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Rechtspopulismus in Polen: Kaczyński will die ganze Macht

Ulrich Krökel

/ 9 Minuten zu lesen

In Polen ist die rechtspopulistische PiS mit ihrem Projekt eines autoritären Staatsumbaus vorerst gescheitert. Nach acht Jahren an der Macht verlor die Partei von Jarosław Kaczyński bei der Parlamentswahl 2023 die Regierungsmehrheit. Der Kampf um die Demokratie in dem EU-Land ist aber noch keineswegs entschieden.

Hinweis

Die ursprüngliche Version dieses Textes wurde am 06.01.2017 veröffentlicht und am 20.08.2024 aktualisiert.

Jaroslaw Kaczynski, Vorsitzender der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), spricht bei einer Gedenkzeremonie in Warschau im Dezember 2015. (© picture-alliance/AP)

Jarosław Kaczyńskis Reaktionen auf Wahlergebnisse sind in Polen legendär. Interner Link: 2011 etwa schwor der Vorsitzende der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) nach einer deutlichen Niederlage bei der Parlamentswahl: „Es wird der Tag kommen, an dem wir in Warschau [ein zweites] Budapest haben werden.“ Damit spielte er auf die Machtfülle des bekennenden Illiberalen Interner Link: Viktor Orbán an, der damals in Ungarn mit Zweidrittelmehrheit regierte. Die PiS dagegen kam nur auf rund ein Drittel der Mandate im Sejm, dem Unterhaus des Parlaments. Der mediale Spott war dem Verlierer gewiss.

Vier Jahre später jedoch siegte die PiS 2015 bei den Interner Link: Präsidentschafts- und Parlamentswahlen – und es war Kaczyński, der hätte lachen können. Stattdessen trat er am Wahlabend mit schwarzer Trauerkrawatte ans Mikrofon und erstattete seinem 2010 verstorbenen Zwillingsbruder Lech imaginär Bericht: „Mission erfüllt.“ Der einstige Spott der Kommentatoren wich angesichts von Kaczyńskis öffentlicher Zwiesprache mit dem Jenseits einer gewissen Verstörung.

Den vielsagendsten Auftritt jedoch hatte Kaczyński nach der Interner Link: Europawahl 2019. An jenem Maiabend gab es für die PiS erst recht Grund zum Feiern, denn die Partei hatte mit 45,4 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte erzielt. Doch wieder mochte Kaczyński nicht in den Jubel einstimmen. Die wahre „Schlacht um die Zukunft des Vaterlandes“ stehe erst noch bevor, mahnte er. Und dafür seien 45,4 Prozent „zu wenig, zu wenig, zu wenig“.

Eines ist all diesen Auftritten gemein: Sie zeigen, dass Kaczyński jede Form von Kompromiss fremd ist. Der 75-Jährige, der die PiS 2001 gründete und zu einer auf ihn zugeschnittenen Kaderpartei autoritären Typs formte, will die ganze Macht in Polen, und zwar auf Dauer. Aus seiner Sicht gibt es dazu auch keine Alternative. Denn seinen Gegnern unterstellt er, dass sie „den Landesverrat in den Genen tragen“. Kaczyńskis Devise lautet: „Wir oder sie.“ Die Regierungszeiten der PiS von 2005 bis 2007, als sie eine fragile Rechtsaußenkoalition anführte, und von 2015 bis 2023, als sie sich auf eine absolute Mehrheit der Mandate im Sejm stützte, waren demnach ebenfalls „zu wenig“.

Angesichts von Kaczyńskis Kampfansagen scheint klar: Das Ringen um die Demokratie in Polen ist keineswegs entschieden, auch wenn die PiS die Macht in Warschau Interner Link: 2023 wieder abgeben musste. Neuer Premier wurde der liberal-konservative ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk, Kaczyńskis politischer „Erzfeind“. Tusk hatte der PiS die Macht 2007 schon einmal entrissen und Kaczyńskis Lieblingsprojekt einer „Vierten Republik“ beendet. Diese neue Republik, gedacht als nationalkonservativer Staat der katholischen Polen, sollte den Kommunismus endgültig überwinden.

Man muss sich diese Geschichte immer wieder ins Gedächtnis rufen, um die Genese des Rechtspopulismus in Polen zu verstehen. Die PiS hat ihre Wurzeln in der Interner Link: Solidarność-Bewegung, die 1989 unter Führung von Interner Link: Lech Wałęsa den Sturz des Kommunismus ertrotzte - am Runden Tisch statt durch Kampf. Den Kaczyński-Zwillingen, die als langjährige Dissidenten auf Seiten der Opposition an den Rundtisch-Gesprächen teilgenommen und Wałęsa beraten hatten, gingen die Ergebnisse nicht weit genug. Sie witterten überall faule Kompromisse und wandten sich bald von Wałęsa ab, nachdem dieser 1990 zum Präsidenten gewählt worden war. Zumal Wałęsa, eigentlich ein konservativer Patriot und gläubiger Katholik wie die Kaczyńskis, im höchsten Staatsamt kaum eine klare politische Linie erkennen ließ.

Aus Sicht der Kaczyńskis waren die Folgen fatal. In ihren Augen kehrten die Kommunisten, protegiert von einem oft schwer vorhersehbar agierenden Präsidenten, als alte-neue Elite durch die Hintertür an die Schalthebel von Staat, Wirtschaft, Medien und Gesellschaft zurück. Diese angebliche „Seilschaft“ (Układ) aus korrumpierten Wałęsa-Leuten, gewendeten KP-Führern und Roten Direktoren habe Polen nach 1989 als eine Art „Deep State“ beherrscht – zu Lasten der „kleinen Leute“. Deren Stimme wiederum wollte die PiS sein, als Vollstreckerin des „wahren Volkswillens“. Die Begriffe verraten, dass es eine große Nähe der PiS-Ideologie zu jenen Formen des Rechtspopulismus gibt, die in vielen westlichen Demokratien das beginnende 21. Jahrhundert mitprägen.

Tatsächlich war die PiS von Anfang an antielitär, autoritär, illiberal und exklusiv-nationalistisch. So gesehen zählt Polen in Sachen Rechtspopulismus weltweit sogar zu den Vorreitern. Das Jahr 2015, als die PiS bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen siegte, lässt sich geradezu als Menetekel dessen lesen, was den älteren westlichen Demokratien noch bevorstand: 2016 folgten das Interner Link: Brexit-Referendum in Großbritannien und der Sieg des Republikaners Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl in den USA.

Die PiS war 2015 sehr viel besser vorbereitet als zehn Jahre zuvor, bei ihrem ersten Wahlsieg. Sie fuhr diesmal eine Doppelstrategie aus Systemreformen und einer populären Sozialpolitik. Unmittelbar nach Regierungsantritt begann sie mit einem autoritären Staatsumbau, anhand eines klaren Drehbuchs. Die wichtigsten Ziele waren die Justiz, insbesondere das Verfassungsgericht, und die öffentlich-rechtlichen Medien, welche in ihrer Unabhängigkeit geschwächt wurden.

Frontalangriff auf die Gewaltenteilung

Den ersten Aufschlag machte der PiS-nahe Präsident Andrzej Duda. Er weigerte sich, mehrere bereits gewählte, als liberal geltende Verfassungsrichter zu vereidigen. Kurz darauf installierte die PiS ihre eigenen Kandidaten. Am 22. Dezember 2015, nur sechs Wochen nach Konstituierung des neuen Sejms, novellierte die Regierung das Verfassungsgerichtsgesetz, was zunächst zu einer weitgehenden Lähmung der Kontrollinstanz führte.

Es folgten Interner Link: weitere einschneidende Eingriffe in das Justizsystem. Die vorzeitige Pensionierung von Richterinnen und Richtern sollte eine personelle Neuaufstellung ermöglichen. Zu diesem Zweck änderte die PiS das Gesetz über den Landesjustizrat, der unter anderem über die Besetzung freier Stellen an den allgemeinen Gerichten entschied. Die Mehrheit der Mitglieder des Rates sollte künftig vom Parlament bestimmt werden und damit faktisch von der Regierungsfraktion. Schließlich installierte die PiS eine Disziplinarkammer am Obersten Gericht, die Staatsanwälte und Richter entlassen konnte. Die Kontrolleure wurden wiederum vom Landesjustizrat eingesetzt und damit indirekt von der PiS-Mehrheit.

Ähnlich schnell und massiv erfolgten die Interner Link: Änderungen im Presserecht. Im Eiltempo brachte die Regierung noch im Dezember 2015 ein neues Mediengesetz durch Sejm und Senat, die beiden Parlamentskammern. Es unterstellte die öffentlich-rechtlichen Sender und die Nachrichtenagentur PAP dem Schatzministerium. Später ging die Aufsicht an einen Rat der Nationalen Medien über, dessen Personal wiederum von der Parlamentsmehrheit und dem Präsidenten bestimmt wurde. In den folgenden Jahren betrieb die PiS zudem eine Politik der „Nationalisierung“ privater Medien, die ausländischen Unternehmen gehörten. Auch dieses Verfahren erhöhte den Einfluss der Partei in Verlagen und Sendeanstalten.

Der Frontalangriff auf die Unabhängigkeit von Justiz und Medien sorgte früh für harsche Kritik. Jerzy Stępień, ein ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichts, sprach sogar vom Versuch eines „Staatsstreichs“. Die PiS-Regierung war kaum im Amt, da demonstrierten im Herbst 2015 schon Zehntausende Menschen für die „Verteidigung der Demokratie“. Und auch die EU reagierte prompt. Im Januar 2016 leitete die Interner Link: Kommission erstmals in ihrer Geschichte ein Externer Link: Rechtsstaatsverfahren nach Interner Link: Artikel 7, Absatz 1 der EU-Verträge ein. Im äußersten Fall hätte Polen damit der Entzug aller Stimmrechte bei EU-Entscheidungen gedroht.

Doch der Widerstand lief ins Leere. Das Artikel-7-Verfahren wurde nicht konsequent vorangetrieben. Denn am Ende, so sehen es die Verträge vor, hätte das Veto eines einzelnen EU-Landes ausgereicht, um das langwierige Verfahren zu Fall zu bringen. Ein solches Veto kündigte der Ungar Viktor Orbán früh an. Wichtiger noch war jedoch, dass sich die Bevölkerung in Polen nicht zum durchschlagenden Widerstand gegen die Demontage des Rechtsstaats mobilisieren ließ. Im ersten halben Jahr nach der Regierungsübernahme durch die PiS brachte das außerparlamentarische „Komitet Obrony Demokracji“ (KOD, deutsch: „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“) zwar regelmäßig Zehntausende Demonstranten auf die Straßen Dutzender polnischer Städte. Aber schon im März 2016 erklärte die Hälfte der Menschen im Land in Umfragen die Proteste für „unnötig“, während nur noch 41 Prozent die KOD-Kundgebungen für wichtig hielten. Eine Mehrheit der Bevölkerung wollte der Regierung eine Chance geben, ihr Programm umzusetzen.

Eine entscheidende Rolle spielte dabei die offensive Interner Link: Sozialpolitik der PiS, die den zweiten Teil von Kaczyńskis Doppelstrategie bildete. Wie im Wahlkampf angekündigt, führte die Regierung erstmals in der polnischen Geschichte ein Kindergeld ein. Sie nahm die Rente mit 67 zurück, erhöhte den Mindestlohn, stärkte Studierende und reformierte das Steuersystem zu Lasten der Wohlhabenden. Das kam extrem gut an in dem wirtschaftlich boomenden, sozial aber gespaltenen Land. Denn breite Bevölkerungskreise hatten bis dahin kaum von dem Daueraufschwung profitiert, den die marktliberale „Schocktherapie“ der 90er Jahre und vor allem der Beitritt zur EU möglich machten. Allein in den ersten beiden Jahrzehnten des neuen Jahrtausends vervierfachte sich das polnische Bruttoinlandsprodukt. Zugleich waren viele Menschen angesichts immer neuer Radikalreformen erschöpft.

Einiges spricht deshalb dafür, dass Kaczyńskis Plan eines autoritären Staatsumbaus, bei dessen Umsetzung er seit 2015 schon in beachtlichem Maß vorangekommen war, bei der Wahl 2023 an dem Unvermögen scheiterte, die eigene Erfolgsgeschichte fortzuschreiben. Durch ihre Sozialpolitik war es der PiS gelungen, eine breitere Zustimmung im Land zu gewinnen, die deutlich über die eigene nationalkonservative Kernklientel hinausreichte. Die Corona-Pandemie, der Interner Link: russische Angriffskrieg in der Ukraine und die daraus resultierende Inflation führten dann aber dazu, dass die Partei in der Mitte der Gesellschaft wieder an Boden verlor. Es fehlte schlicht an Geld, um einen weiteren Ausbau des Sozialstaats zu finanzieren. Es drohte Wohlstandsverlust statt Wohlfahrtsstaat.

Frei nach Bill Clintons berühmtem Ausspruch „It’s the economy, stupid!” lässt sich beim Blick auf Polen resümieren: In einer gespaltenen Gesellschaft, in der sich die politischen Lager mitunter tatsächlich wie Feinde in einer „Schlacht“ gegenüberstehen, können sozioökonomische Faktoren über Wohl und Wehe der Demokratie entscheiden. Der Kampf um den Rechtsstaat und die Freiheit lässt sich demnach nur gewinnen, wenn die demokratischen Parteien das alltägliche Leben der Menschen nicht aus den Augen verlieren.

Ulrich Krökel ist Journalist mit dem Themenschwerpunkt Osteuropa. Seit 2010 arbeitet er als Korrespondent in Warschau für verschiedene deutschsprachige Print- und Onlinemedien, u.a. Berliner Zeitung, ZEIT und Spiegel online. Er berichtet vor allem über Ereignisse aus Polen, aber auch aus der Ukraine, Belarus, Ungarn und dem Baltikum. Daneben arbeitet und engagiert er sich für das Netzwerk für Osteuropa-Journalisten n-ost.