11. März 1938
Schicksalstag der Österreichischen Juden! Nun haben wir einen neuen Trauertag in den Annalen unserer Geschichte! Wie viele werden noch folgen? Schuschnigg hat also seine Demission gegeben, in den Straßen marschieren die nationalsozialistischen Formationen, deutsches Militär ist über die Grenzen eingerückt und eben sehe ich, wie schon die Wache mit deutschen Gruss antwortet. Wo hin entschwand nun alles, was als Ziel aufgesteckt war? Wo sind alle Pläne und Ziele? In einer unheilvollen Stunde beschwor ich das Schicksal, da ich sagte, ich hatte bis heute schon ein wundervolles Leben geführt, und stürbe ich hätte [sic!], ich hätte mein bisheriges Dasein nicht zu bereuen. Nun, was heute geschehen ist, kommt einem Tode gleich. Denn weiß Gott, ob ich ein neues Leben in fremden Landen mir werde aufbauen können! Wie und wo stehen aber die vielen hunderttausend Juden, die nun aus der Bahn geworfen werden und die ihr Leben und ihr Dasein vernichte sehen?! Wir sind ein geschlagenes Volk, wahrhaft? Wie wäre zu helfen, was wäre zu beginnen? Und dabei verliert sich doch – ich kann’s nicht leugnen – der sorgende und teilnehmende Gedanke für die Brüder, wenn das eigene Los vernichtet scheint und wenn unmittelbarste Sorgen an den Menschen herantreten. Diese Furcht vor dem Untergang, dieses Bangen vor dem Ungewissen, dem man machtlos gegenübersteht, das sind Gefühle, die auch am Lebensmut zehren und ihn mindern u. Gewiss habe ich meinen guten Glauben und sogar [m]eine gute Hoffnung noch nicht verloren, wie lange aber noch soll mir die Empfindung Halt und Stütze sein, da die Ereignisse stärker und stärker werden und man sich ihrer nicht mehr erwehren kann.
Vom heutigen Tag wäre noch zu sagen: Es hat uns allemal ein solches Gefühl innerer Freude ergriffen, da wir mit solcher Gewissheit einen herrlichen Sieg Schuschniggs voraussahen; mit den Arbeitern war ein guter Frieden gefunden worden, man gab ihnen die Gelder zurück man gewährte ihnen wieder die alten Rechte: Es war dieses Volk tatsächlich eine Einheit, wobei nur die Nazis abseits standen, die gewiss ausschl[ießlich] ein Drittel des Volkes ausmachen, aber sie erheben Anspruch auf die Herrschaft, weil das deutsche Volk hinter ihnen steht. So musste Schuschnigg einzig der zehnfachen Übermacht weichen, gegen die er sich vier Jahre lang wirklich heroisch gewehrt hatte. Das macht ihm eines dauernden Andenken gewiss.
Die Verzweiflung unter den Juden ist gross. Friedl prophezeite einen Pogrom. Ich schaudere davor. Den Eindruck, den ich heute hatte hat sich mir allzu tief eingeprägt, da ich sehen musste, wie sich über einen Juden herfielen und ihn schlugen, eine Horde von Menschen schlug zu! Mob war es, der demonstrierte! Kaum dass man einen Bessergekleideten sah!
So vollzieht sich hörbar der Übergang zu einem deutschen Staat: Erst ernste Musik mit Unvollendeter, Nachtmusik und Dritter Bruckner; doch dann deutsche Militärmärsche und deutsche Volkslieder. Und wir sitzen hier stundenlang und können nicht weiter als versuchen, unsere Traurigkeit zu verbergen.
12. März 1938 Nachts
Was ich gestern noch für einen kaum fassbaren Gedanken hielt, ja ihn von mir stiess, damit er mir ja nicht zu Bewusstsein käme, ist mir heute keine Frage des Bangens und der Trauer mehr: die Auswanderung. Ich habe jede Verbindung mit diesen Österreichern verlassen und die Verbindung auch mit dem Land. Hörte ich noch gestern mit aller Gespanntheit auf die Berichte im Radio, so ist es mir heute sämtlich gleichgültig geworden, was hier noch vorgeht. Wenn es so weit gekommen sein wird, dass ich meine Stelle aufgeben muss, so werd ich, sofern es möglich ist, den Weg in irgendein anderes Land suchen; in ein Land, wo man ohne Furcht auf der Strasse gehen kann und wo man nicht bangen muss, niedergeschlagen zu werden, und wo einem nicht Menschen begegnen, die einem selbstverständlicherweise Feind sind. Gewiss wird es schwer werden, alles hier zu lösen; und gewiss wird es noch viele Schwierigkeiten zu überwinden geben: aber die innere Not wird bei all dem fehlen; und nur auf sich selbst gestellt, die Heimat im Herzen tragend, muss der Aufbruch unternommen werden. Ich bin also entschlossen, mein ferneres Leben an Dorrit zu binden, um sie als Kameradin an meiner Seite zu haben, da ich der Ansicht bin, dass [sie] voll Klugheit und voll Treue ist und mit mir wird den harten Weg, der nun beginnt, gehen wollen und können.
So muss ich auch meine Götter von mir stossen, die nicht mehr zu mir gehören und die ich nur solange als Götter dulden konnte, solange es lustige Theorie war: Könnte ich noch eine Zeile Nietzsche vertragen? Vermöchte ich heute einen Takt Wagner zu hören? Und wo ist Spengler hin? Ich finde langsam und verschämt heim zum einstigen und ersten Gott, dem Gott der Juden, der jetzt in wahrster bitterster Not seine Stärke leiht und den Halt schenkt, der so dringend vonnöten. Und dennoch muss ich es einbekennen, dass ich mich persönlich – mag sein durch ein massloses Gefühl an Überheblichkeit – nicht so sehr von den Geschehnissen betroffen fühle und eher mein Mitleiden für Schuschnigg und all die armen Juden empfinde, als für mich selber.
Seltsames Geschehen der Welt: Schuschnigg, dessen antisemitische Gesinnung gewiss nicht in Zweifel zu ziehen ist, ward von uns Juden mit einer Scheu und Liebe verehrt, als wollten wir ihn den Erlöser nennen. Ohne dass wir es eigentlich wollten, fügte es sich, dass er den Juden heute näher steht als manchem alten Österreicher. Die Adeligen des Geistes und der Gesinnung finden zusammen und kitten ihr Schicksal aneinander, auch wenn sie aus gänzlich anderen Lager kommen.
15. März 1938
Nun ist der vierte Festtag angebrochen und noch immer wird gefeiert und gejubelt, so dass ich langsam glaube, es sei ehrlich und auch das österreichische Volk sei von den Psychosen ergriffen worden. Die Juden aber sind ratlos, wohin sie sich wenden sollen und ich weiss es nicht besser als all die anderen die voll Verzweiflung sind.