markuszower.
Auch Wilders vergreift sich oft im Ton. “Doe normaal, man!” (“Komm runter, Mann!”) herrschte er Premierminister Rutte während einer Parlamentsdebatte an. Journalisten sind für ihn tuig van de richel, gesellschaftlicher Abschaum. Muslimas tragen keine Kopftücher sondern kop-vodden, Schädelfetzen, und sollten eine Schädelfetzensteuer zahlen, een kopvoddentax. Als die Amsterdamer Bürgermeisterin Femke Halsema am 7. Oktober 2024, dem ersten Jahrestag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel, eine pro-palästinensische Gegendemonstration in Amsterdam erlaubte, twitterte Wilders: “Raus aus dem Land mit dem Pack. Und Halsema gleich mit.”
Die Empörung war groß, aber Wilders dachte und denkt nicht daran, seinen Ton zu mäßigen. Einmal wurde er deshalb bereits der Gruppenbeleidigung und Anstiftung zur Diskriminierung von einem Gericht für schuldig befunden:
Weil er nach den Kommunalwahlen im März 2014 in einem vollbesetzten Saal seine Anhänger gefragt hatte, ob sie sich mehr oder weniger Marokkaner in den Niederlanden wünschten. "Minder! Minder!" brüllte der Saal. Worauf Wilders versprach: "Dann werden wir das regeln."
Ausländerfeindliche Parolen wie diese sind in den Niederlanden inzwischen salonfähig geworden. Womit Wilders bewies, dass man auch ohne formelle Macht Einfluss haben und die Grenzen der Normalität verschieben kann. Neben Wilders’ PVV versuchen inzwischen neue kleine Rechtsaußen-Parteien, die Grenzen des bisher Sagbaren stetig weiter zu verschieben. Die niederländische Parteienlandschaft ist zersplittert, es gibt keine Fünf Prozent-Hürde. So kam es, dass Wilders’PVV nicht mehr die einzige am rechten Parteienrand ist. Von einer der neuen Splitterparteien musste sich Wilders sogar rechts überholen lassen: dem Forum voor Democratie (FvD) von Thierry Baudet – inzwischen allerdings dezimiert, durch innere Streitereien zerrissen und antisemitische Sprüche in Verruf geraten. Das FvD gilt als rechtsextreme Partei – und bietet Wilders die Möglichkeit, sich als gemässigte Alternative zu präsentieren.
Doch die Grenzen zwischen rechtspopulistisch, rechtsradikal und rechtsextrem sind fließend; eine wachsende Zahl von Politolog*innen plädiert deshalb dafür, einheitlich von Rechtsaußenparteien zu sprechen.
Denn auch wenn die PVV nicht mit dem rechtsextremen FvD gleichgesetzt werden kann, auch wenn sich Wilders von jeglicher Gewalt distanziert und als ausgesprochener Freund Israels weder als antisemitisch noch als faschistisch bezeichnet werden kann: Die Ideologie, die er vertritt, birgt Gefahren für die Demokratie. So etwa stehen die Rechte von Minderheiten unter Druck.
Braune Flecken auf seinem Image hat er bislang zwar zu vermeiden versucht, doch auf seiner Suche nach Bündnispartnern in Brüssel scheint er Berührungsängste mit rechtsextremen Parteien abgelegt zu haben. Nur mit der AfD will er nach wie vor nichts zu tun haben. Im Sommer 2024 stimmte Wilders in Brüssel dafür, sie aus der rechtsradikalen ID-Fraktion zu werfen. Ihr gehörte auch die PVV bis vor kurzem an, doch Wilders hat angekündigt, sich der neuen Allianz “Patrioten für Europa” anschließen zu wollen, der unter anderem der französische
Am 2. Juli 2024, nach sieben Monaten zäher Verhandlungen, ist in Den Haag Wilders’ erstes Kabinett angetreten: eine Koalition aus seiner PVV, der konservativ-liberalen VVD, der neuen Mitte-Rechts-Partei NSC von Pieter Omtzigt und der neuen BauerBürgerBewegung BBB von Caroline van der Plas, entstanden aus den Bauernprotesten der letzten Jahre.
“Wir schreiben Geschichte”, sagte Wilders bei der Präsentation der Koalitionsvereinbarung und versprach den Wählern mehr Wohnungen, weniger Umweltauflagen und Flüchtlinge – sowie die “strengste Asylpolitik, die es je gab”.
Allerdings hatte Wilders eine ganze Reihe von Zugeständnissen machen müssen, um seine “Traum-Koalition”, wie er sie nannte, zustande kommen zu lassen. Ein großer Teil des PVV-Wahlprogramms wurde auf Eis gelegt, darunter das Schließen aller Moscheen und der Nexit, also der EU-Austritt der Niederlande. Wilders’ größtes Zugeständnis aber ist der Verzicht auf das Amt des Ministerpräsidenten: Zusammen mit den Fraktionschefs der drei anderen Parteien bleibt er im Parlament auf der Abgeordnetenbank sitzen. Nur unter dieser Bedingung waren zwei der drei Koalitionspartner, VVD und NSC, bereit, sich doch noch auf die PVV einzulassen. Beide bestanden auch auf einer gemeinsamen Erklärung, in der die vier Parteien versichern, Rechtsstaat und Grundrechte zu respektieren.
Für den Posten des Premierministers einigten sich die vier Parteien auf einen externen Experten, den parteilosen früheren Beamten Dick Schoof, ehemals Chef des Geheimdienstes und der Antiterrorbehörde. Wilders beklagte zwar, wie schwer ihm der Verzicht auf den Posten des Premierministers falle und wie ungerecht das sei. Andererseits kann er auf der Abgeordnetenbank weiterhin das tun, was er seit 20 Jahren perfekt beherrscht: von der Seitenlinie aus attackieren, ohne Verantwortung zu übernehmen. Sobald sein Kabinett etwas falsch macht, kann er die Schuld weit von sich weisen und stattdessen auf den Mann deuten, der an seiner Stelle Ministerpräsident geworden ist: Dick Schoof.
Zu einem ersten peinlichen Zusammenprall kam es bereits vor der Sommerpause während der Parlamentsdebatte über die Regierungserklärung, als zwei PVV-Ministerinnen von einer Oppositionsabgeordneten als Rassistinnen bezeichnet wurden. Wilders warf Schoof vor, sie nicht genug verteidigt zu haben: “Das war schlapp!” herrschte er Schoof, der sichtlich aus dem Gleichgewicht geriet, öffentlich an.
Wie lange geht das gut? Mit ihrem externen Ministerpräsidenten haben sich die Niederländer auf politisches Neuland begeben. Viele der neuen PVV-Minister und -Staatssekretäre sind aufgrund ihrer extremen Standpunkte umstritten. Und so manches Vorhaben dürfte sich aufgrund internationaler Verträge, nationaler Gesetze oder auch nur aufgrund der zu erwartenden Kosten nicht realisieren lassen. So soll etwa gegen den Willen der Kommunen die Grundversorgung abgewiesener Asylbewerber – Bed, Bad, Brood, wie sie hier heißt – weiter eingeschränkt werden. Und ein gerade erst eingeführtes Gesetz, das für eine gerechtere Verteilung von Asylbewerbern übers Land sorgen würde, möchte die neue Regierung wieder abschaffen. Obwohl das die Gemeinden rund um das zentrale Auffanglager ter Apel entlastet hätte. Ausserdem erwägt die Regierung, abgelehnte Asylbewerber nach Uganda auszufliegen. PVV-Asylministerin Marjolein Faber schlug sogar vor, am Eingang von ter Apel Schilder aufzustellen mit den Worten: “Hier wird an eurer Rückkehr gearbeitet.”
Alles Maßnahmen, um Flüchtlinge abzuschrecken, die Niederlande als Zielland möglichst unattraktiv zu machen – und die Wähler “mit der strengsten Asylpolitik die es jemals gab” bei der Stange zu halten.
Bisher allerdings ist es bei Worten geblieben und die Zusammenarbeit alles andere als reibungslos verlaufen. Nach rund 100 Tagen musste das neue Kabinett bereits seine erste grosse Krise meistern: Wilders wollte das Asylrecht per Not-Verordnung verschärfen – und damit das Parlament umgehen. Nur so könne der “konstante Zustrom unendlich vieler Asylbewerber” effektiv und schnell gestoppt werden. Doch für die Anwendung des Notstandsrechts braucht es handfeste Gründe, wie Sturmflut-Katastrophen oder Kriege. Von einer Ausnahmesituation aufgrund “unendlich vieler Asylbewerber” aber kann Experten zufolge bei rund 40.000 Asylanträgen pro Jahr keine Rede sein. Für Koalitionspartner NSC, eine Partei, die sich als Schützer von Demokratie und Rechtsstaat sieht, kam ein Noterlass ohne handfeste Begründung nicht in Frage. Der parteilose Premierminister Dick Schoof setzte die beiden Parteichefs daraufhin an einen Tisch und vermittelte so lange, bis einer nachgab. Das war Wilders. Denn auf Neuwahlen wollte auch er es nicht ankommen lassen; das Risiko, wieder in der Opposition zu landen, war zu groß.
Im Gegenzug wurden ihm neue Maßnahmen zur Verschärfung des Asylrechts zugesagt: So etwa sollen bestimmte Teile von Syrien für sicher erklärt werden. Anerkannte Flüchtlinge verlieren das Recht auf eine reguläre Wohnung; die Regierung will Notunterkünfte für sie schaffen. Der Familiennachzug soll nur noch für Eheleute und minderjährige Kinder gelten. Und der Asylstatus auf maximal drei Jahre begrenzt werden. Alle diese Maßnahmen will das Kabinett nun auf regulärem Weg umsetzen, sprich: durch das Parlament bringen. In der ersten Kammer allerdings, dem Senat, hat die Regierung anders als im Abgeordnetenhaus keine Mehrheit. Fraglich auch, ob das Ziel – weniger Asylbewerber – mit den Maßnahmen überhaupt erreicht werden kann. “Die Zahl der Flüchtlinge wird von Kriegen und der weltpolitischen Lage bestimmt”, sagt die Amsterdamer Asylanwältin Maartje Terpstra. “Wer flüchten muss, schaut nicht, wie lange eine Aufenthaltsgenehmigung gültig ist, sondern wo er sicher ist.”
Fest steht bislang nur eines: In den Niederlanden sind fragile politische Zeiten angebrochen.
Kerstin Schweighöfer hat Romanistik, Politologie und Kunstgeschichte studiert und die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg absolviert. Seit mehr als 25 Jahren lebt sie in den Niederlanden und berichtet von dort für eine ganze Reihe von Medien als Auslandskorrespondentin.
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