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"Nahezu jede neue Wahlkreiskarte wird vor Gericht angefochten" | USA | bpb.de

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"Nahezu jede neue Wahlkreiskarte wird vor Gericht angefochten"

Julian Heissler Michael McDonald

/ 8 Minuten zu lesen

Um die Anpassung der Wahlkreise wird in den USA regelmäßig gestritten und für die Kartengestaltung nach parteipolitischen Interessen gibt es sogar ein eigenes Wort. Der Wahlrechtsexperte Michael McDonald erklärt im Interview die Hintergründe des Verfahrens, die auch hier bemerkbare Polarisierung und die Reaktion der Wählerschaft.

Debatte im Senat des Bundesstaats South Carolina um die Neuziehung der Wahlkreise im Januar 2022. Der demokratische Senator Dick Harpootlian vergleicht die Vorschläge beider Parteien. (© picture-alliance/AP, Jeffrey Collins)

Alle zehn Jahre werden die Wahlkreise für das Interner Link: US-Repräsentantenhaus neu gezogen. Vor den Midterm-Wahlen im November 2022 werden erneut kontroverse Debatten über diesen Prozess geführt. Was ist der Hintergrund?

In den USA schickt jeder Interner Link: Wahlkreis eine Abgeordnete oder einen Abgeordneten ins Repräsentantenhaus. Da sich die Bevölkerung innerhalb des Landes ständig verändert, müssen die Wahlkreise regelmäßig angepasst werden, damit die Zahl der vertretenen Bürgerinnen und Bürger nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Menschen ziehen um, sterben oder werden geboren. Der Anpassungsprozess der Wahlkreise, Redistricting genannt, findet alle zehn Jahre statt, denn dann führen die Vereinigten Staaten ihren in der Interner Link: Verfassung verankerten wiederkehrenden Interner Link: Zensus durch.

An welche Regeln müssen sich die Bundesstaaten halten?

Es gibt sehr wenige Interner Link: bundeseinheitliche Vorschriften. Grundsätzlich müssen die Bevölkerungsanteile in den Wahlkreisen gleich groß sein. Hinzu kommen Auflagen durch den Voting Rights Act, der vorschreibt, dass die Bundesstaaten Wahlkreise schaffen müssen, die es Interner Link: Minderheiten ermöglichen, im Kongress vertreten zu sein. Ansonsten unterscheiden sich die Regeln von Bundesstaat zu Bundesstaat. Einige wenige Grundsätze haben sich jedoch durchgesetzt: Wahlkreise sollen weitestgehend kompakt und zusammenhängend sein und sich an bestehenden politischen Grenzen orientieren. In einigen Bundesstaaten gibt es zudem Vorgaben, die die Politisierung des Prozesses untersagen und damit parteipolitischem Gerrymandering entgegentreten sollen.

Diesen Begriff müssen Sie erklären.

Das Ziehen von Wahlkreisgrenzen klingt zunächst nach einer einfachen administrativen Aufgabe. Aber es ist möglich, Menschen strategisch in Distrikte einzuteilen und so den Ausgang von Wahlen zu beeinflussen. Der Begriff Gerrymandering geht zurück auf das Jahr 1812, als der damalige Gouverneur von Massachusetts, Elbridge Gerry, eine Wahlkreiskarte in Kraft gesetzt hat, die einen höchst merkwürdig geformten Wahlbezirk enthielt. Dort hat das Wort seinen Ursprung.

Ursprung des Gerrymandering: eine Karikatur der von Gouverneur Elbridge Gerry bestätigten Wahlkreiskarte von Massachusetts aus dem Jahr 1812. Der bizarr gezogene Wahlkreis South Essex erinnerte manche an einen Salamander, daher das Wortspiel: Gerry-mander. (© Public Domain)

Wer bestimmt über den Zuschnitt der Wahlkreise?

Auch hier gibt es große Unterschiede. In einigen Staaten übernehmen unabhängige oder überparteiliche Kommissionen die Aufgabe, in anderen werden die Wahlkreiskarten von der Politik in einem normalen Gesetzgebungsverfahren bestimmt. Das ist bis heute der häufigste Fall. Und daraus ergibt sich ein Problem. Denn die Politikerinnen und Politiker, die über die Distriktgrenzen bestimmen, sind dieselben, die in ihnen gewählt werden wollen. Da ist die Versuchung groß, die Linien so zu ziehen, dass es dem eigenen politischen Vorteil dient.

Politisches Gerrymandering ist aufgrund seiner Auswirkungen auf die Machtverhältnisse in Washington zunehmend umstritten. War das schon immer so?

Das Thema beschäftigt die Gerichte seit den 1960er-Jahren. Damals hat der Interner Link: Supreme Court erstmals festgeschrieben, dass Wahlkreise die gleiche Menge an Einwohnern (Anmerkung: Die Wahlkreise orientieren sich an Bevölkerung, nicht Wählerinnen und Wählern) repräsentieren und dass sie regelmäßig angepasst werden müssen. Zuvor gab es etwa in Tennessee Distrikte, in denen zwanzig Mal mehr Menschen lebten als in anderen und die seit 60 Jahren nicht mehr neu gezogen worden waren. Später kamen noch die Anforderungen durch den Voting Rights Act hinzu. Seitdem beschäftigen sich die Gerichte in den Staaten und auf Bundesebene regelmäßig mit dem Thema. Es ist nahezu garantiert, dass jede neue Wahlkreiskarte vor Gericht angefochten wird. Nur in den Bundesstaaten, wo die Distrikte überparteilich festgelegt werden, sieht es manchmal anders aus. Allerdings nicht immer, wie jüngst das Beispiel Virginia zeigte.

In dem Bundesstaat wurde die Neugestaltung der Wahlkreise gerade an eine überparteiliche Kommission ausgelagert.

Die Arbeit der Kommission wurde allerdings umgehend blockiert. Die politische Polarisierung sorgt dafür, dass sich beide Seiten schlicht nicht auf Zuschnitte einigen können. Deshalb mussten die Gerichte die Aufgabe übernehmen.

Also können auch überparteiliche Institutionen das Problem nicht lösen?

Sie können funktionieren, allerdings tun sie das in der Regel nur dann, wenn es um wenig geht. In dem Bundesstaat Idaho mit mehrheitlich republikanischer Wählerschaft etwa gibt es eine überparteiliche Kommission, die gut zusammenarbeitet. Aber die Bevölkerung dort ist so verlässlich konservativ, dass es nahezu unmöglich wäre eine Wahlkreiskarte zu erstellen, die den Demokraten dort die Mehrheit ermöglichen würde. In umkämpften Staaten mit vielen Abgeordneten wie eben Virginia oder Ohio ist der überparteiliche Prozess hingegen zuletzt immer wieder gescheitert. Es ist ein weiteres Symptom der Interner Link: Krise der US-amerikanischen Politik, dass sie sich nicht einmal mehr darauf einigen kann, wie Wahlkreise zugeschnitten werden sollen.

Trotzdem hat der Supreme Court 2019 abgelehnt, sich mit dem Problem des Gerrymandering zu befassen.

Das Gericht hat die Entscheidung damit begründet, dass es für den Supreme Court unmöglich sei, einen nationalen Standard dafür zu entwickeln, wie verfassungskonformes Gerrymandering aussehen müsste. Es handle sich um eine politische, nicht um eine rechtliche Frage. Damit hat der Supreme Court die Verantwortung zurück an die Bundesstaaten gegeben. Und dort gibt es wie gesagt teilweise durchaus Regeln. Damit bleiben allerdings die Regeln für Minderheitenwahlkreise fast die einzigen, die auch auf Bundesebene durchgesetzt werden können. Wir haben das zuletzt in Alabama gesehen, wo ein Bundesgericht entschieden hat, der Staat müsse einen zweiten aussichtsreichen Stimmdistrikt für Minderheiten schaffen. Bislang gibt es dort nur einen. Die Regierung von Alabama ist dagegen in Berufung gegangen. Vermutlich wird der Fall den Supreme Court erreichen. Ich denke, die Entscheidung steht rechtlich auf einem sehr soliden Fundament, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht hier anders entscheidet und die Regeln aus dem Voting Rights Act aufweicht.

Glossar

Redistricting: Der Prozess, mit dem die Wahlkreise in allen Bundesstaaten mit mehr als einem Sitz im Repräsentantenhaus neu zugeschnitten werden. Er findet alle zehn Jahre nach dem in der Verfassung vorgeschriebenen Zensus statt. Die konkrete Ausgestaltung bleibt bis auf wenige Einschränkungen den einzelnen Bundesstaaten vorbehalten. Ziel ist es, dass jeder Wahlkreis gleich viele Menschen beinhaltet.

Gerrymandering: Wird das Redistricting so gestaltet, dass eine Partei durch den neuen Zuschnitt der Wahlkreise ihre Chancen auf Sitze im Repräsentantenhaus über ihre politische Stärke in einem Bundesstaat hinaus erhöht, spricht man von einem Gerrymander. Der Begriff geht auf den ehemaligen Gouverneur von Massachusetts, Elbridge Gerry, zurück, der 1812 eine Karte mit teils grotesk verformten Wahlkreisen absegnete. Einer dieser Distrikte erinnerte Karikaturisten an einen Salamander. So entstand das Wort Gerrymander.

Voting Rights Act: Gesetz aus dem Jahr 1965, das die Benachteiligung von Minderheiten im Wahlprozess verbietet. Sektion 2 des Voting Rights Acts untersagt es, Karten so zu gestalten, dass Minderheiten-Communities (etwa der afroamerikanischen oder Latino-Bevölkerung) auf mehrere Wahlkreise verteilt werden, um ihren politischen Einfluss zu schwächen. So sind zahlreiche Wahlkreise entstanden, in denen Angehörige von Minderheiten die Mehrheit der Wählerinnen und Wählern stellen.

Minderheitenwahlkreise gelten als sichere Stimmbezirke für die Demokraten. Würde eine Schwächung des Voting Rights Acts in dieser Frage damit vor allem diese Partei treffen?

Das ist eine komplizierte Frage. Die effektivste Art zu gerrymandern ist es, so viele Wählerinnen und Wähler des Gegners wie möglich in wenigen Wahlbezirken zusammenzufassen. Interner Link: Dort gewinnen sie dann mit überwältigenden Mehrheiten, aber auf den ganzen Staat gerechnet sind tausende Stimmen verschwendet. Ein zweiter Minderheitendistrikt in Alabama würde den Demokraten wohl einen zusätzlichen Sitz verschaffen, aber in anderen Bundesstaaten ist die Kalkulation nicht so eindeutig. In Arizona etwa wären die Demokraten wohl in mehr Wahlkreisen wettbewerbsfähig, wenn der Staat nicht einen sicheren Distrikt für die Latino-Bevölkerung hätte schaffen müssen.

Dennoch glauben viele Expertinnen und Experten, dass das Gerrymandering aktuell vor allem der Republikanischen Partei hilft…

Ich sehe das für die aktuelle Runde des Redistricting nicht so. Zum einen sind in den vergangenen Jahren in zahlreichen Bundesstaaten Regeln eingeführt worden, die es der Partei erschweren, ihre Vorteile maximal auszuspielen. Zum anderen haben die Republikaner bereits bei den Neuzuschnitten vor zehn Jahren so viel zu ihrem Vorteil verändert, dass es schwer wird, die Zahl ihrer Sitze allein mit diesem Instrument weiter zu erhöhen. In vielen Staaten haben sie sich dafür entschieden, ihre aktuellen Abgeordneten zu schützen. Wenn sie stattdessen viele zusätzliche Wahlkreise hätten gewinnen wollen, hätten sie mehr wettbewerbsfähige Distrikte schaffen müssen. Und das kann auch schiefgehen. Trotzdem sieht es so aus, als würde auch in diesem Jahr die Wahlkreiskarte insgesamt zu Gunsten der Republikaner ausfallen.

Vor den Midterm-Wahlen im Jahr 2018 gab es Schätzungen, dass die Demokraten die Wahl mit drei bis fünf Prozentpunkten Vorsprung gewinnen müssten, um den Vorteil der Republikaner auszugleichen und die Mehrheit im Repräsentantenhaus zu erobern. Kann man für die Wahlen in diesem Jahr bereits ähnliche Berechnungen anstellen?

Der Redistricting-Prozess ist noch nicht überall abgeschlossen. In großen Staaten wie Ohio hat der State Supreme Court die ursprünglich beschlossenen Karten bereits zurückgewiesen. In North Carolina und Pennsylvania laufen Klagen gegen die neuen Wahlkreise. Florida hat noch gar keine Distrikte festgelegt. Deshalb ist es schwer zu sagen, wie groß der Effekt diesmal ausfallen wird. Am Ende könnte es auch auf den neuen Karten insgesamt mehr Wahlkreise als zuvor geben, in denen bei der Präsidentschaftswahl Joe Biden gewonnen hätte – wenn man das Ergebnis von 2020 umrechnen würde.

Nutzen auch die Demokraten ihre Möglichkeiten, um ihre Sitzanzahl zu maximieren?

Die Demokraten haben angefangen, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. In New York und Illinois haben sie gerade höchst aggressiv gegerrymanderte Karten beschlossen. Insgesamt scheinen die Demokraten aber gewillter zu sein, das System zu durchbrechen. In Virginia hatte die Partei für kurze Zeit die Kontrolle über Delegiertenhaus, Senat und das Gouverneursamt. Sie hat diese Chance genutzt und eine Volksabstimmung über die Einführung der überparteilichen Kommission durchgeführt. Sie hätten das Verfahren aber auch bei sich behalten können, um ihre Sitzanzahl zu maximieren. Das zeigt, dass die Partei mancherorts bereits ist, Reformen einzuleiten, die ihr womöglich selbst schaden. Bei den Republikanern sehe ich diese Offenheit weniger.

Was halten die Wählerinnen und Wähler vom parteipolitisch motivierten Gerrymandering?

Sie spüren, dass der Prozess problematisch ist und dass es sich um einen Interessenkonflikt handelt – und zwar über die Parteigrenzen hinweg. In Florida ist vor einigen Jahren ein Verfassungszusatz per Referendum verabschiedet worden, der faire Wahlkreiskarten verlangt. Diese Vorlage hat mehr als 60 Prozent der Stimmen erhalten. Das zeigt, dass Wählerinnen und Wählern beider Parteien das Thema wichtig ist. Derzeit gibt es Bemühungen in stark republikanisch geprägten Staaten wie Missouri und Utah, den Prozess zu reformieren.

Es gibt den Einwand, dass nicht die politische Neugestaltung der Wahlkreise für die ungleiche Verteilung der Macht im Kongress verantwortlich ist, sondern die "Selbstsortierung" der Wählerinnen und Wähler. Demokraten leben überwiegend in Städten, Republikaner zunehmend auf dem Land. Was halten Sie von dieser Theorie?

Nicht viel. Ein Wahlbezirk für das Repräsentantenhaus umfasst rund 750.000 Menschen. Wie wir beispielsweise in Illinois gesehen haben, kann man beim Ziehen der Distriktlinien sehr kreativ sein. Auch New York, ein großer Staat, in dem Millionen demokratische Wählerinnen und Wähler in New York City konzentriert sind, konnte eine Karte gestalten, die die Republikaner wohl vier Sitze kosten wird. Man kann Teile von Städten mit Vorstädten oder sogar ländlichen Gebieten zusammenfassen. Die US-Bevölkerung ist geographisch schlicht nicht so konzentriert, dass man Wahlkreise nicht um die Grenzen herumziehen könnte. Hinzu kommt, dass die vermeintliche Selbstsortierung zwischen 2016 und 2020 sogar abgenommen hat. Die Vorstädte, lange Zeit republikanische Bastionen, sind in Richtung Demokraten gewandert. Gleichzeitig konnten die Republikaner bei der Latino-Bevölkerung Boden gutmachen.

Dieses Interview wurde redaktionell bearbeitet und gekürzt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Anmerkung der Redaktion: Nach diesem Interview hat der Supreme Court der Regierung von Alabama vorläufig Recht gegeben. Damit bleibt die ursprüngliche Karte mit einem Minderheitenstimmbezirk für die Wahl im Herbst in Kraft. Das Gericht hat angekündigt, sich zu einem späteren Zeitpunkt in einem Hauptsacheverfahren mit dem Einspruch Alabamas zu beschäftigen.

Weitere Inhalte

Julian Heissler, Jahrgang 1983, arbeitet als USA-Korrespondent in Washington, D. C. Zuvor berichtete er als Parlamentsberichterstatter aus Berlin. Er ist Absolvent der Freien Universität Berlin und der Journalistenausbildung der Hamburg Media School. Er nahm an mehreren internationalen Journalistenprogrammen teil, unter anderem Medienbotschafter China-Deutschland der Robert Bosch Stiftung und dem USA-Programm der RIAS Berlin Kommission.

ist Professor für Politikwissenschaft an der University of Florida. Er ist Leiter des United States Election Project, das unter anderem den Redistricting-Prozess wissenschaftlich begleitet und Mitbegründer des Public Mapping Project, das die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger beim Neuziehen der Wahlkreisgrenzen unterstützt.