Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wolfs- und Kriegskinder. Wissenschaftliches Symposium zur Geschichte, Erinnerung und Gegenwart im und nach dem Zweiten Weltkrieg | Themen | bpb.de

Wolfs- und Kriegskinder. Wissenschaftliches Symposium zur Geschichte, Erinnerung und Gegenwart im und nach dem Zweiten Weltkrieg 23. März 2023, Berlin

/ 7 Minuten zu lesen

Ehemalige „Wolfskinder“ im Gespräch mit Christopher Spatz (© Bundeszentrale für politische Bildung und Gesellschaft für bedrohte Völker e.V.)

Forschungen zu Kindern und Kindheit im 2. Weltkrieg und während des Holocaust nehmen in der Wissenschaft einen immer größeren Raum ein. Dennoch ist einer breiteren Öffentlichkeit über die Geschichte von Kindern während der Zeit zwischen 1939 – 1945 nicht viel bekannt. Dies gilt insbesondere für „Wolfskinder“ – Kinder von deutschen Familien, die 1945 von ihren Eltern getrennt wurden. Wenig bekannt sind auch die Erfahrungen von Kriegskindern aus der von Deutschland 1941 besetzten Sowjetunion.

Ziel der Veranstaltung zum Thema “Wolfs- und Kriegskinder. Wissenschaftliches Symposium zur Geschichte, Erinnerung und Gegenwart im und nach dem Zweiten Weltkrieg“ am 23. März 2023 in Berlin war, die Geschichten dieser Kinder einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen sowie Zeitzeug/-innen (ehemaligen „Wolfskindern“) die Möglichkeit zu bieten, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Zur Vernetzung der im Feld aktiven Personen und zur Vermittlung von Fachwissen wurde im Rahmen des wissenschaftlichen Programmteils die Perspektive zu anderen Kriegskindern erweitert.

Das wissenschaftliche Symposium wurde als Kooperation mit der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) realisiert. Es handelt sich dabei um eine international tätige, nichtstaatliche Menschenrechtsorganisation. Die GfbV vertritt weltweit die Interessen von verfolgten Minderheiten in Politik, bei Verbänden und Medien.

Programm

Am 23. März 2023 diskutierten internationale Expert/-innen die vielfältigen Erfahrungen von Kindern in Mittel- und Osteuropa im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Fokus lag dabei auf Kindern unter deutscher Besatzung sowie sogenannten Wolfskindern aus dem ehemaligen Ostpreußen. Den zwei Panelen ging ein Impulsvortrag von Prof. Dr. Ruth Leiserowitz vom Deutschen Historischen Institut Warschau voraus.

Ruth Leiserowitz formulierte in ihrem Vortrag folgende acht Punkte, die die Erfahrung von Kindern im und nach dem Zweiten Weltkrieg kennzeichneten:

  • Mit Kriegsbeginn endete die Kindheit vieler Kinder. Hunger, Gewalt, Familien- und Wohnungsverlust machten sie häufig zu Akteuren, die erwachsene Rollen in Familie und Gesellschaft übernehmen mussten.

  • Die Agency, oder Handlungsmacht, dieser Kinder wurde nach dem Krieg vergessen bzw. war mit Kriegsende nicht vorbei.

  • Auch in der nachträglichen Betrachtung des Kriegsgeschehens blieben die spezifischen Erfahrungen von Kindern ausgespart bzw. wurden in die allgemeinen Erfahrungen der Zivilbevölkerung integriert. Sie selbst hatten keine Lobby.

  • Kinder waren sowohl Opfer als auch Akteure.

  • Das Thema „Wolfskinder“ gewann erst nach der politischen Unabhängigkeit Litauens an öffentlicher Aufmerksamkeit.

  • Es gab zwar bis in die 1970er Jahre Rückführungen deutscher „Wolfskinder“ aus Litauen in die sowjetische Besatzungszone bzw. DDR, doch ihr spezifisches Schicksal blieb unbeachtet.

  • Die Nicht-Wahrnehmung führte zur „Erinnerungseinsamkeit“ von Wolfs- und Kriegskindern.

  • Erst nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Herrschaft und der Unabhängigkeit Litauens wurde das „Tuch des Schweigens“ entfernt. Die Betroffenen befanden sich zu diesem Zeitpunkt kurz vor dem Eintritt ins Rentenalter. Es war somit ein biografisch wie geopolitisch günstiger Zeitpunkt zur Aufarbeitung.

Panel I. Kinder im Krieg. Verfolgungserfahrung und Agency unter deutscher Besatzung

Moderation:
Prof. Dr. Dorothee Wierling

Referenten:
Dr. Yulia von Saal
Kriegserfahrungen der Kinder im besetzten Belarus (1941-1944)

Dr. Irina Rebrova
Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen in den besetzten Gebieten der Russischen Sowjetrepublik

Prof. Dr. Johannes-Dieter Steinert
Polnische und sowjetische Kinderzwangsarbeiter im nationalsozialistischen Deutschland und besetzten Osteuropa

Der Fokus auf Kinder als eigenständige soziale Gruppe und ihre Kriegserfahrungen ist relativ neu in der Forschung. Kriegskinder im besetzten Belarus bildeten beinahe die Hälfte der Zivilbevölkerung mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen während der deutschen Besatzung. Jüdische Kinder hatten kaum Möglichkeiten zum Überleben und waren besonderem Verfolgungsdruck ausgesetzt. Für Kinder herrschte keine Ausweis- oder Markierungspflicht, was das Untertauchen erleichterte. Andere Kinder überlebten unter falscher Identität in Kinderheimen. In wenigen Fällen flohen Jugendliche zu den Partisanen. Glück und Zufälle waren für alle Überlebenden maßgeblich. Überlebende wurden jedoch auch häufig der Kollaboration verdächtigt und kriminalisiert, was viele Verfolgte zum Anlass nahmen nicht über ihre Erfahrungen zu sprechen. Ein vorsichtiger Wandel setzte mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein, dennoch ist eine Hinwendung auf die spezifischen Verfolgungserfahrungen bis heute nicht gegeben.

Bislang existiert kaum Forschung zu deutschen Krankenmorden an Kindern in der Russischen Sowjetrepublik und die dortige Tötung von Kindern mit Behinderung ist nahezu unbekannt. Es wird davon ausgegangen, dass bis zu 13.000 Personen mit Behinderung, davon über 1.000 Kinder von den deutschen Besatzern ermordet wurden. Viele dieser vulnerablen Personen wurden nicht evakuiert und die Mordaktionen fanden überwiegend in den ersten Wochen der Besatzung statt. Je nach Gebiet wurden die Kinder vergast oder erschossen. Naturgemäß erschwert die aktuelle politische Situation in Russland die Forschung zu dem Thema. Zudem wurde in der Sowjetischen Erinnerungskultur nicht auf die Spezifik der Verfolgung eingegangen, sondern alle Opfer undifferenziert betrachtet und nicht auf ihre Behinderung eingegangen. So negierten errichtete Denkmäler für die ermordeten Kinder ihre Behinderung.

Neben den beschrieben Verfolgungserfahrungen und Tötungsaktionen waren mindestens 1,5 Millionen Kinder in Deutschland zur Zwangsarbeit überwiegend aus Polen und der Sowjetunion eingesetzt. Im Kriegsverlauf wurde das Alter der nach Deutschland deportierten Kinder aus den besetzten Gebieten zunehmend jünger (1944 waren es etwa 8- bis 10-jährige). Die Kinderzwangsarbeiter litten nicht zuletzt an der schweren körperlichen Arbeit und miserablen hygienischen Bedingungen; ihr Alltag war auch von Gewalt, Hunger und Erkrankungen geprägt. Wie konnten Kinder jedoch der Deportation nach Deutschland entgehen? Eine Arbeitsaufnahme vor Ort bewahrte vor der gefürchteten Deportation, oft waren Bestechungsgelder im Spiel; Korruption gab es ebenfalls in Polizeidienststellen, hier häufig verknüpft mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger. Auch Selbstverstümmelungen oder beabsichtigte Infektionen waren keine Seltenheit. Das Thema Kinderzwangsarbeit wurde ebenfalls bis in die 1990er Jahre vermieden. Nach Kriegsende wurden in die Sowjetunion zurückkehrende Deportierte von Repatriierungsoffizieren beschimpft und der Spionage bezichtigt; die Rückkehr in die größtenteils zerstörten Regionen wurde kaum begrüßt. Die Repatriierung nach Polen erfolgte zwangloser, doch auch hier sprach niemand über psychische und physische Folgen der Zwangsarbeit.

Panel II. Die lange Perspektive. Gedächtnisgeschichte der Wolfskinder im transnationalen Kontext

Moderation:
Dr. Vincent Regente

Referenten:
Rūta Matimaitytė
Der kleine Deutsche: Das Erwachen einer unterdrückten Erinnerung am Beginn der Unabhängigkeit Litauens

Dr. Christopher Spatz
Ostpreußens Wolfskinder – ihr langer Weg ins bundesdeutsche Erinnern

Barbara Sieroslawski
„Mädchengeschichten“ – ein Zeitzeugen-Dokumentarfilm über die dramatische Kriegskindheit im besetzten Polen

Nach der Unabhängigkeit konnten in Litauen erstmalig „Wolfskinder“ über ihre Nachkriegserfahrungen sprechen. Wie in anderen Staaten der Sowjetunion war die Erinnerungskultur zuvor von heroischen Mythen geprägt, nicht der Anerkennung von marginalisierten Opfergruppen.

1991 wurde der Verein Edelweiß gegründet, von und für ehemalige „Wolfskinder“, welcher bei der Suche nach verlorenen Verwandten und den langwierigen Staatsangehörigkeitsfeststellungsverfahren in der Bundesrepublik half.

Zwar gab es bis in die 1970er Jahre im Rahmen der Familienzusammenführungen Übersiedlungen von „Wolfskindern“ aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik und DDR, die auch von der Presse dokumentiert wurden, jedoch keine Spuren in der Erinnerungskultur hinterließen. In keinem der beiden deutschen Staaten gab es zunächst Resonanzräume in der Gesellschaft für „Wolfskinder“.

Wie aber kam es überhaupt zu dem Begriff „Wolfskinder“? In dem 1991 veröffentlichten Dokumentationsfilm „Wolfskinder“ von Eberhard Fechner, fand das Wort erstmalig Erwähnung. Zur Verbreitung des Wissens über „Wolfskinder“ trug ebenso Ruth Leiserowitz bei. Nach der Übersetzung ihres Buches „Wolfskinder. Grenzgänger an der Memel“ ins Litauische, veröffentlichte die regionale Presse zunehmend Geschichten der „Wolfskinder“, auch das litauische Fernsehen griff ihre Erinnerungen auf.

Die mediale Berichterstattung und die historischen Ereignisse schufen einen öffentlichen Raum, in dem von da an Platz war für die Schicksale von „Wolfskindern“. Das auch im privaten Umfeld zunehmende Interesse, die Empathie und der Respekt halfen den Betroffenen aus der Erinnerungseinsamkeit. War diese zunächst einem Nicht-Erzählen-Können der traumatischen Ereignisse geschuldet, wurde sie mit der Zeit zum Nicht-Erzählen-Sollen im öffentlichen Narrativ, der sich ab 1991 langsam zu wandeln begann. Fragen sozialer Gerechtigkeit gerieten damit in den öffentlichen Fokus, 1997 wurde mit einer Gesetzesänderung im litauischen Parlament auch „Wolfskindern“ der Status als Opfer der sowjetischen Besatzung zuerkannt. Auch die Veröffentlichung des Romans „Mein Name ist Marytė“ von Alvydas Šlepikas 2011 weckte öffentliches Interesse (es wurde in Litauen Buch des Jahres 2012 und in Deutschland 2017 mit dem Förderpreis des Georg-Dehio-Buchpreises ausgezeichnet), das wiederum die Aufmerksamkeit für „Wolfskinder“ in der Presse erhöhte; Bildungs- und Kunstprojekte, Filme und Ausstellungen folgten.

Perspektiven für die Entwicklung einer gemeinsame Erinnerungskultur sind ein wichtiges Anliegen von Barbara Sieroslawskis Dokumentarfilm „Mädchengeschichten“. Der Film erzählt, wie ein jüdisches, ein polnisches und ein deutsches Mädchen den Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Das jüdische Mädchen weiß nicht um das Schicksal ihres Vaters, die deutsche Familie wird ebenfalls vom Kriegsgeschehen auseinandergerissen, das polnische Kind zwangsgermanisiert und in einer deutschen Familie untergebracht. Dadurch entstehen Erfahrungsverschränkungen: Das polnische Mädchen erlebte den Kriegsalltag in Deutschland, das deutsche Mädchen musste Polnisch lernen, das jüdische Mädchen tauchte als Polin unter und erlebte den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 aus dieser Warte.

Panel III. Zeitzeugengespräch

Moderation:
Dr. Christopher Spatz

Teilnehmer:
Johanna Rüger
Bruno Roepschläger
Klaus Weiß
Luise Kazukauskiene

Die geschilderten Erfahrungen im Zeitzeugengespräch brachte einige Gemeinsamkeiten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zutage. Hunger, Gewalt, körperliche Verwahrlosung und Verrohung waren in den Nachkriegsjahren im ehemaligen Ostpreußen allgegenwärtig. Zudem grassierten Krankheiten wie Ruhr und Typhus. In diesem Zusammenhang kam auch das Thema sexualisierte Gewalt auf, über das bislang wenig bekannt ist in diesem Kontext.

Die Zeitzeugen berichteten, wie sie von besseren Lebensverhältnissen in Litauen erfuhren. Kinder, denen es noch möglich war, machten sich auf den Weg und bettelten auf ihrer Wanderung nach Essen. In Litauen angekommen, teilten sie sich auf und verloren zum Teil Kontakt untereinander und einige auch zu ihren in Ostpreußen zurückgebliebenen Familienmitgliedern. Manche Kinder pendelten die ersten Jahre zwischen Litauen und ihren ostpreußischen Heimatdörfern und versorgten Mütter und kleinere oder erkrankte Geschwister. Die meisten waren jedoch auf sich alleine gestellt, schliefen in den Wäldern oder kamen in Höfen unter.

Den Zeitzeugen zufolge war die Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft in Litauen dennoch immens. Trotz angedrohter Strafen der sowjetischen Besatzer half die Bevölkerung den verwaisten Kindern, etwa mit Nahrungsmitteln oder einer vorübergehenden Unterkunft gegen Arbeitsleistungen bis hin zur Aufnahme in die Familie. Im weiteren Verlauf erhielten die Kinder litauische Namen, vergaßen die deutsche Sprache und ihre Herkunft. Später nahmen sie Berufe auf und gründeten Familien. Eine Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft und Geschichte, war oft erst ab den 1990er Jahren mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion möglich. Nach dem Erhalt deutscher Papiere siedelten einige von ihnen in die Bundesrepublik über, die anderen blieben mit ihren Familien in Litauen.

Vortrag: „Wolfskinder“

Wolfs- und Kriegskinder. Wissenschaftliches Symposium zur Geschichte, Erinnerung und Gegenwart im und nach dem Zweiten Weltkrieg

Vortrag: „Wolfskinder“

Vortrag der Historikerin und stellvertretenden Direktorin des Deutschen Historischen Instituts Warschau, Prof. Dr. Ruth Leiserowitz, über ihre Forschung zu „Wolfskindern“.

Zeitzeugengespräch mit dem „Wolfskind“ Johanna Rüger

Fussnoten