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Born in the USA | USA | bpb.de

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Born in the USA Die Musik als Spiegelbild amerikanischer Identität

Maik Brüggemeyer

/ 14 Minuten zu lesen

Lieder erzählen Geschichten. Das ist auch in den USA so. Im ethnischen und kulturellen Schmelztiegel Amerika sind die verschiedenen Musik-Stile vom Ragtime über die Country-Musik bis zum HipHop allerdings besonders eng verbunden mit einer grundlegenden Antriebsfeder der vergleichsweise jungen Nation: der Suche nach einer eigenen US-amerikanischen Identität.

Johnny Cash gelang mit dem von Rick Rubin produzierten Album "American Recordings" zum Ende seiner Karriere ein großer Erfolg auch bei Hörern, die nichts mit Country-Musik anfangen konnten. (© AP)

Der US-amerikanische Songwriter Bob Dylan, der 2016 für seine "poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songtradition" mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, widmete sich auf einem Album aus dem Jahr 2001 den unterschiedlichsten Spielarten der US-amerikanischen Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er nannte das Album "Love And Theft" - "Liebe und Diebstahl": Ein besserer Titel findet sich auch kaum, um die Geschichte der US-Musik zu skizzieren. So schrieb auch der US-amerikanische Autor und Musikjournalist Nick Tosches in seinem Buch "Where Dead Voices Gather" treffend von "einer Geschichte der Schwarzen, die von Schwarzen stehlen, der Weißen, die von Weißen stehlen, und der Eine stiehlt vom Anderen".

Die Entstehung einer genuin US-amerikanischen Musik und die Herausbildung einer US-Identität sind eng miteinander verknüpft. Denn ein Großteil der Geschichten, denen diese Identität zugrunde liegt, wird in Songs erzählt. Natürlich ist jede Form von Identität eine Konstruktion. Doch während andere Länder sich auf eine mehr oder weniger gemeinsame Geschichte berufen können, sind die USA eine vergleichsweise junge Nation, deren Bewohner und Bewohnerinnen aus den unterschiedlichsten Kulturen stammen. "Amerikaner zu sein", schrieb der Kulturwissenschaftler Leslie A. Fiedler, "heißt genau genommen, sich ein Schicksal vorzustellen, anstatt eines zu erben. Denn wir sind immer, sofern wir überhaupt Amerikaner sind, eher die Bewohner des Mythos denn der Geschichte gewesen."

"Minstrel Shows" als erste Form der Massenkultur

Zu Beginn ihrer Geschichte bestanden die Vereinigten Staaten aus vielen verschiedenen regionalen Kulturen. Erst mit dem Sezessionskrieg und dem Ausbau des Eisenbahnnetzes Mitte des 19. Jahrhunderts begannen diese Kulturen sich gegenseitig zu beeinflussen. Die erste genuin US-amerikanische Form der Massenkultur hatte ihren Ursprung im urbanen Norden der USA. In den so genannten Minstrel Shows parodierten zunächst ausschließlich weiße Künstler und Künstlerinnen mit schwarz geschminkten Gesichtern auf burleske Art und Weise die afroamerikanische Kultur ihrer Schwarzen Mitbürger.

In den größtenteils eigens für diese Shows komponierten Songs verschmolzen Schwarze Arbeiterlieder, Spirituals, Redewendungen und Dialekte mit Weißen Folksongs und Balladen. So sorgten die Minstrel-Shows nicht nur für eine Vermischung afroamerikanischer und europäischer Musiken, sondern auch für die Entstehung eines neuen Berufsbildes: des Songwriters. Stephen Foster, Verfasser von auch heute noch populären Liedern wie "Old Folks At Home", "My Old Kentucky Home" oder "Hard Times Come Again No More" war der erste Amerikaner, der das Schreiben von Liedern zu seinem Beruf machte. Im Lauf der Zeit traten dann auch afroamerikanische Musiker und Musikerinnen in den Minstrel-Shows auf. Um zu verdeutlichen, dass auch sie ihre Performance auf Stereotypen aufbauten, standen sie ebenfalls mit schwarz geschminkten Gesichtern auf der Bühne.

Dieses Spiel mit Masken und ethnischen Klischees beherrscht bis heute die populäre US-amerikanische Kultur, vom wilden Gebaren eines Little Richard über das Macho-Image der Italo-Amerikaner bis zu den Posen des HipHop. Vermutlich ist eben dieses Spiel mit Identitäten und konstruierten Ursprungsmythen mitverantwortlich für den weltweiten Erfolg US-amerikanischer Musik. Die Minstrel-Songs wurden damals sehr schnell populäres Liedgut. Im Norden lebende Schwarze Musiker und Musikerinnern spielten ihre eigenen, tanzbaren Versionen dieser Songs, in dem sie sie zu abgewandelten Rhythmen afroamerikanischen Ursprungs vortrugen. So entstand der "Ragtime". Diesen wiederum parodierten weiße Komponisten in so genannten Coon-Songs. Unter ihnen war auch Irving Berlin, der später neben Cole Porter sowie George und Ira Gershwin einer der erfolgreichsten populären Songwriter des "Tin Pan Alley" wurde, des legendären New Yorker Straßenzuges, in dem die großen US-amerikanischen Musikverlage ansässig waren.

Von den Marching Bands zum Blues

Die aus dem urbanen Norden stammende Minstrel- und Ragtime-Musik wurde wiederum zu einem wichtigen Einfluss für die Musik des ländlichen Südens. Dort waren die afroamerikanischen Spirituals, europäische Folksongs und die Musik der so genannten Marching Bands vorherrschend. Die ersten Marching Bands entstanden nach dem Ende des Bürgerkrieges, als Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen bei der Auflösung der Truppen die Instrumente der Armee-Kapellen günstig kaufen konnten. Meist taten sie sich zusammen, um zunächst Marschmusik zu spielen und diese dann bei Hochzeiten und Beerdigungen mit ihren eigenen afroamerikanischen Musiken zu verbinden. So keimten auf den Straßen des Südens zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Jazz und der Blues auf. Bereits in den Minstrel-Shows hatte es frühe Vorläufer des Blues-Songs gegeben. Doch erst die Schwarzen Musiker des Südens machten daraus eine eigenständige Spielart US-amerikanischer Musik.

Im Gegensatz zum religiösen Spiritual galt der Blues als "Musik des Teufels". Doch dies hielt viele Musiker nicht davon ab, Samstag abends in den Bars den Blues und Sonntag morgens in der Kirche Spirituals zu spielen. Einer der einflussreichsten Gitarristen der 1920er und 1930er Jahre, Blind Willie Johnson, vermischte diese beiden Formen: Er sang ausschließlich Lieder mit religiösem Inhalt, bediente sich aber der Techniken des Blues.

Mit Country zum "American Idol"

Der Trompeter Louis Armstrong war Mitbegründer des "Swing". (Public Domain) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de

Doch nicht nur afroamerikanische Musiker und Musikerinnen spielten den Blues. Weiße Künstler und Künstlerinnen mischten ihn mit irischem und englischem Folk, dem Folk der Appalachen und den hawaiianischen Klängen der Steel-Gitarre, und nannten diesen Stil "Country". Während die ersten Blues-Aufnahmen als so genannte "Race Music" vor allem eine Schwarze Käuferschaft fanden, wurde die Country-Musik durch Künstler und Künstlerinnen wie Jimmie Rodgers und die Carter Family auch bei der weißen Hörerschaft immer beliebter. In den unterschiedlichen Spielarten von "Bluegrass" bis "Honky Tonk", nach dem Zweiten Weltkrieg von Künstlern wie Hank Williams, Lefty Frisell oder auch Gene Autry vorgetragen, brachte dieser Musikstil die ersten US-amerikanischen Popstars hervor.

Der populärste Schwarze Musiker war allerdings seit den 1920er Jahren der Trompeter Louis Armstrong. Er machte zusammen mit Sängerinnen wie Bessie Smith oder Ma Rainey den Blues populär und brachte mit treibenden Rhythmen dem Jazz das Tanzen bei. So wurde der "Swing" geboren.

Jazzvergnügen

Auch Weiße Musiker begannen, die erfolgreiche Form zu adaptieren. Vor allem der Dirigent Paul Whiteman. Man nannte Whiteman bald den "King of Jazz", ein Titel, der eher prägenden Musikern wie dem Pianisten Jelly Roll Morton oder dem Trompeter Louis Armstrong zugestanden hätte, doch die kamen in Zeiten der Rassentrennung, in denen Schwarze Musiker ihre Stücke auf für den afroamerikanischen Markt gedachten "race records" veröffentlichten, für einen solchen Titel nicht in Frage. Whiteman war darum bemüht, den Jazz für eine kaufkräftige Weiße Mittelschicht aufzubereiten, ihr gewissermaßen einen klassischen Anstrich zu geben und den Ursprung in den Vergnügungsvierteln von New Orleans zu verschleiern. Dafür brauchte er die Hilfe des Komponisten George Gershwin, der in seinem Auftrag ein Stück schrieb, in dem er Jazzelemente in eine sinfonische Struktur wob, so etwa in der "Rhapsody In Blue" von 1924. Whitmans Aufnahmen des Stücks verkauften sich millionenfach und bereiteten den Weg für die großen Jazz Big Bands der Swing-Ära.

Zu den prägenden Bandleadern und Arrangeuren gehörten hier neben Whiteman, Glenn Miller, Artie Shaw und Bennie Goodman auch afroamerikanische Künstler wie Lionel Hampton, Earl Hines, Count Basie und Fletcher Henderson. Der größte unter ihnen war ein Musikersohn aus Washington, D.C., der in den folgenden Jahrzehnten zum wohl einflussreichsten und größten Komponisten des Landes werden sollte: Edward Kennedy Ellington, den alle wegen seines eleganten Auftretens den "Duke" nannten. Die Swing-Ära ging ihrem Ende entgegen, als es durch den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg unmöglich wurde, große Big Bands zu unterhalten. Die Ensembles wurden kleiner. Vor allem in New York begannen zudem Musiker wie der Saxofonist Charlie Parker, der Trompeter Dizzy Gillespie und der Pianist Thelonious Monk, den Jazz als eine Kunstform jenseits des Tanzvergnügens zu begreifen. Die Stücke wurden schneller, die Rhythmen komplexer, die Soli aggressiver. Bebop nannte sich diese neue Spielart, die aus der einstigen Popmusik etwas für Kenner machte.

Jazz als Utopie

Ende der Vierziger entwickelte sich in New York um den Trompeter Miles Davis und den Arrangeur Gil Evans ein gegenläufiger, sanfterer und melodischerer Stil: der Cool Jazz, der schließlich an der Westküste etwa durch den Trompeter Chet Baker und dem Saxofonisten Gerry Mulligan zelebriert wurde. Doch mit der steigenden Popularität von "Rhythm and Blues" und Rock’n’Roll wurde im sogenannten Hard Bop das Tempo wieder angezogen.

Gegen Ende des Jahrzehnts improvisierten Miles Davis, John Coltrane und der Pianist Bill Evans nicht mehr nach Vorgabe herkömmlicher harmonischer Akkordfolgen, sondern nutzten neben konventionellen Tonleitern auch mittelalterliche Kirchentonarten, indische, arabische und afrikanische Musiken. Der Meilenstein "Kind Of Blue" von Davis ist wohl das bekannteste Beispiel des sogenannten "Modal Jazz". Der Drang nach Freiheit, den der Jazz verkörperte, manifestierte sich schließlich im "Free Jazz": Die Rhythmen wurden frei, die harmonische Tonalität wurde aufgegeben, der Unterschied zwischen Solo und Begleitung, Klang und Geräusch aufgehoben. Wenn der Blues von der tragischen Geschichte der afroamerikanischen Bevölkerung, von Sklaverei und Rassismus, Armut und Krankheit Zeugnis ablegte, war Jazz die Utopie der Befreiung.

Elvis Presley: Der "King of Rock´n´Roll"

Auch im Blues wurden die Rhythmen in den Hochzeiten des Swing zunehmend dominanter. Aus dem einzelnen Künstler auf der Bühne wurden Orchester. Der Rhythm & Blues entstand, der schließlich auch unter Weißen Hörern populär wurde. Zu Beginn der 1950er Jahre gab der DJ Alan Freed der beliebten Rhythm-&-Blues-Musik den Namen "Rock´n´Roll". Eine Aufsehen erregende Namensschöpfung, war der umgangssprachliche Begriff unter Afroamerikanern und Afroamerikanerinnen doch eine Bezeichnung für Sex. Zunehmend begannen zu dieser Zeit auch Weiße Musiker, ihre eigene Spielart des Rock´n´Roll zu entwickeln: den "Rockabilly", eine Mischung aus Country und Rhythm & Blues, zunächst noch ohne Schlagzeug gespielt. Eine der ersten Rockabilly-Aufnahmen machte 1954 ein weißer Junge aus Tupelo namens Elvis Aaron Presley. Entdeckt wurde er vom Produzenten und Besitzer des Labels "Sun Records", Sam Phillips, der in seinem Studio in Memphis vor allem die Musik afroamerikanischer Künstler wie B. B. King, Howlin‘ Wolf und Junior Parker aufnahm. Doch er wusste, wenn er diese Musik, die er liebte, populär machen wollte, brauchte es im segregierten Musikmarkt einen Weißen Künstler.

Soviel setzte Elvis von seinen Singles bei Sun Records nicht um. Doch sein neuer Manager Colonel Parker besorgte ihm mit RCA eine größere Plattenfirma. Dort erschien sein erstes Album, eine Sammlung von Country- und Popsongs Weißer Songwriter und drei Rhythm-and-Blues-Nummern, die auch im Repertoire Schwarzer Künstler wie Little Richard oder Ray Charles waren.

Elvis war die neue große Sensation im Showgeschäft. Sein Manager taufte ihn den "King of Rock’n’Roll" – so wie Paul Whitman einst der "King of Jazz" gewesen war. War das gerecht? Oder hatte er jene Schwarzen Musiker wie Chuck Berry und Little Richard, die diese Musik erfunden hatten, beraubt? Kulturelle Aneignung nennt man es, wenn Angehörige einer herrschenden Schicht die Strategien und Kunstformen einer unterdrückten Schicht vereinnahmen, um daraus Profit zu schlagen. Diese Problematik wird in der Diskussion um hybride Identitäten in multikulturellen Gesellschaften immer umfassender reflektiert.

Folk und Rock

Der US-amerikanischer Singer-Songwriter Bob Dylan. (© picture-alliance, CAP/PLF Image supplied by Capital Pictures )

Ende der 1950er Jahre geriet der Rock´n´Roll in den USA in eine Krise. Seichte Unterhaltungsmusik eroberte die Radiosender. Vor allem in Universitätsstädten wandte sich die Jugend der vermeintlich unkommerziellen, politisch und sozial bewegten Folk-Musik zu, die Künstler wie Pete Seeger, Joan Baez oder auch Peter Paul & Mary zu einer zweiten Chance verhalfen. Bob Dylan wurde mit Protestsongs wie "Blowin In The Wind", "A Hard Rain´s A Gonna Fall" und "The Times They Are Changing" wohl der berühmteste Vertreter dieses Folk-Revivals. Doch der Sänger war ein unruhiger Geist und wandte sich schon bald persönlicheren Themen zu. Seine Texte wurden poetischer; seine Musik orientierte sich stärker am Beat und Rhythm & Blues britischer Bands wie der Beatles und der Rolling Stones, die Mitte der 1960er Jahre den US-amerikanischen Musikmarkt im Sturm eroberten. Zusammen mit der kalifornischen Band The Byrds, die seine Folksongs wie "Mr. Tambourine Man" und "My Back Pages" in Bandbesetzung spielten, gilt Bob Dylan daher als Erfinder des "Folk Rock". Populäre Musik war nicht länger nur ein Tanzvergnügen für Teenager, sondern ging ebenso in den Kopf wie in die Beine. Auch die Beach Boys, die an der West Coast Anfang der Sechzigerjahre den Surf-Sound geprägt hatten, wandten sich – inspiriert von ihren britischen Rivalen, den Beatles – komplexeren Themen zu. Die Musik auf ihrem Album "Pet Sounds" von 1966 belehnte Pop, Jazz, Klassik und Avantgarde. Die (Weiße) Popmusik war erwachsen geworden.

Auswirkungen von "Motown” bis heute

Die Sängerinnen Diana Ross, Cindy Birdsong und Mary Wilson der amerikanischen Soul-Pop-Band Supremes bei EMI Records in London. (© picture-alliance, empics)

Etwa zur gleichen Zeit, als Elvis Presley seine Karriere begann, verband sich in den Songs des Schwarzen Musikers Ray Charles und kurz darauf in den Stücken von James Brown der weltliche Rhythm & Blues mit dem kirchlichen Gospel zum so genannten Soul, der vor allem in den 1960er Jahren durch die gefälligen, überwiegend für ein weißes Publikum produzierten Songs des Detroiter "Motown"-Plattenlabels mit Künstlern wie Smokey Robinson & The Miracles, Stevie Wonder, Marvin Gaye, Diana Ross & The Supremes, The Four Tops und The Jackson Five populär wurde. Von Michael Jackson über Mariah Carey bis zu Beyoncé repräsentieren viele der aktuellen US-Superstars unter dem Label "Contemporary R&B" bis heute das "Motown"-Erbe.

Doch schon in den 1960er Jahren war vielen afroamerikanischen Künstlern diese glatte Form der Popmusik zu wenig "Schwarz". Das "Stax"-Label aus Memphis bediente mit Sängern wie Otis Redding oder Isaac Hayes eine rauere Soul-Spielart. Andere Soul-Sänger wie zum Beispiel James Brown, George Clinton mit seiner Band Parliament und die Band Sly & The Family Stone lösten sich Ende der 1960er Jahre von den eingängigen Songformaten, gestalteten ihre Stücke rhythmischer und expressiver und entwickelten so den "Funk", der wiederum Verbindungen mit dem Rock und Soul einging und in der zweiten Hälfte der 1970er in Disco mündete. In den Songs der Superstars Prince und Michael Jackson fanden in den 1980ern von Rhythm & Blues über Soul, Funk und Disco alle Spielarten afroamerikanischer Musik.

HipHop: Aus der Bronx in die Charts

Ein Mural-Gemälde des 1998 ermoderdeten Tupac Shakur an einer Häuserwand in Tampa, Florida. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com, Edmund D. Fountain)

Der Städteplaner Robert Moses hatte in den 1930er Jahren den Auftrag erhalten, das Profil der Stadt New York zu verändern, die sozialen Brennpunkte zu entschärfen und die Arbeiterwohnviertel zu zerschlagen. Für den Bau des Cross-Bronx-Expressway ließ er noch in den 1960ern hunderte Wohn- und Geschäftsgebäude abreißen, etwa einhundertsiebzigtausend Menschen wurden zwangsumgesiedelt, andere flohen. Der südliche Teil der Bronx wurde zur Geisterstadt, bis die Stadtregierung begann, hier sozial schwache afroamerikanische Familien anzusiedeln, zudem zogen puertoricanische und jamaikanische Migranten und Migrantinnen in leerstehende Häuser.

Einer von ihnen war Clive Campbell aus Kingston, der sich DJ Kool Herc nannte und bei Partys in den verlassenen oder besetzten Wohnblocks der Bronx und im Club Twilight Zone auflegte. Bald spielte er nicht mehr einfach die neuesten Soul-, Funk- und Discoplatten, sondern beschränkte sich auf deren tanzbare instrumentale Passagen und spielte diese wieder und wieder. Andere DJs folgten ihm und begannen eigene Techniken zu entwickeln. Allen voran Joseph Saddler aus dem karibischen Barbados, der sich das Pseudonym Grandmaster Flash gegeben hatte, und mittels mehrerer Plattenspieler unterschiedliche Stücke collagierte. Zwischen den DJs führte ein so genannter Master Of Ceremony (MC) als eine Art Animateur durchs Programm. Mit der Zeit stilisierten die MCs ihre Beiträge und passten sie rhythmisch den Beats an. Diese neue Technik wurde wenig später "Rap" genannt, bis sich schließlich für das Genre die Bezeichnung "HipHop" durchsetzte.

"Rapper´s Delight" von der Sugar Hill Gang aus dem Jahr 1979 gilt gemeinhin als die erste Single des HipHop. In den 1980er Jahren wurde HipHop dann mit Alben von LL Cool J und Kurtis Blow zum US-Mainstream. Die erste HipHop-LP, die es 1986 bis an die Spitze der US-amerikanischen Charts schaffte, stammte jedoch von einer weißen Band: "Licence To Ill" von den Beastie Boys. Doch HipHop blieb auch in der Folgezeit das popmusikalische Genre, in dem sich das Schwarze Selbstverständnis ausdrückte. Vor allem Bands wie Public Enemy und A Tribe Called Quest aus New York begannen Ende der 1980er Jahre die Probleme der afroamerikanischen US-Bürger zu thematisieren und sich für ihre Rechte einzusetzen. An der Westküste beschrieben derweil Bands wie NWA mit härteren Beats und mit um Drogen, Sex und Gewalt kreisenden Texten das Leben in den Gettos der Großstädte. Zusammen mit dem Sänger Ice-T gelten sie bis heute als Vorreiter des so genannten Gangsta Rap. Diese Stilart, in der Rapper ihre Erlebnisse verarbeiteten und verherrlichten, entwickelte sich im von Gewalt und Bandenkriminalität geprägten Compton, einer Vorstadt von Los Angeles. Die Gewalt beschränkte sich nicht auf die Texte der Stücke. Es kam zu einem regelrechten Kampf zwischen den Hip-Hop-Szenen der West- und der Ostküste, der sich vor allem um den New Yorker Rapper The Notorious B.I.G. und sein Label Bad Boy Records und den ebenfalls aus New York stammenden, aber an der Westküste lebenden Tupac Shakur und dem Label Death Row Records entspann.

Die Gegenwart in HipHop und sozialen Medien

Beyonce Knowles bei einem Auftritt für ihr Album "Black is King". (© picture-alliance/AP, Travis Matthews)

HipHop blieb nach dem Tod von Shakur die bestimmende Musik in den Vereinigten Staaten. Künstler und Künstlerinnen wie Jay-Z, Missy Elliott, Lauryn Hill, Kanye West, Eminem und das Duo OutKast wurden zu Superstars, doch das Genre blieb nicht bei sich, ging immer wieder Verbindungen mit anderen Stilen ein: In R&B- und Neo-Soul-Stücken sind Rap-Einlagen seit den Neunzigern gang und gäbe. Und auch Rock-, Punk- und Metal-Bands arbeiteten mit Hip-Hop-Elementen. Bis heute scheint diese in einer Geisterstadt entstandene Musik sozial ausgegrenzter Migranten und Migrantinnen und benachteiligter Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen, wie kein anderes Genre der populären Musik dafür geschaffen, unsere komplexe und unübersichtliche Zeit abzubilden. Es ist nicht das Singen oder das Spielen eines Instruments, sondern das Sampling, die Idee des Zitierens, Teilens und Rekontextualisierens, die das digitale Zeitalter am besten auf den Punkt bringt. Die Themen, die im HipHop behandelt werden, haben sich dabei kaum verändert, noch immer ist er das Sprachrohr für Minderheiten und Diskriminierte.

Als Anfang der 2010er Jahre vermehrt Fälle von rassistisch motivierter Polzeigewalt gegen Afroamerikaner durch die Medien gingen und sich die Black Lives Matter-Bewegung formierte, fand sie ihr Sprachrohr in Künstlern wie dem aus Compton stammenden Kendrick Lamar, der auf seinen Alben viele Genres afroamerikanischer Musik durchspielt und unter anderem den Saxofonisten Kamasi Washington zum Star machte und damit ein Jazz-Revival einläutete. 2017 wurde er für sein Album "Damn" mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Das Werk sei – so hieß es in der Begründung – eine "eindringliche Momentaufnahmen, die die Komplexität des modernen afroamerikanischen Lebens" einfange.

Während Lamar die herrschenden Verhältnisse in seinen Texten abbildet, inszeniert die R&B-Sängerin Beyoncé Knowles in Bühnenshows und filmischen Umsetzungen der Songs ihres Albums "Lemonade" von 2016 einen "black feminism". Man kann hier sowohl Anleihen an Madonna finden, die mit ihren Inszenierungen weiblicher Dominanz den Feminismus in den Mainstream-Pop gebracht, zugleich reiht sie sich in eine Tradition afroamerikanischer Künstlerinnen von Nina Simone bis Missie Elliott ein. Es sind inzwischen vor allem Künstlerinnen – etwa auch Taylor Swift und Lady Gaga –, die die Macht der Bilder nutzen, um Zuschreibungen und Rollen in Frage zu stellen.

Doch die Wirklichkeit ist trotzdem noch lange nicht dort, wo der Pop sie haben will. Wenige Tage, nachdem der Afroamerikaner George Floyd im Mai 2020 bei einer gewaltsamen Festnahme getötet worden war, veröffentlichte das HipHop-Duo Run The Jewels spontan sein für einen späteren Zeitpunkt angekündigtes viertes Album "RTJ 4", das klingt wie ein wütender Bericht zur Lage einer noch immer in rassistisch motivierter Gewalt und sozialer Ungleichheit gefangenen Nation. Pop kann nicht nur spielerisch Identitätskonzepte durchspielen, Grenzen verwischen und gar auflösen, er kann gesellschaftliche Entwicklungen wie keine andere Kunstform mit großer Dringlichkeit und Direktheit lautstark auf den Punkt bringen. Die digitalen Verbreitungswege helfen dabei, dies in einer Geschwindigkeit zu tun, die mit der medialen Aufbereitung mithalten kann. Das macht Pop mehr denn je zu einer gesellschaftlichen Kraft, gerade wenn es um Identitätspolitik geht, von der die populäre US-amerikanische Musik besessen ist, denn die vielfältigen Identitäten ihrer Schöpferinnen und Schöpfer sind ihr Fundament.

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Maik Brüggemeyer, M.A., geb. 1976, hat Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Angewandte Kulturwissenschaften in Münster studiert. Seine Magisterarbeit verfasste er zum Thema "Corporate Identity EU". Seit 2001 arbeitet er als Redakteur beim Musikmagazin "Rolling Stone".