Entstehung und Entwicklung
Die Wählervereinigung "Bürger in Wut" (BIW) entstand im Jahr 2004 aus der langsam zerfallenden "Partei Rechtsstaatlicher Offensive" (Schill-Partei). Aufgrund ihrer parteikritischen Haltung hat die BIW bislang auf die Registrierung als politische Partei beim Bundeswahlleiter verzichtet. In der überschaubaren Literatur zur BIW wird die Parteieigenschaft aber einhellig als gegeben angesehen, da sie die beiden zentralen Eigenschaften einer Partei erfüllt: dauerhafte Organisation und Teilnahme an Wahlen (vgl. Merten 2013, S. 59ff.); daher wird die BIW auch im Folgenden als Partei behandelt.
Der Parteigründer, -vorsitzende und lange Zeit einzige Abgeordnete der Partei in einem Landesparlament, Jan Timke, war zuvor Bremer Landesvorsitzender der populistischen STATT-Partei und organisierte 2001 den Übertritt des Landesverbands zur Schill-Partei. Timke trat anschließend als Spitzenkandidat der Schill-Partei bei den Bremer Bürgerschaftswahlen im Mai 2003 an, scheiterte jedoch knapp an der Fünfprozenthürde. Als im Dezember desselben Jahres Ronald Schill aus der Partei ausgeschlossen wurde, trat Timke gemeinsam mit dem Landesverband Bremen aus der Bundespartei aus (vgl. Küppers/Hartleb 2018, S. 229; Stöss 2013, S. 608).
Auf Timkes Betreiben gründete sich schließlich im März 2004 der Bundesverband der "Bürger in Wut". Bei den Bremer Bürgerschaftswahlen im Mai 2007 trat die BIW mit Timke als Spitzenkandidat ausschließlich im Wahlbereich Bremerhaven an. Sie verfehlte dabei die Fünfprozenthürde in Bremerhaven um nur eine Stimme (vgl. Dinse 2007, S. 7). Die BIW legte daraufhin wegen vermuteter Verfahrensfehler Einspruch gegen das Endergebnis ein. Statt einer Neuauszählung des gesamten Wahlgebiets Bremerhaven verfügte der Staatsgerichtshof in letzter Instanz lediglich, in zwei besonders umstrittenen Wahlbezirken die Stimmen erneut zählen zu lassen. In seinem abschließenden Ergebnis stellte das Gericht zudem bedeutende Unregelmäßigkeiten beim Auszählungsablauf im Bezirk 132/02 (Freizeittreff Eckernfeld) fest und ordnete eine Nachwahl für diesen Bezirk an (vgl. Amtsblatt 68/2008, S. 431ff.). Die Nachzählung hatte für die BIW bereits ein Gesamtstimmergebnis von knapp über 5 Prozent in Bremerhaven ergeben, dieses wurde aber durch die Nachwahl nochmals gestärkt, da die Partei hier 27,6 Prozent der Stimmen erhielt (im vorherigen Endergebnis lag der Stimmanteil der BIW dort bei nur bei 4,4 Prozent). Nach Nachzählung und Nachwahl kam die BIW damit auf 5,3 Prozent (2.336 Stimmen). Zusätzlich zu dem nun erhaltenen Bürgerschaftsmandat für Jan Timke errang die Partei auch drei Sitze in der Stadtverordnetenversammlung von Bremerhaven sowie einen Ortsteilbeiratssitz in Horn-Lehe (vgl. Bremen 2007, S. 85ff. und 133).
Der rechtmäßige Ablauf der Bürgerschaftswahl 2007 wurde jedoch nicht allein von Seiten der BIW bestritten. So hatte die Bremer Staatsanwaltschaft bereits vor der Nachwahl im Juli 2008 ein Verfahren wegen des Verdachts auf Wahlfälschung unter anderem gegen Timke eingeleitet. Ihm wurde vorgeworfen, lediglich einen vorgetäuschten Wohnsitz in Bremerhaven unterhalten zu haben, während sein eigentlicher Lebensmittelpunkt in Berlin liege, wo er als Bundespolizist tätig war. Damit hätte er aber nicht über das passive Wahlrecht in Bremen verfügt. Das Verfahren endete im Februar 2009 mit einem Freispruch Timkes. Der zuständige Richter urteilte, es sei nicht zweifelsfrei auszuschließen, dass Timke sich während des Berechnungszeitraums für die Wählbarkeit hauptsächlich in Bremerhaven aufgehalten habe.
Bei der Bürgerschaftswahl 2011 konnte die BIW ihr Ergebnis ausbauen und erreichte insgesamt 3,7 Prozent der Wählerstimmen. Erneut gelang der Einzug in die Bürgerschaft durch das Überschreiten der Fünfprozenthürde in Bremerhaven, wo sich die Partei auf 7,1 Prozent der Stimmen verbessern konnte (im Wahlbereich Bremen erzielte sie 3,1 Prozent der Stimmen, vgl. Bremen 2011b, S. 12). Das verbesserte Wahlergebnis hatte allerdings keine Auswirkung auf die Bürgerschaftsmandate und kommunalen Sitze der Partei. Auch weiterhin hielt Timke das einzige Landtagsmandat, während in Bremen keine Sitze in der kommunalen Stadtbürgerschaft (Verfehlen der Fünfprozenthürde) und in der Bremerhavener Stadtverordnetenversammlung erneut drei Sitze errungen werden konnten. Bei den Ortsteilbeiratswahlen konnte die Zahl der Sitze dagegen von einem auf sieben gesteigert werden (vgl. Bremen 2011a, S. 161f.). Durch Fraktionsübertritte wuchs die Zahl der Beiräte bis 2015 auf neun und die der Stadtverordneten auf vier (seitdem besitzt die BIW Fraktionsstatus in der Stadtverordnetenversammlung). Im Oktober 2013 trat zudem der zuvor aus der SPD-Fraktion ausgeschlossene Abgeordnete Martin Korol zur BIW über, was ihr die Bildung einer parlamentarischen Gruppe in der Bürgerschaft ermöglichte.
Die Bürgerschaftswahlen 2015 brachten eine leichte Verschlechterung des Ergebnisses von 2011 mit sich, so erzielte die BIW in Bremerhaven nur noch 6,5 Prozent und in Bremen 2,7 Prozent (Gesamtergebnis für das Land Bremen 3,2 Prozent). Jan Timke gewann damit erneut das einzige Bürgerschaftsmandat für die Partei. In der Bremerhavener Stadtverordnetenversammlung war die BIW ebenfalls wieder mit drei Mandaten vertreten, die Zahl der Bremer Ortsteilbeiräte steigerte sich dagegen auf vierzehn. 2017 gelang es der BIW erneut durch Übertritte ihre Vertretung in der Bürgerschaft zu stärken, indem die beiden vormaligen AfD- und dann LKR-Abgeordneten Klaus Remkes und Piet Leidreiter zu einem Parteiwechsel bewegt wurden.
Bei den Bürgerschaftswahlen 2019 mussten dagegen empfindliche Verluste hingenommen werden. So erzielte die BIW in Bremen nur noch 1,6 Prozent der Stimmen, während in Bremerhaven ein moderater Zugewinn auf 7,4 Prozent verzeichnet werden konnte (Gesamtergebnis für das Land Bremen 2,4 Prozent). Im Vergleich zu den vorhergehenden Wahlen kam es daher zu einer noch stärkeren Regionalisierung. Während die BIW in Bremen fast durchgängig Stimmen verlor, stieg ihre Unterstützung in Bremerhaven in fast allen Wahlbezirken moderat an. Bezogen auf die Mandate bedeutete dies, dass sich Timke erneut das einzige Bürgerschaftsmandat sicherte, während 4 Sitze in der Bremerhavener Stadtverordnetenversammlung sowie 8 Ortsteilbeiräte errungen werden konnten (Bremen 2019a: 8f. und 2019b: 35 und 56). Im Oktober 2021 wechselte der zunächst für die AfD gewählte und später zu den Liberal-Konservativen Reformern übergetretene Abgeordnete Peter Beck zu den Bürgern in Wut, sodass die Partei wieder über zwei Bürgerschaftsmandate verfügt.
Außerhalb von Bremen hat sich die Partei, trotz anderslautender Ankündigungen und der Eigendarstellung, politisch zumindest auch in Berlin und Hamburg aktiv zu sein, bislang an keinerlei Wahlen beteiligt. Die 2019 angedachte Teilnahme an der Europawahl wurde wie frühere ähnliche Bestrebungen letztendlich nicht umgesetzt. Insgesamt sind die politischen Aktivitäten der Partei spätestens seit der Bürgerschaftswahl 2019 stark rückläufig.
Wählerschaft, Mitglieder- und Organisationsstruktur
Über die interne Organisations- und Mitgliederstruktur der Partei ist wenig bekannt, was der geringen Mitgliederzahl und der Existenz lediglich eines Landesverbandes geschuldet ist. Ebenso finden sich aufgrund des stark lokalen Charakters und des beschränkten wissenschaftlichen Interesses bislang keine systematischen Erkenntnisse zur Wählerklientel der BIW. Die Nachwahlanalysen des bremischen Landeswahlleiters und die Bremer Wahlatlanten für 2011, 2015 und 2019 lassen jedoch schließen, dass sie den Großteil ihrer Wählerinnen und Wähler aus Männern und Frauen mittleren Alters rekrutiert (43,4, 39,1 bzw. 38,1 Prozent der BIW-Wähler gehörten der Altersgruppe 45-60 an). Auffällig ist die Rolle von männlichen Jung- und Erstwählern für den Erfolg der Partei. So stammten 2011 noch insgesamt 14,5 Prozent der BIW-Wähler aus der Gruppe der 16- bis 25-Jährigen, was den größten Jungwähleranteil aller Parteien darstellt. 2015 sank der Anteil dagegen auf nur 5,4 Prozent. Gleichzeitig kehrte sich das Geschlechterverhältnis in dieser Altersgruppe komplett um. Während 2011 noch 62,2 Prozent der BIW-Jungwähler Männer waren, stammten 2015 ganze zwei Drittel der BIW-Stimmen von Frauen (vgl. Bremen 2013, S. 8, Bremen 2011b, S. 41 und Bremen 2015, S. 39f.). 2019 kehrte sich dieses Verhältnis erneut um, sodass Männer wieder knapp 60 Prozent der Jungwähler der Partei ausmachten. Dafür zeigte sich in den Altersgruppen über 35 eine erkennbare Mehrheit von Frauen (Bremen 2020, S. 6ff.).
Programmatik
Ungewöhnlich für eine Partei, die bisher ausschließlich an den Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft teilgenommen hat, ist die umfassende bundespolitische Programmatik, die sich in einem mittlerweile über 100-seitigen Bundesprogramm ausdrückt, das zuletzt im November 2015 erweitert wurde. Inhaltlich vereint die BIW darin rechtskonservative sowie rechtspopulistische und wirtschaftsliberale Positionen. Eine eindeutige inhaltliche Einordnung ist aber aufgrund der konzeptionellen Unschärfe des Rechtspopulismusbegriffs problematisch. So bekennt sich die Partei im Gegensatz zu rechtsextremistischen und neonazistischen Gruppen klar zum Existenzrecht des Staates Israel, der deutschen Verantwortung am Holocaust und zur Verfassung der Bundesrepublik, ohne dass zentrale Bestandteile der freiheitlich-demokratischen Grundordnung relativiert werden (vgl. Bundesprogramm 2015, S. 1ff. und 104). Eher untypisch für das rechte Parteienspektrum ist auch die weitgehend wirtschaftsliberale Positionierung der BIW in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. Auf der anderen Seite finden sich zahlreiche populistische Denkmuster wie die "Korrumpierung" der herrschenden Eliten, Homogenität als Voraussetzung für das Funktionieren von Politik sowie die Ablehnung der "Ideologisierung" politischer Fragen durch die Parteien bei eigener Orientierung am objektiven Gemeinwohl (vgl. Bundesprogramm 2015, S. 1ff.). Hinzu kommen typisch kulturalistische Argumentationsfiguren wie die unterstellte Unvereinbarkeit abend- und morgenländischer Werte, der kulturelle Identitätsverlust Deutschlands bei gleichzeitiger schleichender "Islamisierung" sowie die Notwendigkeit vollständiger kultureller Assimilation oder Ausweisung von Minderheiten (vgl. Bundesprogramm 2015, S. 24ff.). Die Partei nähert sich damit inhaltlich weniger den deutschen Parteien des rechten Rands als den rechtspopulistischen Parteien Westeuropas an, insbesondere Geert Wilders "Partij voor de Vrijheid" (Partei für die Freiheit).
Der klare inhaltliche Schwerpunkt der Partei liegt auf den Themen der Verbrechensbekämpfung und Inneren Sicherheit, die stark mit der Frage der Zuwanderung verknüpft werden. Den Ursprung des zunehmenden Kriminalitätsproblems macht die Partei in streng konservativer Tradition im gesellschaftlichen Werteverfall und dem "Bedeutungsverlust von Familie und Religion als wichtige moralische Instanzen" (Bundesprogramm 2015, S. 13) aus, betont gleichzeitig aber, dass es sich bei einem "großen Teil" der inhaftierten Straftäter in deutschen Haftanstalten um ausländische Staatsbürger handle (das vorhergehende Parteiprogramm hatte noch von "bis zu 80 Prozent" gesprochen, vgl. Bundesprogramm 2015, S. 19 und Bundesprogramm 2011, S. 19). Zur Verbrechensprävention werden klassische Law and Order-Methoden wie der Ausbau der Polizeikräfte, Strafverschärfungen, die Einführung von Nachbarschaftswachen, eine Senkung des Strafmündigkeitsalters und eine Null-Toleranz-Strategie der Polizei befürwortet (vgl. Bundesprogramm 2015, S. 14ff.).
In wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen fordert die Partei "einen Mittelweg zwischen liberalem Kapitalismus und sozialistischer Staatswirtschaft", der als "Faire Marktwirtschaft" bezeichnet wird. Bei näherer Betrachtung der vorgeschlagenen Instrumente und Regelungen handelt es sich dabei um eine weitgehend wirtschaftsliberale Programmatik mit moralistischen Untertönen. Die primäre Aufgabe des Staates liege in der Schaffung von Wertorientierungen, nicht aber der materiellen Umverteilung. Arbeitnehmer müssten dementsprechend zu einem neuen Leistungsethos und zur "Tugendhaftigkeit" (Bundesprogramm 2015, S. 41 und 56) hingeführt werden. Arbeitgebern obliege im Austausch die Pflicht zum patriotischen und gemeinschaftsdienlichen Handeln. Umverteilungsmechanismen jeglicher Art werden konsequent abgelehnt und als sozial schädlich empfunden. So habe der Wohlfahrtsstaat "das gesellschaftliche Bewusstsein negativ verändert", "die Eigenverantwortung des Einzelnen untergraben" und "die Rolle der Familie als Fundament von Staat und Gesellschaft geschwächt" (Bundesprogramm 2014, S. 56). Daher seien u.a. der Kündigungsschutz zu lockern und die Zugangsvoraussetzungen für Sozialleistungen deutlich zu verschärfen. In der Rentenversicherung sollen alle Arbeitnehmer gesetzlich zur Aufnahme privater Vorsorgemaßnahmen verpflichtet werden. Außerdem sollen Anreize zum verfrühten Ausstieg aus dem Erwerbsleben gesetzlich untersagt werden (vgl. Bundesprogramm 2015, S. 41, 48f. und 61f.). Die Gesetzliche Krankenversicherung soll zukünftig in einer Einheitskasse (die auch die Pflegeversicherung beinhaltet) zusammengefasst und nur die medizinisch notwendige Grundversorgung durch eine Kopfpauschale abgedeckt werden. Andere Leistungen seien ausschließlich über Zusatzpolicen privater Versicherer abzudecken (vgl. Bundesprogramm 2015, S. 64).
Daneben offenbart das Parteiprogramm an einigen Stellen scheinbar gegensätzliche Positionen: So fordert die Partei einerseits die Ausweitung direktdemokratischer Verfahren, um eine ortsnahe direkte Partizipation der Bürger zu ermöglichen, gleichzeitig soll die Zahl der Bundesländer aber auf maximal neun verringert werden. Ebenso soll in Bremen das Amt eines direktgewählten "Landespräsidenten" geschaffen werden, obwohl die Partei im gleichen Atemzug einen Volksentscheid zur Vereinigung des Stadtstaates mit dem Freistaat Niedersachsen anstrebt (vgl. Bundesprogramm 2015, S. 11 und Landesprogramm Bremen 2015, S. 3f.).