Die Online-Anwendung "Lernen mit Interviews: Zwangsarbeit 1939-1945" verbindet die Anschaulichkeit lebensgeschichtlicher Video-Interviews mit der Interaktivität digitaler Medien. Die Lernumgebung fördert historische und mediale Kompetenzen und eine aktive Erinnerung an die NS-Zwangsarbeit und ihre Opfer.
Die neu entwickelte Online-Anwendung "Lernen mit Interviews" ist ein kompetenzorientiertes Unterrichtsangebot für 14- bis 18-Jährige. Im Mittelpunkt stehen Lebensgeschichten ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Sieben Mitglieder unterschiedlicher Opfergruppen berichten von ihren Erfahrungen in Lagern und Fabriken, dem Verhalten der Deutschen und ihrem Leben danach.
Die 25-minütigen biografischen Kurzfilme beruhen auf Video-Interviews aus dem Online-Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945"; zwei 17- bzw. 20-minütige Hintergrundfilme informieren über Thema und Quellengattung. Infotexte und Methodentipps, Zeitleiste und Lexikon, Dokumente und Karten helfen bei der Kontextualisierung. Die kompetenzorientierten Aufgaben können direkt im Arbeitsfenster der Lernumgebung bearbeitet werden. Die Arbeitsvorschläge sind für unterschiedliche Niveaustufen geeignet und auf eine 90-minütige Unterrichtseinheit abgestimmt.
Transkripte und Übersetzungen, Navigation und Aufgaben, Arbeitsfenster und Portfolio-Funktion erlauben ein forschendes Lernen im Regelunterricht, bei Projekttagen und Präsentationsprüfungen. Den Lehrpersonen ermöglichen didaktische Kommentare, Merkfunktionen und Ergänzungsmöglichkeiten eine effektive und gruppenspezifische Vorbereitung.
Die neu entwickelte Online-Anwendung „Lernen mit Interviews“ ist ein kompetenzorientiertes Unterrichtsangebot für Schülerinnen und Schüler ab 14 Jahren. Im Mittelpunkt stehen Lebensgeschichten ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.
Video-Interviews im Geschichtsunterricht
Screenshot der Lernumgebung „Lernen mit Interviews: Zwangsarbeit 1939-1945“
Screenshot der Lernumgebung "Lernen mit Interviews: Zwangsarbeit 1939-1945"
Screenshot der Lernumgebung "Lernen mit Interviews: Zwangsarbeit 1939-1945"
Lebensgeschichtliche Interviews vermitteln die Geschichte der NS-Zwangsarbeit sehr anschaulich. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen berichten über ihre persönlichen Erfahrungen, Ängste und Träume als Jugendliche, über die Trennung von den Eltern und die Verschleppung in ein fremdes Land, über Ausgrenzung, aber auch Freundschaft und Widerstand. Diese konkreten Erinnerungen erleichtern den Schülerinnen und Schülern den emotionalen und kognitiven Zugang zur Geschichte der Zwangsarbeit.
Die Arbeit mit den Interviews erweitert das Quellenverständnis sowie die narrative und mediale Kompetenz der Lernenden. Gleichwohl sichern Zusatzmaterialien und Hilfsmittel eine ausreichende Kontextualisierung der individuellen Biografien, d. h. ihre Einbettung in die "große Geschichte".
Interview mit Dorothee Wein zur Lernumgebung zum Thema Zwangsarbeit 1939 – 1945
In der Lernumgebung "Lernen mit Interviews: Zwangsarbeit 1939 – 1945" berichten sieben Überlebende in Videointerviews von ihrer Zeit als Zwangsarbeiter in der NS-Zeit. Ergänzt durch Hintergrundfilme, Zusatzmaterialien und interaktive Aufgaben, regt die Lernumgebung eine individuelle Auseinandersetzung mit dem Thema an. Im Interview erklärt Projektmanagerin Dorothee Wein von der Freien Universität Berlin, wie die Lernumgebung funktioniert und welche Bedeutung Zeitzeugeninterviews für unser…
Video-Interviews im Geschichtsunterricht
Die Video-Interviews können ein persönliches Gespräch mit Überlebenden des Nationalsozialismus nicht ersetzen, deren moralische Autorität und Authentizität gerade im direkten Dialog erfahrbar wird. Andererseits erlauben die Interviews gerade deswegen eine aktive Quellenarbeit, kritische Analysen und eigene Deutungsversuche. Entsprechend soll ein lebendiger Dialog mit dem Material angestoßen und gleichzeitig ein respektvoller Umgang mit den Berichten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gewährleistet werden.
Dabei muss der spezifische Charakter eines lebensgeschichtlichen Interviews und des damit verbundenen Zeugnisablegens verständlich werden: Die Interviewten gehen ein großes Risiko ein, wenn sie ungeschützt vor der Kamera einen Bericht formulieren, den sie – anders als schriftliche Interviews oder Memoiren – nicht mehr korrigieren können. Einige Aufgabenvorschläge thematisieren daher die Bedeutung der Interviewführung sowie des Zusammenschnitts der mehrstündigen Interviews zu 25-minütigen Filmen und schulen dadurch die Medienkompetenz.
Multimedial unterstützte Erzählungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen tragen ein starkes Realitätsversprechen in sich. Die Berichte sind von der individuellen Biografie, gesellschaftlichen Erinnerungskulturen und der konkreten Interview-Situation beeinflusst. Die Aufgabenvorschläge machen dies deutlich, ohne die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen als unglaubwürdig zu diskreditieren.
Die Video-Interviews ermöglichen die Wahrnehmung mit verschiedenen Sinnen; Mimik und Gestik sind wichtige Teile der Erzählungen. Bei fremdsprachigen Interviews kann die Übersetzung ausgeschaltet werden, sodass nur die Originalstimme zu hören ist. Die Sprachenvielfalt öffnet damit zusätzliche Wege für mehrsprachige Lerngruppen: Manche Schülerinnen und Schüler aus zugewanderten Familien können ihre Sprachkompetenz demonstrieren, Europa- und Auslandsschulen finden partnersprachliches Unterrichtsmaterial zur deutschen Geschichte.
Die nationalsozialistische Zwangsarbeit im Geschichtsunterricht
Das Thema NS-Zwangsarbeit ist besonders geeignet für den problem- und kompetenzorientierten Geschichtsunterricht. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, damals oft noch im Schulalter, gehörten zur "Normalität" des NS-Alltags. Sie arbeiteten nicht nur in der Industrie, sondern auch auf Bauernhöfen, in Werkstätten und Privathaushalten. Ihre Baracken lagen oft mitten in Wohngebieten. Daher gibt es überall zu entdeckende Spuren: in der Familiengeschichte, in Gedenkstätten, an historischen Orten, in Heimatmuseen oder bei lokalen Erinnerungs-Initiativen.
Weil die Zwangsarbeit so tief im Alltag der Deutschen verankert war, eröffnet ihre historische Aufarbeitung Zugänge zu einer Vielfalt von Themen: der Wirtschafts- und Sozialpolitik des NS-Staates, der Rassenideologie, den Handlungsspielräumen der Deutschen (von Kollaboration bis zur Hilfe für die Verschleppten), dem Widerstand von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern. Die exemplarischen Interviews können auch eingesetzt werden für Lerneinheiten über den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Besatzungspolitik, über den Holocaust und die Verfolgung der Sinti und Roma. Anhand der Biografien lassen sich zudem Themen der Nachkriegsgeschichte wie die Sowjetisierung Polens oder europäische Gedächtniskulturen ansprechen. Die individuellen Erinnerungen aus verschiedenen Ländern ermöglichen damit eine internationale Perspektive auf die deutsche und europäische Geschichte. Die jahrelange Diskussion um die Entschädigung – Musterbeispiel einer geschichtspolitischen Kontroverse – zeigt, wie stark historische Deutungen aktuelle Politik beeinflussen können.
Die Berichte der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter verdeutlichen, dass der Oberbegriff "Zwangsarbeit" verschiedene Formen des Arbeitseinsatzes umfasste: vom Leben als Dienstmädchen bis zur Hoffnungslosigkeit der "Vernichtung durch Arbeit". Diese Unterschiede fordern eine differenzierte Betrachtung und einen quellenkritischen Ansatz.
Anknüpfungspunkte an aktuelle Problemfelder
Die Analyse der je nach Herkunft unterschiedlichen, im Alltag weithin akzeptierten Diskriminierung der "Fremdvölkischen" vermittelt Orientierungskompetenz auch in Anbetracht aktueller Formen von Rassismus und stärkt die Fähigkeit, Bedeutung und Gefährdungen der Menschenrechte zu erkennen. Fragen nach Arbeit, Zwang und Freiheit sind auch relevant in einer postindustriellen Gesellschaft, in der viele Schülerinnen und Schüler von der Arbeitslosigkeit ihrer Eltern und unsicheren eigenen Berufsaussichten betroffen sind. Didaktisch können Vergleiche – nicht Gleichsetzungen – mit aktuellen Formen von Zwangs- und Kinderarbeit, Sklaverei und Menschenhandel sinnvoll sein.
Besonders für multikulturelle Lerngruppen ist die mit der NS-Zwangsarbeit verbundene Zwangsmigration ein wichtiges Thema. Anhand der in den Interviews erzählten Erfahrungen von Fremdheit, Ausgrenzung und Ausbeutung lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Wanderungsprozessen (z.B. von "Gastarbeitern" oder Flüchtlingen) diskutieren. Auf diese Weise kann das Thema NS-Zwangsarbeit problemorientiert und Erkenntnis fördernd auch in die Geschichte von "Wirtschaftswunder", Migration und europäischer Integration eingebettet werden.
Im Rahmen der Fortbildungen erhalten Lehrkräfte, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren eine fundierte Einführung in das historische Thema, in methodische Probleme des Lernens mit Interviews und in die didaktischen Konzepte die der Lernumgebung zugrunde liegen. Gemeinsam mit den anderen Teilnehmenden erproben Lehrerinnen und Lehrer dann die Lernumgebung und konzipieren eigene Unterrichtseinheiten, die sie im Schulunterricht direkt einsetzen können.
Die Autorinnen und Autoren der Lernumgebung an der Freien Universität Berlin organisieren und leiten diese Seminare gemeinsam mit den für die Lehrerfort- und -ausbildung zuständigen Einrichtungen der Bundesländer, aber auch mit Akademien, Universitäten, Museen und Gedenkstätten in verschiedenen Regionen Deutschlands. Digitale Angebote zur Online-Fortbildung und Vernetzung sind in Vorbereitung.
Methodentipp: Wie analysiere ich ein Zeitzeugen-Interview?
Dieser Methodentipp empfiehlt Arbeitsschritte bei der quellenkritischen Analyse lebensgeschichtlicher Interviews.
Eindruck: Wie ist dein erster Eindruck?
Themen: Worüber spricht der Zeitzeuge / die Zeitzeugin? Welche Schwerpunkte werden gesetzt? Gibt es deiner Ansicht nach Lücken, fehlen bestimmte Aspekte?
Interviewführung: Wie verhält sich der Interviewer / die Interviewerin? Wie hat das Interviewteam Beleuchtung und Kameraführung gestaltet? Wie wirkt sich das auf das Interview aus?
Erzählung oder Kommentar: Wann wird erzählt, wann wird die eigentliche Erzählung kommentiert? Achte auf Bewertungen und Lehren, die aus einer Geschichte gezogen werden; auf Parallelen oder Bezüge zu anderen Ereignissen.
Sprache: Was sind die Besonderheiten der Sprache? Spricht der Zeitzeuge / die Zeitzeugin Dialekt, Umgangssprache, Hochsprache? Ist der Satzbau eher einfach oder kompliziert? Gibt es ungewöhnliche Wörter (altmodische oder Dialektwörter, Fremdwörter, drastische Ausdrücke)? Werden diese Wörter bewusst eingesetzt? Wann werden Zitate, Sprichwörter, Metaphern verwendet? Wie wirkt die Sprache auf dich?
Gestik, Mimik, Stimme: Auch Gesten, Gesichtsausdruck und Sprachmelodie können etwas erzählen. Gibt es Auffälligkeiten in Körpersprache, Mimik oder Stimmlagen? Stimmen sie mit den Inhalten und der Erzählweise überein? Welche Gefühle vermitteln sie? Was hat dich an der Erzählweise besonders beeindruckt?
Historiker, geb. 1965, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center für Digitale Systeme der Freien Universität Berlin, Bereich Interview-Archive, Online-Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945".
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