Gäbe es ein Urheberrecht auf den Begriff "Bildungsrepublik", hätten dies zweifellos die USA verdient. Einige amerikanische Hochschulen können sich rühmen, weltweit die besten zu sein. Auch dank seiner großen Dynamik und Leistungsfähigkeit wird das amerikanische Hochschulwesen oft als "Goldstandard" für jede moderne Wissensgesellschaft bezeichnet. Ganz anders sieht es dagegen in der sozialen Verteilung von Bildungschancen im Schulsystem aus. Hohe Studiengebühren und exklusive Elite-Universitäten – das meinen zumindest viele Nichtamerikaner – sind Indizien für problematische Schlagseiten des Systems. Und die öffentlichen Schulen Amerikas, insbesondere die in den armen Großstädten und auf dem platten Land, sind oft anspruchslos und ziemlich schlecht. Doch wie so oft, wenn es sich um die USA handelt, gehen die Ansichten weit auseinander, und die Wogen schlagen hoch. Das Faszinosum bleibt – nicht zuletzt wegen der vielen Ungereimtheiten und Widersprüche im amerikanischen Bildungs- und Hochschulsystem. Wie steht es denn nun wirklich um die "amerikanische Bildungsrepublik"?
Tatsächlich blieb eine gute "Education" – und das meint nicht allein berufsrelevante Kenntnisse und Fertigkeiten, sondern gleichermaßen Allgemein- und Persönlichkeitsbildung – in den USA lange Zeit ein Privileg der weißen, protestantischen Ober- und Mittelschicht. Die Zugangschancen zu den in internationalen Rankings ganz oben angesiedelten Elite-Universitäten, von den noblen privaten "Prep-Schools" an der Ostküste ganz zu schweigen, sind bis heute sehr ungleich verteilt. Doch viel früher als anderswo setzte in den USA eine ebenso umfassende wie nachhaltige Bildungsexpansion ein, die einen der wichtigsten säkularen Trends des 20. Jahrhunderts kennzeichnet: Schon vor dem Zweiten Weltkrieg war ein Sekundarschulabschluss für mehr als die Hälfte der erwachsenen Amerikaner zum Regelfall geworden. Mit dem GI-Gesetz, das demobilisierten Soldaten ein kostenloses Studium und Stipendien zusprach, brach kurz danach auch eine neue Epoche im Hochschulwesen an: Die der "Massenausbildung", wie wir sie inzwischen aus fast allen entwickelten Ländern kennen.
Klarer Tabellenführer in der OECD
Heute beenden etwa 85 Prozent der über 21-jährigen Amerikaner die zwölfjährige Schulzeit mit dem "High School Diploma". Dieser Abschluss ist mit dem deutschen Abitur allerdings nicht vergleichbar, weil die Leistungsanforderungen vergleichsweise locker sind und das Diplom nicht automatisch zum Besuch einer Hochschule berechtigt. 39 Prozent der 25- bis 64-jährigen Amerikaner besitzen einen Hochschulabschluss. Damit ist das Land noch immer klarer Tabellenführer in der OECD, obwohl ihm andere wie Japan oder Schweden dicht auf den Fersen sind. In dieser Zahl sind allerdings auch die Absolventen so genannter Zwei-Jahres-Colleges enthalten, die eher als höhere Fachschulen oder Berufsschulen, denn als Hochschulen anzusehen sind. Einen Bachelor-Abschluss und damit einen regulären Hochschulgrad haben "nur" 27,6 Prozent der Amerikaner – was immerhin noch zehn Prozentpunkte mehr sind als in Deutschland. Gemessen an der Bevölkerung gibt es in den USA doppelt so viele Hochschulen und etwa anderthalb mal so viele Studenten wie in der Bundesrepublik.
Die Gründe für die hohe Bildungsbeteiligung reichen weit zurück. Sie sind tief in der politischen Kultur Amerikas verwurzelt, in der Überzeugung, dass im Land der unbegrenzten Möglichkeiten jeder seines Glückes eigener Schmied sei und es selber in der Hand habe, ob er es zu etwas bringe. Durch Not und Verfolgung aus ihrer alten Heimat vertrieben, fühlten sich viele Einwanderer vom "American Dream" angezogen, der den Aufstieg aus dunkler Not in hellen Überfluss, vom Tellerwäscher zum Millionär verhieß – und eine allmähliche Verbesserung der ganzen Gesellschaft durch "harte Arbeit" und eben "Education". Schon die Gründungsväter der USA betonten die enorme Bedeutung für jeden Einzelnen und für das ganze Land. Wohlstand und Wohlbefinden, größtmögliche Gleichheit trotz unterschiedlichster Anlagen, eine gerechte, freie, demokratische Gesellschaft – "Education" sollte all dies möglich machen. Bis heute schreibt man ihr wahre Wunderkräfte zu. Warum wurden die USA zur führenden Wirtschaftsmacht des 20. Jahrhunderts, fragte der konservative Leitartikler David Brooks in der "New York Times" vom 29. Juli 2008: "The best short answer is that a ferocious belief that people have the power to transform their own lives gave Americans an unparalleled commitment to education, hard work and economic freedom." ("Die beste kurze Antwort ist, dass Amerikaner dank des festen Glaubens daran, dass Menschen die Macht haben, ihr eigenes Leben zu gestalten, auf den Wert von Bildung, harte Arbeit und wirtschaftliche Freiheit setzen wie in sonst keinem anderen Land.")
Bildungsglaube einer der Grundpfeiler der USA
Bildungsbegeisterung und ein tiefes Vertrauen in die Bildungsfähigkeit aller Menschen gehören zu den Grundpfeilern des amerikanischen "Contrat Social". Nicht zuletzt deshalb ist das öffentliche Schulwesen überall einheitlich nach Jahrgangsstufen gegliedert. Kinder ab der Mittelstufe je nach Leistung und Vermögen in getrennte Schulformen zu sortieren, empfände man in den USA schlicht als unanständig. Die große Mehrheit der Amerikaner glaubt noch immer felsenfest daran, dass man es in ihrem Land mit Talent, Fleiß und Bildung auch von ganz weit unten nach sehr weit oben bringen kann, obwohl der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und insbesondere der Rassenzugehörigkeit und den Bildungs- und Lebenschancen auf der Hand liegt.
Der vom US-Kongress nahezu einstimmig verabschiedete, als Jahrhundertreform gepriesene "No Child Left Behind Act" von 2002 ist das vorläufig letzte Glaubensbekenntnis der Bildungsrepublik USA: Ein Bündel von Maßnahmen soll die massiven Ausstattungs- und Qualitätslücken in den öffentlichen Schulen schließen und dafür sorgen, dass die Leistungen von schwarzen und armen Kindern innerhalb von zehn Jahren denen des weißen und reichen Nachwuchses nicht mehr nachstehen. Dieser Kraftakt erfolgte nicht aus Gefühlsduselei, sondern weil man nur so den Teufelskreis von wirtschaftlichem Elend und sozialer Verwahrlosung, Bildungselend und Kriminalität durchbrechen zu können glaubte.
Missstände im Schulsystem
Das öffentliche Schulwesen in den USA zeigt in der Tat viele Schwächen. Anders als das Hochschulwesen, in dem Vielfalt und Wettbewerb für ein kunterbuntes, dynamisches und trotz mancher Schattenseiten hoch attraktives Gemisch sorgen, kann es aus seiner Unübersichtlichkeit kein Kapital schlagen. Die Probleme liegen seit langem auf der Hand, viele Missstände schreien zum Himmel: Es mangelt aber weder an Geld – mit 3,8 Prozent ihres Bruttoinlandproduktes geben die USA mehr für die Schulbildung aus als Deutschland mit 3,5 Prozent – noch an guten Ideen oder tatkräftigen, erfahrenen Reformern. Der "Spirit" in den Schulen ist durchweg positiv, in ärmeren oft besonders aufbauend. Aufsichtsbehörden und Schulleitungen tun ihr Bestes, um die Misere zu verwalten, und das alles durchweg unbürokratisch.
Doch eine Schieflage bei der Verteilung der Gelder, fehlende Koordination und unklare Anforderungen an Lehrer wie Schüler führen zu eklatanten Missständen. Für die Schulbildung sind in erster Linie Städte und Gemeinde verantwortlich; Schulbetrieb und Lehrergehälter werden aus Grundsteuern finanziert. Obwohl sie diese selbst festsetzen dürfen, können arme Gemeinden natürlich längst nicht soviel Geld eintreiben wie reiche Kommunen. Finanziell schwache Distrikte erhalten in den meisten Staaten zwar Ausgleichzahlungen und Zuschüsse. Trotzdem gibt es von Ort zu Ort, Staat zu Staat, Schule zu Schule gewaltige Ausstattungs- und Niveau-Unterschiede.
Zugang nicht nur eine Frage des Geldes
Wie gut oder schlecht die Lage ist, bestimmt das Sozialprofil und die Steuerkraft der Gemeinde: In sozial besser aufgestellten Distrikten gibt es hervorragende Lehr- und Förderangebote und ausgezeichnete Schulen; in armen Gebieten, in denen gute Bildung besonders Not täte, herrschen oft deprimierende Zustände. Längst nicht alle Staaten haben Leistungsstandards für Kernfächer und besondere Qualifikationsanforderungen für Lehrer definiert. Viele Eltern schulpflichtiger Kinder scheuen daher weder Zeit noch Mühen, um in einen Ort mit guten Schulen umzuziehen, selbst wenn sie dort deutlich höhere Immobilienpreisen oder Mieten bezahlen müssen.
Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder am besten gleich auf eine private, nicht selten auch religiös orientierte Schule, die hohe Qualität und beste Zulassungsaussichten bei einem Top-College verspricht. Staatliche Hilfen erhält keine von ihnen. Alle finanzieren sich nur aus Spenden und Gebühren, die leicht mehr als 20.000 Dollar pro Jahr und Kind betragen können. Doch der Zugang ist keine reine Frage des Geldes: Die besten Einrichtungen stellen sehr hohe Leistungsanforderungen und können sich ihre Kadetten aus einer langen Schlange von Bewerbern aussuchen. Trotz der finanziellen Belastungen besuchen fast elf Prozent aller amerikanischen Kinder eine private Schule – ein Indiz dafür, dass Amerikanern eine gute Ausbildung viel wert ist.
Hochschulgebühren als Zukunftsinvestition
Für die Hochschulen gilt das ganz besonders. Alle Studenten müssen Gebühren zahlen, deren Höhe allerdings stark variiert. Umsonst ist eine Hochschulausbildung nirgends zu haben. Man begreift sie als Investition in die eigene Zukunft, die in der Regel hohe private Erträge abwerfen wird: College-Absolventen haben interessantere Jobs, leben besser und verdienen mehr als ihre Altersgenossen, die nur ein High School Diploma haben. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Lagen die Durchschnittseinkommen der College-Absolventen vor 30 Jahren nur um ein gutes Drittel höher, sind es heute 76 Prozent mehr. Die Trennlinie zwischen prekären und stabilen Lebensläufen, "haves" und "have nots" verläuft immer eindeutiger zwischen denen, die einen Hochschulabschluss haben und dem Rest.
Hochschulabschluss – das meint in den USA den Bachelor nach einem vierjährigen Studium im College. Nur etwa ein Viertel der Absolventen studiert weiter, zum Master- oder Doktorgrad (Ph.D.). Oder sie entscheiden sich für "professionell studies" – die den Bachelor voraussetzen –, weil sie Jura, Medizin oder Ingenieurwissenschaften studieren wollen. Die Amerikaner lassen sich ihre Hochschulen sehr viel kosten, immerhin 2,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts statt 1,1 Prozent in Deutschland. Ist das Schulwesen auch in den USA ganz überwiegend staatlich finanziert, kommen die Mittel für die Hochschulen zu zwei Dritteln aus privaten Quellen – Studiengebühren, Spenden und Zuwendungen, Forschungsmitteln der Industrie sowie den mitunter riesigen Hochschulvermögen.
Vielfalt an Universitäten und Colleges
Das Land ist mit Hochschulen reich gesegnet. Überall und für jeden Geschmack gibt es ein Angebot: eine Handvoll berühmter, hervorragend ausgestatteter und meist privater Elite-Hochschulen, hunderte sehr guter Universitäten und tausende ganz unterschiedliche Colleges, staatliche und private, große und winzig kleine, strikt berufsorientierte oder allgemein bildende, jüdische und katholische, solche nur für Frauen oder nur für Männer, extrem anspruchsvolle und völlig anspruchslose und immer mehr kommerzielle Mega-Hochschulen mit Online-Kursen und Studienzentren an Autobahnkreuzen. In der Vielfalt liegt eben die Würze. Markt und Wettbewerb bestimmen das Angebot; staatliche Regulierung ist unbekannt. Ungefähr 2.600 Einrichtungen wetteifern um die Gunst der Studieninteressenten, doch nur gut 250 gelten als "selektiv", weil sie mehr als die Hälfte der Bewerber ablehnen. Darunter sind nicht nur die renommierten Universitäten wie Harvard, Stanford und Yale, sondern auch viele kleine private Colleges, die in Deutschland kaum jemand kennt, sowie große staatliche Universitäten wie Berkeley oder Ann Arbor. Fast 60 Prozent der US-Hochschulen sind private, ganz überwiegend gemeinnützige Einrichtungen. Dabei sind fast 80 Prozent aller Studenten an einer öffentlichen Hochschule eingeschrieben.
Nicht zuletzt infolge des scharfen, Kosten treibenden Wettbewerbs sind die Gebühren in den vergangenen Jahrzehnten überall explodiert – im staatlichen Sektor noch mehr als im privaten. Die Durchschnittspreise, hinter denen sich eine enorme Spannbreite verbirgt, betrugen 2007 6.185 Dollar pro Jahr an öffentlichen und 23.712 Dollar an privaten Hochschulen. Sämtliche hoch gerankten Einrichtungen verlangen weit mehr, im Schnitt etwa 35.000 Dollar. Hinzu kommen Unterbringung und Verpflegung im College. Ein Studienjahr an einer der bekannten "Ivy Leagues", der Top-Universitäten, kostet da leicht 50.000 Dollar.
Studienbeihilfen weit verbreitet
Allerdings zahlt kaum ein Student die Schwindel erregenden Listenpreise in voller Höhe. Drei Viertel bekommen Studienbeihilfen, sei es vom Staat, sei es aus Mitteln ihrer Hochschule. Bei den privaten Universitäten sind es sogar 85 Prozent aller Studenten. Fast die Hälfte muss jedoch ein Studiendarlehen aufnehmen, das nur zum Teil staatlich subventioniert wird. Verrückterweise haben der Wettbewerb um exzellente Studenten und politischer Druck dazu geführt, dass selbst Studenten aus relativ gut verdienenden Familien in einer privaten Elite-Universität unter Umständen weniger bezahlen müssen als für eine gute staatliche Hochschule – vorausgesetzt, sie passen ins Bild und werden genommen.
Hat man es einmal in die heiligen Hallen von Harvard & Co geschafft und die harten Zulassungshürden überwunden, was freilich nur weniger als zehn Prozent der Bewerber gelingt, darf man sich auf Herausforderungen, Anregungen und Studienbedingungen freuen, wie man sie an einer deutschen Universität kaum findet: Kleine "Classes", intensive Betreuung, opulent bestückte Bibliotheken und Labors, ein üppiges Angebot kultureller, sportlicher oder politischer Aktivitäten – und vor allem viele smarte, hoch motivierte und neugierige, dabei aber nur selten streberhaft verklemmte Kommilitonen aus dem "Global Village", die sich des Privilegs, in einer solchen Umgebung studieren zu dürfen, sehr bewusst sind und ihre wunderbaren Möglichkeiten mit vollen Zügen nutzen wollen. So braucht man zwar nicht unbedingt viel Geld, um Anteil daran zu haben. Aber ohne enorm viel Geld wären die amerikanischen Universitäten tatsächlich nicht das, was einige von ihnen nun einmal ganz unbestritten sind: die besten Hochschulen der Welt.