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Etappen der Parteigeschichte der GRÜNEN

Frank Decker

/ 11 Minuten zu lesen

Aus den "Neuen Soziale Bewegungen" der 1970er-Jahre und der DDR-Bürgerrechtsbewegung sind die GRÜNEN entstanden. 2021 gelang der Partei auf Bundesebene zum zweiten Mal der Sprung in die Regierung.

Mitglieder der Grünen demonstrieren im Juli 1983 vor dem Weißen Haus gegen die geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa. (© picture-alliance/dpa)

Die Grünen (seit dem Zusammenschluss mit dem ostdeutschen Bündnis 90 1993 offiziell: Bündnis 90/Die Grünen) sind die erste Partei in der Bundesrepublik, die es geschafft hat, sich als Neugründung dauerhaft zu etablieren. In ihrer Entstehungsphase ausgangs der 1970er-Jahre noch eine radikale Protestpartei, wurden sie durch die Bereitschaft zur Regierungsbeteiligung ab Mitte der 1980er-Jahre in die Machtstrukturen des Staates rasch integriert. Im Parteiensystem sind die Grünen seit den 1990er-Jahren zunehmend in die Mitte gerückt, womit ihnen eine Schlüsselrolle bei der Koalitionsbildung zukommt.

Entstanden sind die Grünen nicht als Abspaltung oder Neuformierung von bestehenden Parteien, sondern aus der Gesellschaft heraus. Nimmt man den ostdeutschen Zweig des Bündnis 90 hinzu, gehen sie im Wesentlichen auf drei Bewegungen zurück: die Studentenbewegung, die sich ab Mitte der 1960er-Jahre als "Außerparlamentarische Opposition" gegen die etablierten Parteien und das parlamentarische System formiert hatte, die unter dem Begriff "Neue Soziale Bewegungen" zusammengefassten Umwelt-, Anti-Atomkraft-, Friedens- und Frauenbewegungen der 1970er- und beginnenden 1980er-Jahre und die DDR-Bürgerrechtsbewegung im "Wendejahr" 1989/1990. Als wichtigste diese Wurzeln bildeten die Neuen Sozialen Bewegungen ein Konglomerat ganz unterschiedlicher Gruppen, Organisationen und Einzelpersönlichkeiten, die sich unter dem Motto "Nicht links, nicht rechts, sondern vorn" im Gründungsprozess bündelten (Mende 2011).

Bunte und alternative Listen zu Wahlen in den 1970ern

Die unmittelbare Entstehungsursache wurde durch das Umweltthema und hier vor allem durch den Widerstand gegen die Atomkraft gesetzt. Mit dem 1972 veröffentlichten Bericht des Club of Rome, einer informellen Vereinigung von Politikern, Wirtschaftsführern und Wissenschaftlern, traten die ökologischen Folgen der industriellen Wachstumspolitik erstmals ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Gleichzeitig bildeten sich auf lokaler Ebene Bürgerinitiativen gegen den Bau neuer Kernkraftwerke, die maßgeblich von Landwirten und der ländlichen Bevölkerung getragen wurden. Seit Mitte der 1970er-Jahre entstanden in vielen Bundesländern sogenannte bunte und alternative Listen. Während die erstgenannten eine große ideologische Bandbreite aufwiesen, die von radikal linken bis hin zu völkisch-nationalen Tendenzen reichte, und sich durch eine geringe Formalität auszeichneten, dominierten in den letztgenannten die Vertreter der größtenteils maoistisch geprägten K-Gruppen, deren Wurzeln in der Studentenbewegung lagen. Die Listen schlossen sich 1979 vor der Europawahl zum gemeinsamen Wahlbündnis "Sonstige Politischen Vereinigung DIE GRÜNEN" zusammen.

Abspaltung konservativer und linksradikaler Kräfte

Auch bürgerlich-konservative Positionen waren im Gründungsspektrum der Grünen anfangs prominent vertreten (Walter 2010: 71 ff.). Als einer der wichtigsten Vordenker der Ökologiebewegung galt der Bundestagsabgeordnete Herbert Gruhl, der nach seinem Austritt aus der CDU 1978 die "Grüne Aktion Zukunft" gegründet hatte. Gruhl gehörte 1979 zum gleichberechtigten Sprecherteam der "Sonstigen Politischen Vereinigung DIE GRÜNEN". Die durch die ideologisch-programmatische Heterogenität bedingten harten innerparteilichen Konflikte prägten das Erscheinungsbild der Grünen über mehr als ein Jahrzehnt. Sie führten dazu, dass sich die Partei nach ihrer offiziellen Gründung im Januar 1980 zuerst von ihren bürgerlich-konservativen Teilen und später von den linksradikalen Vertretern löste. Gruhl kehrte den Grünen Anfang 1981 den Rücken und überführte den zu dieser Zeit von der linken Mehrheit bereits stark marginalisierten bürgerlich-konservativen Flügel in die Ökologisch-Demokratische Partei. Diese besteht bis heute fort, konnte aber selbst in ihrer Hochburg Bayern, wo sie eine annähernd flächendeckende Organisation unterhält, über das Stadium einer etablierten Kleinstpartei nie hinausgelangen.

Langwieriger gestaltete sich die Abspaltung der linksradikalen Kräfte. Die Auseinandersetzung drehte sich hier vordergründig um die Bereitschaft zur Übernahme von Regierungsverantwortung. Nach der hessischen Landtagswahl 1983 hatte der Landesverband in Hessen einen entsprechenden Beschluss gefasst, der über den Umweg einer Tolerierung der SPD-Regierung 1985 in die Bildung der ersten rot-grünen Landesregierung mündete. Die Anhänger des radikalen Flügels betrachteten dies als Verrat an grünen Grundsätzen. Ihrem fundamentaloppositionellen Verständnis gemäß standen die Grünen in prinzipieller Gegnerschaft zur etablierten Politik und deren Spielregeln - Parlamentarismus, Mehrheitsentscheidungen, Reform in kleinen Schritten, staatliches Gewaltmonopol. Den systemkritischen Fundamentalisten standen die "Realpolitiker" ("Realos") entgegen, die Veränderungen aus dem Inneren heraus bewirken wollten. Die Gegensätze prallten so hart aufeinander, dass die Bundespartei mehrfach am Rande einer Spaltung stand. Erst als die führenden Vertreter des radikalen Flügels um Rainer Trampert, Thomas Ebermann und Jutta Ditfurth die Grünen ab Ende der 1980er-Jahre verließen, normalisierte sich die Auseinandersetzung (Kleinert 1992: 110 ff.).

Die Bundesvorsitzenden Lukas Beckmann, Rainer Trampert und Jutta Ditfurth bei der Bundesversammlung der Grünen im Mai 1987. Trampert und Ditfurth verließen die Partei als exponierte Vertreter des radikalen Flügels zu Beginn der 1990er. (© picture-alliance/dpa)

Einzug in die Parlamente

Ungeachtet der Turbulenzen schafften es die Grünen in den 1980er-Jahren schnell, sich als neue Kraft im Parteiensystem festzusetzen (Klein / Falter 2003: 41 ff.). Ihr Ergebnis bei der Bundestagswahl 1980 war mit 1,5 Prozent zwar enttäuschend, nachdem eine grüne Liste bereits 1979 in Bremen erstmals in ein Landesparlament eingezogen war. Die vorgezogene Bundestagswahl 1983 brachte dann aber mit einem Ergebnis von 5,6 Prozent den erhofften Durchbruch. In der Folgezeit gelang es der Partei, in insgesamt acht Bundesländern über die Fünfprozenthürde zu kommen. Lediglich in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und im Saarland ließ der Einzug in die Landtage bis in die 1990er-Jahre auf sich warten. Bei der Bundestagswahl im Januar 1987 legten die Grünen weiter zu. Auch aus der kurz darauf stattfindenden hessischen Landtagswahl ging die Partei gestärkt hervor, obwohl die Koalition mit der SPD zuvor am Streit über die Atompolitik zerbrochen war. Zur Bildung der zweiten rot-grünen Koalition kam es Anfang 1989 in (West-)Berlin.

Ihrem basisdemokratischen Ansatz und Verständnis als "Anti-Parteien-Partei" versuchten die Grünen gerecht zu werden, indem sie den Aufbau der eigenen Organisation konsequent am Prinzip der Machtteilung ausrichteten (Klein / Falter 2003: 87 ff.). Beispielsweise führten sie ein Rotationsprinzip ein, das die Amtszeit ihrer Landtags- und Bundestagsabgeordneten auf zwei Jahre begrenzte, bevor sie durch Nachrücker ersetzt würden. Da dies den Bedürfnissen einer kontinuierlichen parlamentarischen Arbeit im Wege stand, wurde das Rotationsprinzip von Beginn an unterlaufen, womit seine Abschaffung nur noch eine Frage der Zeit war. Beibehalten wurden dagegen die ebenfalls umstrittene Trennung von Amt und Mandat (Abgeordnete und Minister dürfen keine Parteiämter bekleiden) und das Prinzip der kollektiven Führung. Letzteres sollte zugleich dazu dienen, die unterschiedlichen Strömungen in der Partei abzubilden und eine paritätische Vertretung der Geschlechter sicherzustellen. Die institutionellen Regelungen bedingen bis heute ein hohes Maß an Personalfluktuation in den Spitzenämtern. Sie verhinderten nicht, dass auch bei den Grünen informelle Machthierarchien entstanden und einzelne Personen als Identifikationsfiguren hervortraten. In der Gründungsphase galt das z.B. für Petra Kelly, deren innerparteilicher Einfluss hinter ihrer Strahlkraft nach außen allerdings deutlich zurückblieb, und ab den 1990er-Jahren bis zu seinem Ausscheiden 2005 für Joschka Fischer.

Vereinigung der westdeutschen Grünen mit dem ostdeutschen Bündnis 90

Dessen Aufstieg zur "heimlichen Nummer eins" wurde durch die Krise begünstigt, in die die Partei 1990 mit der deutschen Einheit geriet. Während Fischer in Hessen 1991 erneut das Amt des Umweltministers übernahm, waren die Grünen bei der ersten gesamtdeutschen Wahl Ende 1990 im Wahlgebiet West überraschend an der Fünfprozenthürde gescheitert. Neben ihren internen Streitigkeiten war dies auch der verfehlten Wahlkampfstrategie geschuldet, die an der historischen Umbruchsituation vorbeiging (Probst 2013: 515). In anderer Hinsicht stellte die deutsche Einheit eine positive Zäsur dar, gab sie den Grünen doch die Möglichkeit, einen Teil der DDR-Bürgerrechtsbewegung zu integrieren. Die Listenverbindung der Grünen mit den Bürgerbewegungen des Bündnis 90 im Wahlgebiet Ost, die ihr ab 1990 die parlamentarische Präsenz von acht ostdeutschen Abgeordneten sicherten, nahm die drei Jahre später vollzogene Vereinigung von Westgrünen und Bündnis 90 vorweg.

Das Zusammenwachsen der beiden Teile gestaltete sich schwierig. Die Bürgerrechtler fühlten sich in der gemeinsamen Partei an den Rand gedrängt. Dies wirkte sich auch in den Wahlen aus. Gelangten die Grünen 1990 bis auf Mecklenburg-Vorpommern in allen ostdeutschen Ländern in die Parlamente, war ihnen dies 1994 nur noch in Sachsen-Anhalt vergönnt. Erst ab Mitte der 2000er-Jahre verzeichneten sie auch im Osten wieder einen größeren Stimmenzuwachs. In den alten Ländern zeigte die Erfolgskurve in den 1990er-Jahren unterdessen nach oben. Hier profitierten die Grünen zum einen von ihrer Entradikalisierung, zum anderen von der wachsenden Unzufriedenheit mit der Kohl-Regierung. Neben Hessen kamen nun auch in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Hamburg rot-grüne Regierungsbündnisse zustande, die von der Parteibasis mit großen Mehrheiten unterstützt wurden.

Joschka Fischer und Jürgen Trittin bei der Bundesdelegiertenkonfernz 2001. (© picture-alliance)

Übernahme von Regierungsverantwortung im Bund

Dass das Ergebnis der Bundestagswahl 1998 unter den Erwartungen blieb, lag an der unglücklich geführten Wahlkampagne, die die Grünen mit ihrer Forderung nach einer schrittweisen Benzinpreiserhöhung auf fünf DM belastet hatten. Dennoch reichte es zur Bildung der ersten Koalition mit der SPD auf Bundesebene. Joschka Fischer besetzte darin das Amt des Außenministers und Vizekanzlers, Jürgen Trittin übernahm das Umweltressort, Andrea Fischer bis 2001 das Gesundheitsministerium und Renate Künast das Ministerium für Landwirtschaft und Verbraucherschutz.

Die Regierungszeit war von heftigen Turbulenzen begleitet. Die Beteiligungen der Bundeswehr an den Militäreinsätzen im Kosovo- (1999) und im Afghanistan-Krieg (2001) konnten in der Partei gegen den Widerstand der pazifistischen Kräfte nur mühsam durchgesetzt werden; sie stellten die Regierungsfähigkeit der Grünen in Frage. Auch in der Innen-, Wirtschafts- und Umweltpolitik blieb die Bilanz ernüchternd. Die Folge war eine Serie von Wahlniederlagen, die die Abwahl der Regierung nach nur einer Legislaturperiode bis wenige Monate vor der Bundestagswahl 2002 fast sicher erscheinen ließ. Im Wahlkampf gelang es Rot-Grün das Blatt doch noch zu wenden. Die knappe Bestätigung der Koalition war dabei vor allem dem guten Ergebnis der Grünen (8,7 Prozent) zu verdanken.

Die zweite Amtszeit stand unter gänzlich anderen Vorzeichen. Die Kehrtwende in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, die die Regierung 2003 unter dem Druck der schlechten Wirtschaftslage einleitete, schadete der SPD bei den Wahlen massiv und brachte mit der WASG einen neuen Konkurrenten im Parteiensystem hervor, der sich später mit der ostdeutschen PDS zur gesamtdeutschen Linkspartei vereinigte. Die Grünen konnten sich von diesem Negativtrend absetzen und verbuchten bei den Landtagswahlen sogar Zuwächse. Die von Kanzler Schröder nach der Abwahl der letzten rot-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen durch eine absichtlich verlorene Vertrauensfrage herbeigeführten Neuwahlen erfolgten deshalb gegen ihren Willen. Sie beendeten die rot-grüne Zusammenarbeit im Bund vorzeitig und führten die Grünen ab 2005 zurück in die Opposition.

Neue Koalitionen und erster grüner Ministerpräsident

Die Wahl markierte mit dem Rückzug von Joschka Fischer nicht nur in personeller Hinsicht einen tiefen Einschnitt. Sie veranlasste die Grünen auch zu einer koalitionspolitischen Öffnung, um sich aus der bisherigen Fixierung auf Rot-Grün zu lösen. 2008 schlossen sie (In Hamburg) erstmals eine Koalition mit der CDU, die aber genauso wie das 2009 geschlossene Jamaika-Bündnis mit CDU und FDP im Saarland vor Ablauf der Legislaturperiode zerbrach. In Baden-Württemberg, wo die Landtagswahl im März 2011 unmittelbar unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima stattfand, gelang es den Grünen erstmals, als stärkerer Partner in einer rot-grünen Regierung mit Winfried Kretschmann das Amt des Ministerpräsidenten zu besetzen. Im Quartett der Fraktions- und Parteispitzen war mittlerweile Jürgen Trittin zur wichtigsten Führungsfigur avanciert.

Führten Partei und Bundestagsfraktion zwischen 2014 und 2018: Die Bundesvorsitzenden Cem Özdemir (links) und Simone Peter (rechts), sowie die Fraktionsvorsitzenden Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt. (© picture-alliance/dpa)

Das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 (8,4 Prozent) bedeutete vor diesem Hintergrund einen herben Rückschlag. Der Absturz lag vor allem in den falsch gesetzten Themenschwerpunkten begründet. Nach der Wahl machten Trittin, Künast und Claudia Roth den Weg für einen personellen Neuanfang an der Partei- und Fraktionsspitze frei, der allerdings das Machtvakuum nicht füllte. Die Schwäche der Bundespartei kontrastierte mit der starken Präsenz in den Ländern, wo die Grünen schon Ende 2016 über elf Regierungsbeteiligungen verfügten und durch ihre Koalitionen mit der CDU in Hessen und Baden-Württemberg das Tor für ein schwarz-grünes Bündnis auf Bundesebene weiter öffneten (Kronenberg 2016). 2017 kam es in Schleswig-Holstein zur zweiten Auflage einer "Jamaika"-Koalition mit Union und FDP, die von der Mehrzahl der Beobachter als Signal für die anstehende Bundestagswahl gedeutet wurde.

Steigende Umfragewerte nach enttäuschender Bundestagswahl 2017

Sieht man von einem kurzzeitigen Aufschwung während der Flüchtlingskrise ab, profitierten die Grünen vom Oppositionseffekt seit 2013 kaum. Neben ihrer schwachen personellen Aufstellung lag das vor allem daran, dass die ökologischen Themen, für die sie eine Kompetenzführerschaft reklamieren konnten, trotz Klimaschutzabkommen und Dieselskandal in der Wahlperiode nur eine untergeordnete Rolle spielten. ihr Bundestagswahlergebnis von 2017 fiel deshalb erneut enttäuschend aus - mit einem Zuwachs von 0,5 Prozentpunkten landeten die Grünen im Wettbewerb mit den anderen drei kleinen Parteien auf dem letzten Platz. ihre koalitionspolitische Flexibilität zahlte sich aufgrund der Schwäche der SPD jetzt freilich aus. In die Sondierungsgespräche zur Bildung einer Jamaika-Koalition ging die Partei besser vorbereitet als die FDP, die die Verhandlungen schließlich platzen ließ. für ihre konstruktive Rolle wurden die Grünen in der anschließenden Oppositionszeit mit steigenden Umfragewerten belohnt. Gleichzeitig gelang ihnen mit der Wahl von Annalena Baerbock und Robert Habeck ein überzeugender Wechsel an der Parteispitze (Probst 2020).

Ab Herbst 2018 schafften es den Grünen erstmals, die SPD in den bundesweiten Umfragen dauerhaft hinter sich lassen. Auch bei mehreren Wahlen auf Bundes- und Landesebene - allen voran der Wahl zum Europäischen Parlament 2019 - konnten sie Platz zwei im Parteiensystem einnehmen. Neben ihrer personellen Neuaufstellung spielten ihnen dabei zum einen die dramatisch abnehmenden Zustimmungswerte von Union und SPD in die Hände, deren widerwillig geschlossenes Bündnis seit seinem Amtsantritt von heftigen parteiinternen Querelen überschattet war. Zum anderen profitierten sie davon, dass mit den weltweiten "Fridays for Future"-Protesten der Klimaschutz binnen kurzem zum wichtigsten innenpolitischen Thema aufstieg. Mit dem Ausbruch der Coronakrise wurde der Aufschwung zwar gestoppt; dennoch befanden sich die Grünen 2020 in einer guten Ausgangsposition, um das 2013 und 2017 verfehlte Ziel einer Regierungsbeteiligung nach der nächsten Bundestagswahl zu erreichen.

Ihren Machtanspruch demonstrierte die Partei dadurch, dass sie für die Bundestagswahl 2021 erstmals eine eigene Kanzlerkandidatin aufstellte. Habeck und Baerbock machten die Entscheidung dabei ohne Beteiligung der Basis unter sich aus, wobei Habeck trotz eigener Ambitionen der Frau den Vortritt ließ und damit der Proporzlogik der Grünen folgte. Kaum war die Ankündigung erfolgt, wurden öffentliche Vorwürfe gegen Baerbock wegen ihres angeblich geschönten Lebenslaufs und einem eilig zusammengeschriebenen, zum Teil plagiierten Buch laut, die tief an der Glaubwürdigkeit der Kandidatin kratzten. Das Scheitern ihrer Kampagne lag auch in der wenig professionellen Wahlkampfführung und -kommunikation begründet, die wiederum auf die vergleichsweise schwache Organisationsbasis der Partei verwiesen. Von der Favoritenrolle befreit, gelang es Baerbock zwar, in der letzten Wahlkampfphase - unter andere durch ihre überzeugenden Auftritte in den drei TV-"Triellen" - Boden gutzumachen. Dennoch lagen die Grünen am Ende trotz ihres bis dahin besten Ergebnisses bei einer Bundestagswahl (14,8 Prozent) abgeschlagen hinter der siegreichen SPD und den Unionsparteien.

Radikale Klimaproteste und Krieg in der Ukraine fordern die Grünen in der Regierung heraus

Bei den Verhandlungen zur Bildung einer Ampelkoalition gelang es den Grünen, die tiefgreifenden Positionsunterschiede insbesondere zur FDP durch eine personelle Vertrauensbasis zwischen den wichtigsten Akteuren zu überbrücken. Als Erfolg verbuchen konnten sie die Bündelung der wichtigsten klimapolitischen Zuständigkeiten im vom neuen Vizekanzler Robert Habeck geleiteten Wirtschaftsressort, während Annalena Baerbock als erste Frau in der Bundesrepublik und zweite Grünen-Politikerin nach Joschka Fischer in das Auswärtige Amt einzog. Familienministerin Anne Spiegel musste wegen ihrer Rolle während der Flutkatastrophe im Ahrtal in ihrem vorangegangenen Amt als rheinland-pfälzische Umweltministerin schon nach vier Monaten zurücktreten und wurde durch Lisa Paus ersetzt. Die frühere Generalsekretärin Steffi Lemke übernahm das gestutzte Umweltministerium, Cem Özdemir - anstelle des vom linken Parteiflügel favorisierten Anton Hofreiter - das Agrarressort.

Annalena Baerbock und Robert Habeck vor Beginn einer Sitzung des Bundeskabinetts im Oktober 2022. Während die gescheiterte Kanzlerkandidatin Baerbock nach der Wahl 2021 in das Auswärtige Amt einzog, übernahm Habeck als Vizekanzler das Wirtschaftsressort. (© picture-alliance)

Mit dem Wechsel in die Regierungsrolle stehen die Grünen vor schwierigen Gratwanderungen. Ob die von ihnen in der Ampelkoalition durchgesetzten Klimaschutzmaßnahmen ausreichen, um die angestrebten Reduktionsziele zu erreichen, ist fraglich. Der Partei könnten dadurch wieder härtere Konflikte ins Haus stehen. Gerade den Vertretern der jüngeren Generationen, von denen sich viele den Grünen angeschlossen haben, die sich aber auch jenseits von ihnen in radikaleren Protestformen engagieren, erscheint die Klimaschutzpolitik viel zu unentschlossen und halbherzig. Mit der Zeitenwende des Ukraine-Krieges hat sich das Dilemma nochmals verschärft. Sie nötigte die Grünen zu pragmatischen Kurskorrekturen bei der Kohleenergie, beim Ersatz für die ausfallenden russischen Gaslieferungen und den noch im Betrieb befindlichen Atomkraftwerken, die an den Kern ihrer programmatischen Identität rühren. Dennoch blieb die Partei in den bundesweiten Umfragen 2022 mit Werten um die 20 Prozent stabil; gleichzeitig rückte sie in Nordrhein-Westfalen (mit der CDU) und in Niedersachsen (mit der SPD) in weiteren zwei Ländern zur Regierungspartei auf.

Quellen / Literatur

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  • Probst, Lothar (2020), Bündnis 90/Die Grünen: Grüne Erfolgswelle nach enttäuschendem Wahlergebnis, in: Uwe Jun / Oskar Niedermayer (Hg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017, S. 187-219.

  • Raschke, Joachim (1993), Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln.

  • Raschke, Joachim (2001), Die Krise der Grünen. "So kann man nicht regieren", Frankfurt a.M.

  • Switek, Niko (2012), Bündnis 90/Die Grünen: Zur Entscheidungsmacht grüner Bundesparteitage, in: Karl-Rudolf Korte / Jan Treibel (Hg.), Wie entscheiden Parteien? (ZPol-Sonderband), Baden-Baden, S. 121-154.

  • Switek, Niko (2022), Not a Single-Digit-Party Anymore. The Central Role of Alliance 90/The Greens in a Changed Party System, in: German Politics and Society 40 (3), S. 23-44.

  • Walter, Franz (2010), Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld.

  • Walter, Franz / Stephan Klecha / Alexander Hensel, Hg. (2015), Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte, Göttingen.

Fussnoten

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Prof. Dr. Frank Decker lehrt und forscht am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Parteien, westliche Regierungssysteme und Rechtspopulismus im internationalen Vergleich.