Eine der zentralen Widersprüchlichkeiten der globalen Gesellschaft der Gegenwart betrifft die Ambivalenz von Öffnungs- und Schließungsprozessen. Eine solche Zwiespältigkeit lässt sich auf verschiedenen Ebenen festmachen. Sie findet sich zum einen im Bereich der sozialen Ungleichheit, in der Gegenläufigkeit zwischen dem Aufstieg und der sozialen Mobilität einer neuen globalen Mittelklasse, vor allem in Asien und Lateinamerika, und der ‚schließenden‘ Zementierung einer neuen, post-industriellen Unterklasse, vor allem in den Industriegesellschaften. Die Ambivalenz zwischen Öffnung und Schließung lässt sich jedoch auch auf der Ebene der kulturellen Lebensformen und den sie tragenden institutionellen Ordnungen beobachten, um die es mir im Folgenden geht: Auf der einen Seite findet in der Spätmoderne eine historisch außergewöhnliche kulturelle Öffnung der Lebensformen statt, eine Pluralisierung von Lebensstilen, verbunden mit einer Öffnung und Pluralisierung von Geschlechternormen, Konsummustern und individuellen Identitäten, wie sie vor allem von der globalen Mittelklasse getragen wird und sich in den globalen Metropolen konzentriert. Gleichzeitig beobachten wir jedoch weltweit an verschiedenen Orten Tendenzen einer kulturellen Schließung von Lebensformen, in denen eine neue rigide Moralisierung stattfindet. Das Spektrum derartiger Schließungen reicht von den partikularen Identitätsgemeinschaften über einen Neo-Nationalismus bis hin zu den religiösen Tendenzen des Fundamentalismus. Die Öffnung der Kontingenz von Lebensformen einerseits, der Versuch ihrer moralischen Schließung andererseits, die wir seit der Jahrtausendwende beobachten, bilden damit zwei Tendenzen der globalen Gegenwartsgesellschaft, die vollständig unvereinbar erscheinen.
Wie ließen sich beide Tendenzen nun informativ untersuchen? In der öffentlichen Debatte wird wiederholt auf ein einfaches, aber wirkungsvolles Theorieangebot zurückgegriffen: auf Samuel Huntingtons These eines „Kampfs der Kulturen“, wie er sie 1993 entwickelt hat.
Muss man den genannten Widerspruch zwischen Schließung und Öffnung von Lebensformen letztlich nicht als einen Kulturkonflikt zwischen der westlichen Kultur des Liberalismus und diversen, östlichen oder südlichen, kollektivistischen Kulturen um die globale Dominanz deuten? Ich will dem Modell Huntingtons, das unterkomplex bleibt, nicht folgen und stattdessen eine alternative Lesart skizzieren: Ich denke tatsächlich, dass wir, um die globale Spätmoderne analytisch zu durchdringen, ohne das Konzept der Kultur nicht auskommen. Dies soll und muss jedoch in einer anderen Weise als bei Huntington geschehen.
Statt einen antagonistischen Kampf zwischen diversen Kulturen und ihren ‚kulturellen Mustern‘ zu behaupten, möchte ich die These ausführen, dass wir in der Spätmoderne einen sehr viel grundsätzlicheren Widerstreit zwischen dem beobachten können, was ich zwei konträr aufgebaute Regime der Kulturalisierung nennen will. Nicht Kulturen stehen einander gegenüber, sondern - noch elementarer - zwei konträre Auffassungen darüber, was Kultur überhaupt bedeutet, und dem entsprechend zwei konträre Formate, in denen die Kultursphäre organisiert ist.
In der Spätmoderne findet eine Kulturalisierung des Sozialen auf breiter Front statt, die allerdings zwei sehr unterschiedliche Formen annimmt: Auf der einen Seite - ich spreche hier von Kulturalisierung I - beobachten wir eine Kulturalisierung der Lebensformen in Gestalt von ‚Lebensstilen‘, die sich nach dem Muster eines Wettbewerbs kultureller Güter auf einem kulturellen Markt zueinander verhalten, also um die Gunst der nach individueller Selbstverwirklichung strebenden Subjekte wetteifern. Auf der anderen Seite lässt sich ein alternatives Regime beobachten, die Kulturalisierung II: Diese Kulturalisierung richtet sich auf Kollektive und baut sie als moralische Identitätsgemeinschaften auf. Sie arbeitet mit einem strikten Innen-Außen-Dualismus und gehorcht dem Modell homogener Gemeinschaften, die als imagined communities kreiert werden. Die Spätmoderne ist durch einen Konflikt dieser beiden Kulturalisierungsregime gekennzeichnet, die in einer widersprüchlichen Konstellation von Öffnung und Schließung münden.
Die Kulturalisierung des Sozialen
‚Kulturalisierung‘ mag zunächst wie ein merkwürdiger Begriff klingen. Für das Verständnis dieses Begriffs sind zwei Unterscheidungen zentral: erstens die Unterscheidung zwischen dem Kulturellen und der Kultursphäre; zweitens die Gegenüberstellung von Rationalisierung und Kulturalisierung.
Erstens: Die Unterscheidung zwischen dem Kulturellen und der Kultursphäre markiert eine Differenz zwischen Kultur in einem schwachen und allgemeinen Sinne und Kultur in einem starken und engeren Sinne. Mit dem Kulturellen im schwachen Sinne meine ich das Insgesamt aller kollektiven Sinnzusammenhänge oder Wissensordnungen, die in sozialen Praktiken verarbeitet werden und mit deren Hilfe Welt sinnhaft klassifiziert wird. Mit Kultur im starken oder engeren Sinne will ich hingegen die Sphäre von all jenem bezeichnen, dem in einem sozialen Kontext Wert, und zwar intrinsischer, eigener, nutzenbringender Wert zugeschrieben wird. Die Sphäre der Kultur umfasst in einer Gesellschaft also die Sphäre jener Objekte, Subjekte, Praktiken, Orte etc., die in einem starken Sinne mit Wert belegt werden. So werden beispielsweise Kunstwerke und religiöse Praktiken oder Glaubenselemente, Individuen oder herausgehobene Orte in mehr oder minder komplexen Prozessen und Praktiken mit Wert belegt oder im Gegenteil im wahrsten Sinne des Wortes entwertet.
Zweitens: Um in Bezug auf moderne Gesellschaften die Bedeutung von Kulturalisierung einschätzen zu können, muss man sich jedoch den dazu konträren Prozess vergegenwärtigen. Ihn mache ich in der formalen Rationalisierung des Sozialen aus. Formale Rationalisierung auf der einen Seite, Kulturalisierung auf der anderen Seite modellieren das Soziale gewissermaßen in entgegengesetzte Richtungen. Im Zuge von Prozessen der Rationalisierung - das wissen wir seit Max Weber - werden Objekte, Subjekte, Handlungen, Räumlichkeiten, Kollektive etc. zum Gegenstand einer Optimierung, sie werden systematisch als Mittel zum Zweck geformt. In Prozessen der Kulturalisierung hingegen werden sie valorisiert und darin zu sozial anerkannten Eigenwerten. In der Rationalisierung findet eine versachlichende Affektreduktion statt, in der Kulturalisierung hingegen eine Intensivierung von Affekten in Bezug auf das Wertvolle. Die Rationalisierung profanisiert die Dinge, die Kulturalisierung sakralisiert sie. Die Rationalisierung betreibt in der Regel ein doing generality, in dem alle Elemente der Welt - Objekte, Subjekte, Praktiken, räumliche, zeitliche und kollektive Einheiten - als Exemplare allgemeiner Typen geformt werden, die Kulturalisierung in der Regel ein doing singularity, in dem die Elemente der Welt als besondere und einzigartige, als nicht-austauschbare und unvergleichliche modelliert werden. Rationalisierungs- und Kulturalisierungsprozesse hat es in allen Gesellschaftsformen gegeben. Die moderne Gesellschaft aber kann im Kern als ein tiefgreifender und expansiver Prozess der formalen Rationalisierung, der Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung des Sozialen verstanden werden. Trotzdem hat es in der gesamten Geschichte der Moderne gegenläufige Prozesse der Kulturalisierung gegeben, so in der Ausbildung der sogenannten bürgerlichen Hochkultur oder in den Nationalismen des 19. Jahrhunderts. Allerdings gewinnen die Kulturalisierungsprozesse in der Spätmoderne ungeahnte Stärke. Lässt sich die organisierte Moderne des 20. Jahrhunderts, die Moderne der Industriegesellschaft, von der Spätmoderne, die ungefähr in den 1980er Jahren einsetzt, unterscheiden, so nicht zuletzt dadurch, dass nun Regime der Kulturalisierung prägend wirken, die in dieser Reichweite und Intensität für die Moderne neuartig sind.
Kulturalisierung I: Hyperkultur
Die Kulturalisierung I wird vordergründig vom globalen Kulturkapitalismus und der Mittelklasse getragen, die ihn arbeitend und komsumierend zum Leben erweckt. Sie nimmt im Kern die Form einer expansiven Ästhetisierung (teilweise auch einer Ethisierung) der Lebensstile an, einer Ästhetisierung des Berufs und der persönlichen Beziehungen, des Essens, Wohnens, Reisens und des Körpers, die sich vom Ideal eines ‚guten Lebens‘ leiten lässt. Kultur ist hier gewissermaßen Hyperkultur, in der potenziell alles in höchst variabler Weise kulturell wertvoll werden kann. Entscheidend für die abstrakte Form dieser Kulturalisierung sind einerseits Objekte, die sich auf kulturellen Märkten bewegen, andererseits Subjekte, die den Objekten mit einem Wunsch nach Selbstverwirklichung gegenüberstehen. Kultur findet in dieser Konstellation immer auf kulturellen Märkten statt, in denen kulturelle Güter miteinander im Wettbewerb stehen. Dieser Wettbewerb ist nur vordergründig ein kommerzieller, im Kern handelt es sich vielmehr um Wettbewerbe, die Aufmerksamkeit sowie Valorisierung betreffen. Die Kultursphäre bildet hier gewissermaßen einen Attraktions- und Attraktivitätsmarkt, auf dem ein Wettbewerb um Anziehungskraft und das Urteil des Wertvollen ausgetragen wird. Entscheidend ist in diesem Kontext ein fundamentaler Sachverhalt: Welche Güter auf diesen Märkten reüssieren, welche Aufmerksamkeit sie auf sich ziehen und wie sie mit Hilfe dessen, was Lucien Karpik ‚judgemental devices‘ nennt, als qualitätsvoll valorisiert werden, ist in hohem Maße ungewiss und offen.
Komplett wird die Konstellation der Kulturalisierung I jedoch erst durch den spezifischen Stellenwert, der den Subjekten in diesem Rahmen zukommt. Für die Subjekte sind die Güter der kulturellen Märkte potenzielle kulturelle Ressourcen zur Entfaltung ihrer Besonderheit und Expressivität, kurz: ihrer Selbstverwirklichung. Erst die spätmodernen Subjekte sind vollends das, was Georg Simmel bereits um 1900 als Orte des ‚qualitativen Individualismus‘', eines Individualismus der Besonderheit, antizipierte.
‚Diversität‘ und ‚Kosmopolitismus‘ avancieren damit zu Leitsemantiken der Kulturalisierung I. Sie ist in der Tat auf Vielfalt, diversity, geeicht, da die kulturellen Güter sich zunächst nicht in einer Hierarchie zueinander befinden, sondern prinzipiell gleichwertig scheinen. Diversität ist in diesem Kontext per se positiv besetzt, weil sie den Raum der kulturellen Ressourcen ausdehnt und zu ‚bereichern‘ verspricht. Und sie ist in dem Sinne auch kosmopolitisch, als sowohl die Kultursphäre wie auch die Individuen gegenüber der Herkunft der kulturellen Güter indifferent sind: Gleich welcher regionaler, nationaler oder kontinentaler, ebenso welcher gegenwärtigen oder historischen, hochkulturellen oder populärkulturellen Herkunft die kulturellen Güter sind - entscheidend ist, dass sie zur Ressource subjektiver Selbstentfaltung werden können. Man sieht an dieser Stelle, inwiefern die Kulturalisierung I, die Kultur der Diversität, der Märkte und der Selbstentfaltung eine soziale Öffnung im allgemeinen Sinne der Öffnung von Kontingenz bewirkt: Es ist die Ergebnisoffenheit und Mobilität der Aufmerksamkeit- und Valorisierungsmärkte einerseits, die unbegrenzte und variable Objektbesetzung durch den Selbstentfaltungswunsch der Individuen, ihren Wunsch nach Genuss, Sinn und Mangelkompensation andererseits, der die Kultursphäre für immer neue Möglichkeiten des als wertvoll angesehenen offen hält.
Kulturalisierung II: Kulturessenzialismus
Welche Form hat nun das zweite Regime der Kulturalisierung, das sich in der spätmodernen Gesellschaft findet? Auch hier wird die sachliche Welt des Zweckrationalen in Kultur umgeformt, und wiederverzaubert‘, wobei dieser Prozess allerdings einem anderen Muster folgt. Vordergründig findet sich die Kulturalisieung II in den neuen Bewegungen und Gemeinschaften, die kollektive Identität beanspruchen. Es handelt sich mithin um die Kultur der Identitären. Dies betrifft in gemäßigterer Form Teile des Feldes der identity politics in den USA, in denen sich Herkunftsgemeinschaften (Schwarze, Hispanics, Italo-Amerikaner etc.) imaginieren. Es gilt für die neuen Nationalismen etwa in Russland, China oder Indien und für neue sogenannte fundamentalistische religiöse Bewegungen wie Salafisten oder Pfingstkirchler. Man muss dem Vorurteil deutlich entgegentreten - der französische Religionssoziologie Olivier Roy weist am Beispiel der. fundamentalistischen religiösen Bewegungen zu Recht darauf hin -,
Dabei ist die Kulturalisierung II in dreierlei Hinsicht der Kulturalisierung I entgegengesetzt: Erstens ist Kultur hier nicht als ein unendliches Spiel der Differenzen auf einem offenen Bewertungsmarkt organisiert, sondern modelliert die Welt in Form eines jeweiligen Antagonismus, eines Antagonismus zwischen Innen und Außen, zwischen ingroup und outgroup, der zugleich ein Dualismus zwischen dem Wertvollen und dem Wertlosen ist. Dieser Prozess verläuft also nicht dynamisch und mobil, sondern arbeitet vielmehr daran, die Eindeutigkeit der wertvollen Güter - der Glaubenssätze, der Symbole, der nationalen Geschichte, der Leidensgeschichte einer Herkunftsgemeinschaft - nach innen aufrechtzuerhalten und zugleich nach außen eine konsequente Devalorisierung zu betreiben: die eigene, überlegene Nation gegen die fremden (Nationalismus), die eigene Religion gegen die Ungläubigen (Fundamentalismus), das Volk gegen die kosmopolitischen Eliten (Rechtspopulismus). Zweitens ist diejenige Instanz, die gewissermaßen in den Genuss der Kultur kommt und damit den Referenzpunkt der Kultursphäre bildet, nun nicht das sich selbst verwirklichende Individuum, sondern das Kollektiv, die community, die sich über die Sphäre des als wertvoll Anerkannten ihrer Gemeinschaftlichkeit versichert. Drittens schließlich arbeitet die Kulturalisierung II nicht mehr mit einem Regime der Innovation und des Neuen, der ständigen Selbstüberbietung (wie im Kreativitätsdispositiv der Kulturalisierung I),
Hyperkultur und Kulturessenzialismus: Interaktionsmöglichkeiten zwischen Koexistenz und Konflikt
Was wir in der Spätmoderne vielerorts beobachten, ist nur sehr vordergründig ein Huntington'scher Kampf der Kulturen, sondern letztlich ein Widerstreit zwischen diesen beiden Kulturalisierungsregimen I und II, zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus. Erst wenn man diese abstraktere Perspektive einnimmt, wird erkennbar, dass einander derartig feindlich gesonnene Gruppen wie die Salafisten oder Marine LePens Front National, die Evangelikalen und Putins Nationalismus letztlich dem gleichen Muster folgen, nämlich dem der Kulturalisierung II. Sie füllen den Kulturessenzialismus inhaltlich zwar unterschiedlich aus, teilen aber das gleiche Kuturalisierungsschema, was zur Folge hat, dass sie allesamt der Kulturalisierung I entgegenstehen. Religiöse Fundamentalismen, Rechtspopulismen und Nationalismen in ihren verschiedenen regionalen Spielarten würden für Huntington jeweils unterschiedliche ‚Kulturen‘ bilden, während nun deutlich wird, dass sie allesamt dem gleichen Muster der Kulturalisierung II folgen. Umgekehrt bildet ‚der Westen‘ nicht lediglich eine weitere Kultur, wie Huntington suggeriert, sondern in seiner spätmodernen Form eine grundsätzlich andersartig strukturierte Form der Kulturalisierung, nämlich die Kulturalisierung I der Hyperkultur.
Räumlich stehen beide Regime einander im Übrigen durchaus nicht im einfachen Sinne einer Dramatisierung ‘The west against the rest‘ gegenüber. Die Kulturalisierung I der kulturellen Märkte und Selbstverwirklichungssubjekte mag historisch ihre Wurzeln in Europa und den Vereinigten Staaten haben, doch hat sie sich längst globalisiert. Sie findet sich mittlerweile in den entsprechenden avancierten Milieus sowohl in den ost- und südasiatischen als auch in lateinamerikanischen Metropolen. Umgekehrt ist die Kulturalisierung II keineswegs nur in Asien oder Osteuropa lokalisiert, sondern ebenso in Westeuropa oder den USA. Der ‚Westen‘ ist eben kein geografischer Begriff, sondern ein symbolischer.
Wie lässt sich nun aber das Verhältnis zwischen beiden Kulturalisierungsregimes begreifen? Was passiert, wenn die Hyperkultur auf den Kulturessenzialismus trifft? Genau diese Begegnung findet in der Spätmoderne statt, und zwar in explosiver Form.
Die erste Möglichkeit lautet: Die Markt- und Selbstverwirklichungs-Kultur kann versuchen, die Kultur der Identitären in den eigenen Rahmen zu integrieren. Das heißt: man nimmt die Identitätsgemeinschaften gewissermaßen als eine kulturelle Option von Gruppen im Spiel der Selbstverwirklichung wahr, die man zu respektieren hat – oder sogar als Bereicherung begreift. Dies war die Perspektive des westlichen Multikulturalismus der 1980er Jahre. Man hat hier zum Beispiel fundamentalistische religiöse Gruppen nicht als radikal anderen Kulturessenzialismus begriffen, sondern als ein weiteres willkommenes Phänomen kultureller Diversität, das die Individuen für sich vermeintlich gewählt haben. Die Burka erscheint aus dieser Sicht gewissermaßen auf der gleichen Ebene von Kultur wie der Nasenring des Hipsters oder die chinesische Küche: variable Identitätsmarker auf einem Markt der Kulturen.
Eine vergleichbare Haltung kritischer Akzeptanz gibt es durchaus auch unter der Perspektive der Kulturalisierung II auf die Kulturalisierung I. Eine solche bedeutet, dass die kulturellen Identitätsgemeinschaften die Hyperkultur der Märkte und Selbstverwirklichung nicht als abstraktes Regime verstehen, sondern nur mehr als partikulare Eigenschaft einer anderen ‚Identitätsgemeinschaft‘, etwa der USA, Großbritanniens, Frankreichs oder des gesamten Westens. Auch hier wird das Andere strukturell verähnlicht. Eine solche Haltung findet sich etwa darin, dass die chinesischen Regierungen der Vergangenheit etwaige Kritiken an Menschenrechtsverletzungen mit dem Argument beantworteten, die Menschenrechte bezeichneten Werte des Westens: Dass der Westen diese Werte hat, wird ihm durchaus nicht bestritten – aber sie können ihre Geltungskraft nur im Westen, verstanden als eine partikulare Identitätsgemeinschaft, entfalten. Insofern wäre hier von einer Art politischer Kulturkreis-Lehre zu sprechen.
In dieser Lesart können Kulturalisierung I und Kulturalisierung II einander durchaus in friedlicher Koexistenz begegnen. Sobald die beiden Kulturalisierungsregimes einander jedoch tatsächlich als Kulturalisierungsregimes wahrzunehmen beginnen, sehen sie sich in ihrer Grundlage bedroht und behandeln die andere Seite feindlich. Dann bricht ein ‚Culture War‘ ganz eigener Art aus.
Damit erreichen wir den dritten und vierten Relationsmodus (siehe Kreuztabelle). Erkennt die Hyperkultur in der Kultur der Identitäten einen Kulturessenzialismus, wechselt sie über in den Modus eines Kampfes zwischen der offenen Gesellschaft und ihren Feinden. Nun wird der Kulturessenzialismus insofern als totalitär begriffen, als man dort versucht, das plurale Spiel der Differenzen innerhalb der Hyperkultur durch einen homogenisierenden Antagonismus zwischen Gläubigen und Ungläubigen zu eliminieren. Es geht nicht darum, dass dort draußen ‚andere Kulturen‘ sind, sondern dass die Kulturalisierung II als eine diametral entgegengesetzte Weise verstanden wird, mit Kultur umzugehen. Genau dieses Verständnis beschreibt mittlerweile offenbar die Perspektive großer Teile der (links)liberalen Öffentlichkeit in Europa und den USA auf die diversen identitären Bewegungen, auf den Fundamentalismus der Religionen, vor allem den Islamismus, ebenso wie auf den Nationalismus oder den heimischen Rechtspopulismus. Eine komplementäre Perspektive findet sich auf Seiten der Kulturalisierung II. Diese begreift die Markt-und Selbstverwirklichungs-Kultur in dem Moment als absolute Bedrohung, wenn sie in ihr nicht mehr nur eine ‚andere Kultur‘ mit ihren legitimen, aber partikularen Eigenheiten wahrnimmt, sondern als ein expansives ‚postmodernes‘ System mobiler Valorisierungen begreift, das am Ende auch die eigene Identitätsgemeinschaft aufzulösen droht. Dies ist die Perspektive auf die vorgebliche Dekadenz und zersetzende Morallosigkeit des Westens, wie sie mittlerweile viele der identitären Bewegungen weltweit einnehmen – die Islamisten so wie die Nationalisten und Rechtspopulisten – und die im Extrem gewaltsame Konsequenzen haben kann.
Wie es scheint, sind seit der Jahrtausendwende die Strategien der Koexistenz auf dem Rückzug und erlangen jene des Culture War Zulauf. Bemerkenswert ist, dass in dem Augenblick, wo der grundsätzliche Antagonismus zwischen den beiden Kulturalisierungsregimes in den Vordergrund tritt, die Differenzen innerhalb der beiden Regime relativ an Bedeutung verlieren. Innerhalb des Kulturalisierungsregimes I gilt dies für die ‚feinen Unterschiede‘ zwischen den Lebensstilen und Milieus, auch für die Differenzen zwischen den politischen Positionen, die gegenüber dem totalitären Gegner an Relevanz verlieren. Man beobachtet es allenthalben: die moderaten Sozialdemokraten und die moderaten Konservativen, die linksliberalen Kreativen und die wirtschaftsliberalen Performer rücken zusammen, wenn die reale oder vermeintliche Bedrohung durch den ‚totalitären‘ Kulturessenzialismus vor der Tür steht. Noch auffälliger freilich ist, dass innerhalb des Kulturessenzialismus die identitären Gegner von einst zu überraschenden Verbündeten avancieren, sobald sie gemeinsam gegen das vorgeblich dekadente Regime der Märkte und Selbstverwirklichung der postmodernen Hyperkultur ankämpfen. Dann ergibt sich beispielsweise ein Schulterschluss zwischen evangelikalen und orthodox-muslimischen Glaubensgemeinschaften im Kampf gegen die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare oder zwischen Le Pen und Putin gegen die USA. Es macht letztlich einen entscheidenden Unterschied, ob ein religiöses Symbol wie die Verschleierung als ein weiteres Stilaccessoire neben anderen in der urbanen Hyperkultur betrachtet wird oder ob man es als Symbol einer ‚totalitären‘ Identitätsgemeinschaft liest, das die Grundlagen der mobilen Valorisierungspraxis grundsätzlich in Frage stellt. Auch ein Phänomen wie die globalen Migrationsprozesse lässt sich vor dem Hintergrund eines Modells kultureller Diversität entweder als willkommene Bereicherung des Kulturarsenals begreifen oder vor dem Hintergrund einer Vorstellung von Kultur als historischer Gemeinschaft als eine Bedrohung derselben.
Was die Spätmoderne charakterisiert, ist damit ein Konflikt zwischen zwei Kulturalisierungregimes, die sich letztlich in ihren Grundlagen gegenseitig dementieren. Leicht übersieht man dabei allerdings das, was beide trotz aller Gegensätzlichkeit untergründig gemeinsam haben: nämlich dass sie kulturalisieren, dass sie valorisieren und damit das Soziale affektiv deutlich mehr aufladen, als es für die standardisierenden und versachlichenden Prozesse formaler Rationalisierung gilt, die wir in der Moderne ansonsten kennen und welche die organisierte Moderne der Industriegesellschaft auf beruhigende wie einschläfernde Weise prägten. Die Pandora-Büchse der globalen Valorisierungskonflikte, der ‚Kultur‘, ist geöffnet und es gibt keine Anzeichen, dass sie so schnell wieder geschlossen wird.
Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg am 27. September 2016. Die Argumentation greift auf mein laufendes Buchprojekt unter dem Titel „Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne“ zurück, dessen Veröffentlichung für den Herbst 2017 im Suhrkamp Verlag geplant ist.