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Die Europäisierung der politischen Parteien

Heinrich Pehle

/ 12 Minuten zu lesen

Die fortschreitende europäische Integration lässt auch die Parteien nicht unberührt zurück. Die EU bringt neue Themen und andere Notwendigkeiten der Zusammenarbeit. Und im Europäischen Parlament winken den Parteien Mandate. Aber welchen Einfluss hat "Europa" auf die Parteien, wie verändert es die nationalen Parteiensysteme? Welchen Stellenwert hat das Europäische Parlament in der Arbeit der Parteien?

Europawahlkampf 2014. Die Wahlkämpfe zu Europawahlen werden von den Wahlkampfmanagern gern als Test- oder gar "Denkzettelwahlen" inszeniert. (© picture-alliance)

Unter "Europäisierung" ist ein politisch gesellschaftlicher Prozess zu verstehen, der angetrieben von der Geschwindigkeit und Reichweite der europäischen Integration einen Anpassungsdruck auf die nationalen Institutionen und Akteure erzeugt. Politische Strukturen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) wurden und werden in Reaktion auf den fortschreitenden Kompetenztransfer vom Nationalstaat zur EU an die Logik und die Inhalte europäischen Entscheidens angepasst (Sturm/Pehle 2012: 14). Die Parteien als diejenigen Akteure, welche die Prozesse der politischen Willensbildung dominieren, sind von dieser Entwicklung natürlich nicht ausgenommen. Oskar Niedermayer (1996: 84) hat dies schon frühzeitig mit der Rede von der "Europäisierung der Parteienlandschaft" auf den Begriff zu bringen versucht.

Zu klären ist, erstens, ob und inwieweit die europäische Integration eine Veränderung des nationalen Parteiensystems mit sich gebracht hat. Zweitens interessiert der organisatorische Aspekt. Dabei rückt der Zusammenschluss nationaler Parteien zu europäischen politischen Parteien in den Blick. Der dritte Aspekt ist inhaltlicher Art und richtet sich auf die Positionen zur europäischen Integration in der Programmatik der einzelnen Parteien. Damit unmittelbar verbunden ist die Bedeutung des Themas "Europa" für den parteipolitischen Wettbewerb, konkret also für die Wahlkämpfe bei nationalen und bei den Europawahlen.

Kaum Einfluss auf nationale Parteiensysteme

Inwieweit hat die europäische Integration das Format der nationalen Parteiensysteme beeinflusst? Hier zeigte sich in den Mitgliedstaaten der EU lange eine fortdauernde Resistenz gegenüber den Entwicklungen auf europäischer Ebene. Im Zeitraum von 1979 bis 1999 ließen sich EU-weit insgesamt nur drei neu gegründete Parteien nachweisen, deren Entstehung unmittelbar auf den europäischen Integrationsprozess zurückzuführen war (Mair 2000: 30f.). Es handelte sich dabei durchgängig um Parteien, die bestrebt waren bzw. sind, die EU-Gegner in den jeweiligen Mitgliedstaaten zu organisieren.

Eine dieser drei Parteien wurde im Januar 1994 in Deutschland von einem ehemaligen Kabinettschef bei der EG-Kommission und FDP-Mitglied, Manfred Brunner, gegründet. Der "Bund Freier Bürger" (BfB), dessen Programmatik sich weitgehend in einer Kritik des Vertrages von Maastricht und der Einführung der gemeinsamen europäischen Währung erschöpfte, erreichte bei der Europawahl im Jahr 1994 1,1 Prozent der Stimmen. Bei der Bundestagswahl von 1998 betrug sein Anteil an den Zweitstimmen nur noch 0,2 Prozent. Ein Jahr nach dem Parteiaustritt Brunners löste sich der BfB im Jahr 2000 auf.

Nachdem weitere Neugründungen politischer Parteien mit einem programmatischen Fokus auf die Europäische Union in den Folgejahren unterblieben, galt der Befund zunächst weiter, dass "Europa" das deutsche Parteiensystem als Ganzes weitgehend unberührt ließ.

War die Europawahl 2014 eine Trendwende?

In den vergangenen Jahren trat der europäische Integrationsprozess jedoch deutlicher als Konfliktlinie in den nationalen Parteiensystemen in Erscheinung.

Das prominenteste Beispiel lieferte die britische UK Independence Party (UKIP), die für einen Austritt des Vereinigten Königreichs (UK) aus der EU eintrat. Bei der Europawahl 2014 wurde sie mit 28 Prozent der Stimmen im UK und 24 Sitzen im Europäischen Parlament zur stärksten britischen Kraft dortselbst und konnte seit einer Nachwahl zum Unterhaus im Oktober 2014 zusätzlich auf ihren ersten nationalen Abgeordneten verweisen. Seit dem aus Sicht der EU-Skeptiker erfolgreichen Referendum zum Brexit, also dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, verlor die UKIP, ihres eigentlichen Daseinszwecks beraubt, kontinuierlich an Bedeutung. Hatte sie bei der Unterhauswahl des Jahres 2015 noch 12,6 Prozent der Stimmen erhalten (was auf Grund des britischen Wahlsystems allerdings wiederum nur für ein Mandat reichte), waren es bei den vorgezogenen Wahlen von 2017 nur noch 1,8 Prozent.

Geradezu diametral entgegengesetzt verlief die Entwicklung der von EU-Skeptikern in Deutschland gegründeten Partei "Alternative für Deutschland" (AfD). Das Leitthema dieser Partei, die am 6. Februar 2013 gegründet wurde, bestand in der fundamentalen Kritik am europäischen Währungssystem, dessen Auflösung und damit die "geordnete Beendigung des Experiments EURO" die Partei bis heute fordert. Dieses Postulat ist angesichts der islamkritischen Positionierung und der ablehnenden Haltung gegenüber der Einwanderungs- und Asylpolitik der Bundesregierung in ihrem am 1. Mai 2016 verabschiedeten Grundsatzprogramm zwar etwas in den Hintergrund getreten. Angesichts der Forderung der Partei, "die EU zurückzuführen zu einer Wirtschafts- und Interessengemeinschaft souveräner, lose verbundener Einzelstaaten in ihrem ursprünglichen Sinne", kann jedoch kein Zweifel bestehen, dass "Europa" zu einem Streitthema geworden ist, das die deutsche Parteienlandschaft wesentlich mit strukturiert.

Bei der Bundestagswahl 2013 erreichte die AfD 4,7 Prozent der Zweitstimmen, scheiterte also knapp an der Fünfprozenthürde, war aber bei der Europawahl 2014 mit 7,1 Prozent der Stimmen und ursprünglich sieben Abgeordneten erfolgreich. Die zunehmende Radikalisierung der Partei bewog dessen Gründer, Bernd Lucke, zusammen mit vier weiteren Europaabgeordneten aus der Partei auszutreten und eine neue Partei, ALFA, zu gründen. Diese Gruppierung, die sich später in "Liberal-Konservative Reformer" umbenannte, blieb jedoch politisch bedeutungslos.

Ganz anders entwickelte sich die AfD: Weiteren Erfolgen bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen im Jahr 2014 folgten entsprechende Ergebnisse in Hamburg und Bremen 2015 und in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz 2016. Der Einzug der Partei in insgesamt 14 Landesparlamente bis zum Zeitpunkt der Bundestagswahl vom September 2017 deutete schon darauf hin, dass sich die AfD durchaus Chancen auf eine dauerhafte Etablierung im deutschen Parteiensystem auch auf Bundesebene ausrechnen konnte. Die Bundestagswahl vom September 2017 bestätigte diese Prognose. Mit 12,6 Prozent der gültigen Zweitstimmen erlangte die Partei 92 Mandate und wurde damit drittstärkste Kraft im Parlament und stellt nach der Konstituierung der Großen Koalition die stärkste Oppositionsfraktion.

Die Europawahlen des Jahres 2019 werden zeigen, inwieweit die Erfolge europakritischer Parteien in Deutschland und den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union von Dauer sind. Dagegen spricht zwar, dass die Kritik an der Gemeinschaftswährung Euro in nahezu allen Mitgliedstaaten deutlich leiser geworden ist. Deutlich überlagert wird diese jedoch von der polarisierten Auseinandersetzung sowohl über die jeweilige mitgliedstaatliche Flüchtlings-, Asyl- und Integrationspolitik als auch über deren Überformung durch die Europäische Union. In Verbindung mit einem in allen Mitgliedstaaten der EU in unterschiedlicher Intensität grassierenden, generellen antieuropäischen Populismus hat die Debatte über die Europäisierung der mitgliedstaatlichen Parteiensysteme seit den Jahren 2016/2017 einen völlig neuen Akzent erhalten. Wie steht es aber um deren Pendant auf gesamteuropäischer Ebene? Lässt sich überhaupt mit Recht von einem europäischen Parteiensystem sprechen?

Warum gibt es Europäische Parteien?

Ihre Ursprünge fanden die im EU-Vertrag so genannten "Europäischen Politischen Parteien" im Vorfeld der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments von 1979. Damals gründeten sich die die Parteibünde der Sozialdemokraten, Konservativen und Liberalen. Sie wurden organisatorisch zu festeren Gebilden - eben europäischen Parteien - weiterentwickelt und fanden Nachahmer im grünen und linken Parteienspektrum. Im Vertrag von Maastricht 1993 wurden die europäischen Parteien erstmals ausdrücklich gewürdigt und sind seitdem Teil der Europäischen Verträge.

Die Europäischen Parteien sollen laut Artikel 10 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) zur "Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union beitragen". Allerdings können sie diese Funktion allenfalls vermittelt erfüllen, denn ihr gemeinsames und zentrales Merkmal ist nach wie vor, dass sie nicht als Personalkörperschaften organisiert sind. Ihre Mitglieder sind also selbst Parteien. Die Europäischen Politischen Parteien sind konzipiert worden, um eine programmatische Bündelung ihrer Mitgliedsparteien zu ermöglichen. Ihre Funktion sollte also von vornherein gerade nicht darin bestehen, wie die nationalen Parteien direkt zur Willensbildung der Bevölkerung beizutragen, und schon gar nicht, um auf nationaler Ebene in Konkurrenz um Wählerstimmen zu treten. Um die Sitze im Europäischen Parlament konkurrieren in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU ausschließlich nationale Parteien. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die Europäischen Politischen Parteien im Vorfeld der Europawahl 2014 erstmals Spitzenkandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission nominierten. Die Gründe, warum die europäischen Parteien bei den Europawahlen nicht als solche antreten, sind nicht nur in ihrer besonderen Mitgliedsstruktur zu suchen. Sie liegen auch in ihrer natürlichen Distanz zur Wahlbevölkerung in den einzelnen Mitgliedstaaten und in der programmatischen Heterogenität ihrer nationalen Mitgliedsparteien, die bei Europawahlen teilweise sogar miteinander konkurrieren.

Auch die deutschen Parteien sind zum Teil in Europäischen Parteien vertreten: Die beiden Unionsparteien CDU und CSU sind Mitglieder der "Europäischen Volkspartei - Christliche Demokraten" (EVP-CD), die SPD gehört der "Sozialdemokratischen Partei Europas" (SPE) an und Bündnis 90/Die Grünen der "Europäischen Grünen Partei" (EGP). Die "Europäische Linkspartei" zählt Die Linke aus Deutschland zu ihren Mitgliedern und die "Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa" (ALDE) die FDP. Die AfD hingegen ist nicht in einer europäischen Parteiorganisation vertreten.

Wo findet die Willensbildung statt?

Noch immer gilt, dass die Europäischen Politischen Parteien zwar existieren, im Grunde aber bislang nicht zur Vermittlung europäischer Politik an die Bürger beitragen. Warum wurden sie dennoch im europäischen Vertragswerk verankert? Der wohl wichtigste Beweggrund für ihre vertragsrechtliche Anerkennung bestand darin, ihre Finanzierung aus Mitteln des EU-Haushalts zu legitimieren (Tsatsos/Deinzer 1998: 19). Hierfür diente der "Parteienartikel" im deutschen Grundgesetz (Artikel 21 GG) und die in Deutschland maßgeblich vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Begründung der Parteienfinanzierung als Vorbild. Dieses Modell konnte allerdings erst durch die Verabschiedung des "Parteienstatuts" der Europäischen Union realisiert werden. Seit den Europawahlen des Jahres 2004 regelt dieses Statut die Finanzierung der Europäischen Politischen Parteien aus den Haushaltsmitteln der Europäischen Union.

Zur Rechtfertigung staatlicher bzw. öffentlicher Parteienfinanzierung werden im Wesentlichen zwei miteinander verbundene Argumente herangezogen. Sie basieren auf der Prämisse, dass das Volk auch in der repräsentativen Demokratie jederzeit, also auch in der Zeit zwischen den Wahlen, Einfluss auf die politischen Entscheidungen nehmen können muss. Das bedeutet, dass die politischen Parteien nicht nur als Wettbewerber bei den Parlamentswahlen auftreten, sondern permanent an der Willensbildung des Volkes teilhaben sollen. Die Finanzierung der Europäischen Politischen Parteien aus Mitteln des EU-Haushalts kann deshalb nur schwer gerechtfertigt werden, denn europäische Parteipolitik im eigentlichen Sinne findet noch immer fast ausschließlich in den jeweiligen nationalen Parteiorganisationen statt. Ihnen kommt damit die Aufgabe zu, direkt zur europabezogenen politischen Willensbildung der Bürger beizutragen.

Grundkonsens der Parteien, mangelndes Interesse der Wähler

Welche Bedeutung kommt aber dem Thema "Europa" bei der Tätigkeit der politischen Parteien in der Bundesrepublik zu? Entscheidender Maßstab für diese Prüfung sind neben den Aussagen zur europäischen Integration in den allgemeinen Parteiprogrammen vor allem die von den Parteien bei den Europawahlen im Wahlkampf gesetzten Akzente. Dabei zeigt sich, dass es dem deutschen Parteiensystem weitgehend an parteipolitisch zuordnungsfähigen, inhaltlich unterscheidbaren europapolitischen Konzepten mangelt. In den zentralen Fragen der Europapolitik gibt es in Deutschland - sieht man einmal von der AfD ab - zumindest unter den im Bundestag vertretenen Parteien einen breiten Konsens der prinzipiellen Zustimmung zur europäischen Integration. Er schließt grundsätzlich auch Die Linke ein, wenngleich mit erheblichen Abstrichen. Das wurde zum Beispiel daran deutlich, dass ihre Fraktion im Jahr 2010 im Bundestag das Ratifizierungsgesetz zum Vertrag von Lissabon einhellig ablehnte. Die europapolitischen Programme der deutschen Parteien unterscheiden sich - sieht man wiederum von der AfD ab - ansonsten nur in politikfeldspezifischen Details. Das Problem besteht allerdings nicht nur darin, dass die politischen Parteien nur wenige grundsätzliche Alternativen über die Inhalte europäischer Politik entwickelt haben. Mindestens ebenso wichtig ist, dass es ihnen nicht gelingt, der Wählerschaft die Relevanz des Themas "Europa" in der gebührenden Intensität zu vermitteln. Welche Gründe hat dieses Versäumnis?

Analysen der Forschungsgruppe Wahlen zu den Europawahlen der Jahre 1999, 2004 und 2009 war unter anderem zu entnehmen, dass nur etwa ein Viertel aller Wahlberechtigten in Deutschland sich für europapolitische Fragen interessierten. 2014 war dieser Wert immerhin auf 40 Prozent gestiegen, ohne dass sich damit aber eine nennenswert erhöhte Wertschätzung der Wahlen zum Europäischen Parlament verband. Die Wahlbeteiligung in Deutschland an den Europawahlen sank 1999 im Vergleich zu 1994 um 14,8 Prozent auf 45,2 Prozent. 2004 erreichte sie das historische Tief von 43,0 Prozent, das 2009 mit 43,3 Prozent bestätigt wurde. Zwar stieg die Wahlbeteiligung im Jahr 2014 auf 48,1 Prozent, lag damit aber immer noch mehr als deutlich unter der bei Bundestagswahlen. Zudem haben europapolitische Fragen für die Entscheidung der meisten Wählerinnen und Wähler bei Europawahlen nur eine deutlich nachgeordnete Bedeutung. Mehr als die Hälfte (54 Prozent) derer, die sich 2014 an der Wahl beteiligten, gaben an, dass die Bundespolitik der für ihre Entscheidung maßgebliche Faktor gewesen sei (Forschungsgruppe Wahlen 2014).

Europawahlen sind nationale "Nebenwahlen"

Die Wahlkampf-Verantwortlichen der politischen Parteien reagieren kaum auf dieses Meinungsbild. Statt die Programmarbeit an dieser Stelle zu intensivieren, behandeln sie Europa und die Europäische Union seit jeher als Randthemen. Die Europawahlen werden von beiden Seiten - Parteien und Wählern - als "Nebenwahlen" ("second order elections") wahrgenommen, bei denen es um "weniger" als bei nationalen Parlamentswahlen geht. Die Wahlkämpfe orientieren sich nach wie vor primär an nationalen Themen und werden von den Wahlkampfmanagern gern als Test- oder gar "Denkzettelwahlen" inszeniert.

Dass die Tradition des "Missbrauchs" der Europawahlen durch die Parteien zu nationalen Zwecken (Decker 2000: 605) weiter gepflegt wird, zeigt sich auch daran, dass deren Schatzmeister auf "Zurückhaltung" im Europawahlkampf hinwirken, um durch den geringeren Mitteleinsatz ein finanzielles Plus für die Parteikasse zu erwirtschaften. Dieses resultiert aus dem Umstand, dass auch die Wählerstimmen bei den Europawahlen analog zu den Regelungen für die Bundestags- und die Landtagswahlen im Rahmen der staatlichen Teilfinanzierung der politischen Parteien prämiert werden. Für die Europawahlkämpfe gilt seit jeher, dass die Budgets der Parteien weniger als die Hälfte als bei Bundestagswahlkämpfen betragen.

Die Tatsache, dass die Europawahlen im Vergleich zu nationalen Parlamentswahlen von Wählern und Parteien gleichermaßen deutlich geringer gewichtet werden, mag angesichts der in den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Lissabon sukzessive vorgenommenen Aufwertung des Europäischen Parlaments verwundern. Doch in dieser Hinsicht ist die "Zurückhaltung" der Parteien rationaler als es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn dass sich das Europäische Parlament gegenüber dem Rat mittlerweile emanzipieren konnte, bedeutet nicht gleichzeitig, dass auch die Gestaltungschancen der in seinen Fraktionen vertretenen Parteien im gleichen Maße gestiegen sind. Dies hat im Wesentlichen zwei Gründe.

Hoher Aufwand, kaum Gewinn

Erstens schränkt die politisch-ideologische Heterogenität der Fraktionen im Europäischen Parlament die Durchsetzung der Prioritäten nationaler Parteien entscheidend ein. Zum Zwang, sich innerhalb der einzelnen Fraktionen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen, tritt, zweitens, der Umstand hinzu, dass das Parlament sich im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nur dann Geltung verschaffen kann, wenn es im Stande ist, die absolute Mehrheit seiner Mitglieder zu mobilisieren (Art. 294 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)).

Weil in der bisherigen Geschichte der Europäischen Union noch keine Fraktion allein über die absolute Mehrheit verfügte, kam es in der Vergangenheit häufig zu einer "Großen Koalition" der Fraktionen der Europäischen Volkspartei (EVP) und der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE), die nicht selten auch von der Fraktion der Liberalen (ALDE) unterstützt wurde. In dieser Perspektive erscheint die fehlende sachpolitische Profilierung der nationalen Parteien im Europawahlkampf also als Reflex der parteiübergreifenden Kooperationszwänge im Europäischen Parlament.

Stellt man einen Vergleich der Ausgangsbedingungen für die Europawahlen in den einzelnen Mitgliedstaaten an, offenbart sich für die deutschen Parteien und ihre potentiellen Wähler ein weiteres, das Wahlkampfengagement beeinträchtigendes Moment: Auf Grund der disproportionalen Verteilung der Mandate im Europäischen Parlament auf die Mitgliedstaaten haben die deutschen Parteien bei einem vergleichsweise hohen Aufwand relativ wenig zu gewinnen. Die deutschen Parteien konkurrieren um insgesamt 96 Sitze, die der Bundesrepublik im Europäischen Parlament zugewiesen sind; ein Abgeordneter repräsentiert damit mehr als 800.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Österreich beispielsweise liegt die Repräsentationsdichte fast doppelt so hoch. Die sechs Abgeordneten aus Luxemburg repräsentieren im Durchschnitt gar nur knapp 68.000 Einwohner.

Fazit: Enge Grenzen der Europäisierung

Die politischen Prämien, die den Parteien nach erfolgreich gestalteten Europawahlkämpfen winken, sind schon unter den bislang genannten Gesichtspunkten also durchaus bescheiden. Und sie erscheinen noch geringer, wenn die reale Gewichtsverteilung zwischen den Organen der Europäischen Union mit in den Blick genommen wird. Nationale Parteien, die wirklich gestaltend auf die Politiken der Europäischen Union einwirken wollen, haben noch immer andere Zielorte als das Europäische Parlament: den Europäischen Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs vertreten sind, und den Rat der Europäischen Union (Ministerrat). An die eigentlichen "Schaltstellen der Macht" innerhalb der Europäischen Union gelangen die Parteien also nicht über die Europawahlen, sondern über eine durch die Wahlen zum Deutschen Bundestag vermittelte Regierungsbeteiligung.

Nimmt man den Befund ernst, dass dem Europäischen Rat - und damit eben den dort vertretenen Staats- und Regierungschefs - mittlerweile eine Schlüsselfunktion für die Entscheidungsfindung der Europäischen Union zukommt, dann lässt sich diese Aussage noch dahingehend zuspitzen, dass die Partei, die die Kanzlerin oder den Kanzler stellt, den größtmöglichen Einfluss auf die EU-Politik verbuchen kann. Weil also durch das Entscheidungssystem der Europäischen Union faktisch nur diejenigen Parteien belohnt werden, die im nationalen Wettbewerb erfolgreich sind, sind ihrer durchgreifenden Europäisierung im eingangs definierten Sinne, wie sie etwa das System der organisierten Interessen kennzeichnet, von vornherein Grenzen gesetzt.

Quellen / Literatur

  • Decker, Frank (2000): Demokratie und Demokratisierung jenseits des Nationalstaates. Das Beispiel der Europäischen Union, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 10 (2), S. 585-629.

  • Forschungsgruppe Wahlen (2014): http://www.forschungsgruppe.de/Wahlen/Wahlanalysen/europawahl 2014

  • Mair, Peter (2000): The Limited Impact of Europe on National Party Systems, in: West European Politics 23 (4), S. 27-51.

  • Niedermayer, Oskar (1996): Europäische Parteienzusammenschlüsse, in: Lexikon der Politik Band 5. Die Europäische Union, München, S. 84-90.

  • Sturm, Roland/Pehle, Heinrich (2012): Das neue deutsche Regierungssystem. Die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern in der Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage, Wiesbaden.

  • Tsatsos, Dimitris/Deinzer, Gerold (1998): Europäische politische Parteien. Dokumente einer Hoffnung, Baden-Baden.

Fussnoten

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Heinrich Pehle für bpb.de

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Prof. Dr. Heinrich Pehle ist emeritierter Professor am Institut für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem das Politische System der Bundesrepublik Deutschland sowie die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern.