Nach einem relativ kurzen Vorwahlkampf in einem sehr großen Feld von Bewerberinnen und Bewerbern hat sich Joe Biden die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei gesichert. Im Vorwahlkampf der Demokraten zeigten sich deutlich, dass innerhalb der Partei zwei Flügel unterschiedliche Prioritäten und Politikvorstellungen repräsentieren. Biden und einige andere eher moderate Kandidatinnen und Kandidaten standen in der programmatischen Tradition der Obama-Administration, während der progressive Flügel der Partei – repräsentiert durch Bernie Sanders, der seit 2007 den Bundesstaat Vermont im US-Senat vertritt, und Elisabeth Warren, die seit 2013 den Bundesstaat Massachusetts ebenfalls im Senat der Vereinigten Staaten vertritt – für radikalere Politikinhalte standen, insbesondere in der Gesundheits- und Umweltpolitik aber auch in Fragen der Umverteilung und der Rolle des Staates.
Unsicherheit: Der ökonomische, soziale und politische Kontext der Wahl
Nach einer insgesamt positiven Entwicklung der US-Wirtschaft während der ersten drei Amtsjahre Trumps wurden die USA 2020 besonders hart von der COVID-19-Pandemie getroffen. Die aktuelle Wirtschaftskrise zeigt sich in erster Linie auf dem Arbeitsmarkt. Infolge der Schließung zentraler Bereiche der Wirtschaft sehen sich die USA und die Trump-Regierung mit einer historisch hohen Arbeitslosenquote von 14,7 Prozent (April 2020) konfrontiert. Trotz mittlerweile sinkender Arbeitslosenzahlen bleibt die Lage angespannt. Im Wahlkampf rückt das die Themen Gesundheit, Wirtschaft und Arbeitsmarktpolitik in den Mittelpunkt. Gleichzeitig steht nach dem Tod des Schwarzen US-Amerikaners George Floyd durch Polizeigewalt das Thema des strukturellen Rassismus in den USA weit oben auf der Wahlkampfagenda. Wesentlich dazu beigetragen haben auch die zum Teil gewaltsamen Proteste und die erfolgreiche Mobilisierung durch die Black-Lives-Matter-Bewegung.
Die unterschiedlichen Krisen und Entwicklungen in 2020 zwingen die Wahlkampagne Bidens, ständig die Wahlkampfbotschaften anzupassen. Noch zu Beginn des Vorwahlkampfes hatte sich Biden als moderater Kandidat präsentiert, der konstruktive Ergebnisse und keine Revolutionen herbeiführen wollte. Im Kontext der aktuellen Krise(n) zeigt sich eine Veränderung der Wahlkampfrhetorik. Biden bezeichnet die kommende Regierungsperiode mittlerweile als eine transformative Zeit, in der die Regierung und der Staat eine zentrale Rolle spielen müssen. Damit setzt sich Biden deutlich von der amtierenden Administration Donald Trumps ab, die den Staat verkleinern will und in vielen Politikbereichen primär auf die Mechanismen des Marktes setzt.
Sozial-, arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Themen
Allgemein wird Joe Biden dem moderaten Flügel der Demokraten zugerechnet und programmatisch stehen seine Vorstellungen in einer starken Kontinuität zur Politik der Obama-Administration (2009-2017). Das gilt insbesondere für seine gesundheitspolitischen Reformvorstellungen. Biden verteidigt die Grundelemente von Obamas Gesundheitsreform aus dem Jahre 2010 und will dieses fortführen und ausbauen. Im Zentrum steht dabei die Einführung einer sogenannten "public option", einer öffentlichen Krankenversicherung, die in Konkurrenz zu privaten Programmen angeboten werden soll. Die Bürgerinnen und Bürger könnten dann selbst entscheiden, ob sie in ihrer privaten Krankenversicherung bleiben möchten oder aber in das öffentliche Programm wechseln wollen. Das sah auch Obamas Gesundheitsreform zu Beginn vor, die public option wurde dann aber auf Druck der Versicherungs- und Pharmaindustrie aus der Reform herausgenommen.
Innerhalb der Demokratischen Partei gehen die Vorstellung im Bereich der Gesundheitspolitik allerdings deutlich auseinander. Insbesondere Bernie Sanders propagierte im Vorwahlkampf einen radikalen Systemwechsel in der Gesundheitspolitik: Analog zur öffentlichen Rentenversicherung für Rentner (Medicare) sollten alle Bürgerinnen und Bürger in einem ‚single-payer‘ System öffentlich versichert werden. Öffentlich organisierte Krankenversicherungen würden dem Gesundheitssektor dominieren, private Versicherungen würden dann nur noch Sonderbehandlungen abdecken. Inzwischen zeigt sich Biden gegenüber den Positionen des progressiven Flügels immer offener und es deuten sich umfassendere Reformoptionen im Gesundheitssystem an, sollte Biden die Wahl gewinnen.
Überraschend für viele Beobachterinnen und Beobachter hat sich Biden im Vorwahlkampf wenig zum Problem der ökonomischen und sozialen Ungleichheit in den USA geäußert. In zahlreichen öffentlichen Auftritten sprach er sich für einen Ausbau des Sozialhilfebereichs aus, um dem wachsenden Armutsproblem der USA entgegenzuwirken. Anderseits warnt Biden vor einer Dämonisierung von Reichtum und lehnt eine massive Umverteilung der Einkommen ab. Insgesamt fordert er eine Politik zur Stärkung der US-amerikanischen Mittelschicht. Dafür sollen einerseits die Steuerreformen der Trump-Administration rückgängig gemacht und der Mindestlohn auf Bundesebene von 7,25 Dollar auf 15 Dollar angehoben werden. Zudem soll der Niedriglohnsektor stärker reguliert werden, um die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besser zu schützen. Analog zum System des Kurzarbeitergeldes in Deutschland hatte bereits die Obama-Administration erste Schritte eingeleitet, um ein vergleichbares Programm in den USA zu etablieren. Aktuell beteiligen sich 27 Bundesstaaten an einem solchen Programm. Biden will dies nun auf alle 50 Staaten ausweiten und das Programm komplett mit Bundesmitteln finanzieren. Insgesamt präsentiert sich Biden als Interessenvertreter der arbeitenden Bevölkerung, ohne bisher die radikaleren Forderungen des linken Parteiflügels der Demokraten aufzugreifen. Sie fordern unter anderem ein stärker progressives Steuersystem, eine Reichensteuer und den Ausbau der existierenden Sozialhilfeprogramme, um die stark gewachsenen Einkommensungleichheit zu bekämpfen.
Klima, Immigration und Waffenbesitz
In der Klima- und Umweltpolitik hat die Biden-Kampagne einen ambitionierten und umfassenden Klimaplan vorgelegt, der sich mit den Vorstellungen des linken Flügels der Partei deckt und weit über Obamas Ansatz in der Klimapolitik hinausgeht. Das erklärte Ziel Bidens ist eine vollständige Umstellung auf regenerative Energien und eine komplette Reduzierung der Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050. Darüber hinaus hat Biden bereits einen weitreichenden Infrastrukturplan vorgelegt, mit dem das marode Straßennetz, die Wasserversorgung und das Schulsystem der USA modernisiert werden soll. Ziel dabei ist auch der Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs sowie Investitionen in die Elektromobilität. In strukturschwache Regionen soll verstärkt investiert werden, um diese wieder besser in die Gesamtinfrastruktur der USA einzubinden.
In der Einwanderungspolitik vertritt Biden eher moderate bis konservative Positionen innerhalb der Demokratischen Partei. So lehnt Biden bislang eine grundsätzliche Entkriminalisierung von illegaler Einwanderung ab – eine Position, die inzwischen eine klare Mehrheit in der Partei der Demokraten findet. Allerdings fordert Biden grundlegende Korrekturen der bestehenden Einwanderungspolitik der Trump-Administration und die Etablierung eines gerechten und humanen Einwanderungssystems. Demnach soll insbesondere Trumps Politik der Abschiebung illegaler Einwandererinnen und Einwanderer möglichst schnell rückgängig gemacht werden. Darüber hinaus will Biden den elf Millionen nicht-dokumentierten Einwanderern in den USA einen Weg zur Staatsbürgerschaft ebnen und die verschiedenen Visa- und Flüchtlingsprogramme ausbauen. Das unter Obama per Dekret erlassene DACA-Abkommen (Deferred Action for Childhood Arrivals), welches etwa 800.000 illegalen Einwander/-innen ein Bleiberecht gewährt, die als Kleinkinder in die USA gekommen sind und bislang keine Staatsbürgerschaft besitzen, will Biden weiter festigen und durch ein Gesetz des Kongresses bestätigen.
Beim Waffenbesitz setzt sich Biden für ein Verbot von voll-automatischen Waffen und eine obligatorische Überprüfung der Käuferinnen und Käufer von Waffen ein (background check). Zudem fordert Biden eine grundlegende Reform des Strafrechtsystems, um insbesondere die extrem hohe Inhaftierungsrate in den USA zu verringern. Gleichzeitig sollen Reintegrations- und Präventionsmaßnahmen deutlich ausgebaut werden. Es ist zu erwarten, dass die Biden-Kampagne in Folge der anhaltenden Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung noch konkrete Vorstellungen vorlegen wird, wie insbesondere dem strukturellen Rassismus in der Polizei und im Justizsystem begegnet werden kann. Einen Schwerpunkt in den Reformvorschlägen Bidens spielt die Bevölkerungsgruppe der People of Color (PoC) bzw. Schwarzen Bevölkerung der USA. Hier sollen gezielt Klein- und Mittelständische Unternehmen unterstützt werden, um so die Chancen ökonomischer Teilhabe für Afro-Amerikaner zu verbessern.
Trump als Hauptwahlkampfthema
Das dominierende Wahlkampfthema Bidens wird allerdings die Bilanz des amtierenden Präsidenten Donald Trump sein. Das haben die Nominierungsrede Bidens auf dem Parteitag der Demokraten und zahlreiche Wahlwerbespots gezeigt. Biden spricht Trump nicht nur die charakterlichen Eigenschaften für das Amt des Präsidenten ab, sondern wirft ihm ein komplettes Führungsversagen im Hinblick auf die aktuellen Krisen vor. Biden präsentiert sich demgegenüber als ein erfahrener und empathischer Politiker, der die gesellschaftliche und politische Spaltung der USA überwinden will und kann. Mit dem Wahlslogan "Die besten Tage liegen noch vor uns" geht die Biden-Kampagne in die heiße Phase des Wahlkampfes. Inwieweit Biden nach einem möglichen Wahlsieg seine zentralen Wahlkampfversprechen auch umsetzen kann, hängt auch von den Ergebnissen der Kongresswahlen ab. Sollten die Republikaner weiterhin zumindest in einer Kammer des Kongresses die Mehrheit halten können, so kann Biden im Kontext der aktuellen