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Regieren nach Auschwitz

Gunter Hofmann

/ 14 Minuten zu lesen

Von Konrad Adenauer bis Angela Merkel: Jeder Kanzler musste sich dem deutschen Verbrechen stellen. Am 18. März sprach die Bundeskanzlerin vor der Knesset. Dort hob sie hervor, dass für sie als deutsche Kanzlerin Israels Sicherheit "niemals verhandelbar" sei.

Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht in der Knesset, dem israelischen Parlament. (© AP)

Vielleicht geht es gar nicht anders, vielleicht muss jeder deutsche Kanzler, auch jeder Präsident sich das Verhältnis zu Israel, zu Auschwitz und der Vergangenheit neu erobern. Bei dem Gedanken jedenfalls ertappte man sich, als Angela Merkel am 18. März 2008 vor dem israelischen Parlament, der Knesset, sprach. Als Ouvertüre war es gedacht, ganz ausdrücklich, dass die Deutschen noch vor Beginn der offiziellen Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel ein öffentliches Bekenntnis zu ihrer "immerwährenden Verantwortung für die moralische Katastrophe in der deutschen Geschichte" ablegen. Beispiellos nannte sie den Zivilisationsbruch durch die Shoah. Mehr noch: Israels Sicherheit sei für sie als deutsche Kanzlerin "niemals verhandelbar", und wenn das so sei, "dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben", die Deutschen garantierten also das Existenzrecht. In Israel schließlich wiederholte sie auch ihr Wort, die Verantwortung, die sich aus der unhintergehbaren Vergangenheit ableite, gehöre zur deutschen "Staatsraison".

Zuvor, auch daran muss man erinnern, hatten Teile des israelischen und deutschen Kabinetts gemeinsam getagt. Das sollte auf einer gewissen Ebene "Normalität" signalisieren. Häufig war daraufhin von einem "Neuanfang" die Rede, beide Länder blickten nun gemeinsam in die Zukunft, wenn auch auf der Basis ihrer "einzigartigen" Beziehungen. Das alles soll hier auch gar nicht in Frage gestellt werden. Aber selbst hocherfreute israelische Kommentatoren erinnerten ausdrücklich daran, dass die deutsche Regierungschefin sich allein schon auf Grund ihrer Biographie das Verhältnis zu Israel noch einmal ganz grundsätzlich erschließe. Die ersten 35 Jahre ihres Lebens, so hatte sie tatsächlich in der Knesset selbst formuliert, habe sie in einem Teil Deutschlands – der DDR – verbracht, die den Nationalsozialismus als westdeutsches Problem betrachtete. Und das mag denn auch eines der Motive gewesen sein, die sie bewegten, mit einem Besuch in dem Kibbbuz Sde Boker mit dem Grab David Ben Gurions ausdrücklich zurückzukehren zu den Anfängen dieser Beziehungen. Denn tatsächlich haben der erste Premierminister Israels und der erste deutsche Kanzler 'Konrad Adenauer', "mit Vorsicht und Weitsicht" den Grundstein für die Beziehungen beider Staaten gelegt.

Die Kabinettssitzung also, tatsächlich ein "Wunder" angesichts der Vergangenheit und keineswegs normal, das Wort von der "Staatsraison", die Rede vor dem Parlament in deutscher Sprache – vieles war tatsächlich neu. Aber neu erfunden werden damit die Beziehungen zu Israel nun nicht. Und - natürlich haben seit Adenauers und Ben Gurions Zeiten auch andere Kanzler und Präsidenten in die Zukunft geblickt. Viele, Richard von Weizsäcker, Johannes Rau seien nur stellvertretend genannt, genossen sowohl wegen ihres selbstkritischen Verhältnisses zur Vergangenheit als auch wegen des zukunftsoffenen Blickes enormen Respekt in Israel. Projekte, Wirtschaftsbeziehungen, Wissenschaftlerprogramme, Kulturaustausch, alles das ist beständig intensiviert und verbessert worden, kein Verantwortlicher in Bonn und später in Berlin wollte sich nachsagen lassen, etwas versäumt zu haben. Und jeder, soviel kann man sagen, bemühte sich um den richtigen Ton.

Angela Merkel entzieht das Verhältnis sozusagen jeder Normalitäts-Versuchung, und auf dieser Ebene des Außerordentlichen möchte sie dann die praktische Politik ansiedeln.

Israels amtierender Regierungschef Ehud Olmert und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Foto: REGIERUNGonline/Kugler (© REGIERUNGonline/Kugler )

Vermutlich gehört zu dem "Einzigartigen", von dem sie sprach, also gerade, dass jeder, der in der Bundesrepublik Verantwortung trägt, seine Definition des Verhältnisses, seine Sicht auf das Geschehene, seine Schlussfolgerungen für morgen selbst definieren muss. Zu groß war die Dimension des "Zivilisationsbruchs", um einfach business as usual zu machen, nichts wird normal. Jeder laboriert daran herum. Ob Deutschland die Garantieerklärung für Israels Sicherheit, die Angela Merkel abgab, einlösen könnte "in der Stunde der Bewährung", mit welchen Mitteln, ob das alles freie Hand für die Politiker in Tel Aviv bedeutet gegenüber Teheran oder der Hamas, und ob sie hinter verschlossenen Türen anders spricht als öffentlich – das alles ist eine Sache für sich. Dass sie aber mit dem Wort von der "Staatsraison" jedoch nach innen eine Verpflichtung formulierte, auch in künftigen Generationen das Bewusstsein für die Vergangenheit wachzuhalten – dazu gibt es in jedem Fall allen Grund. Das ist das neue große Problem, neben den für Israel schlicht existenziellen Dauerproblemen, das in ihre Amtszeit fällt.

Herumlaboriert an der Frage, wie er sich – und damit die Bundesrepublik – positionieren könne in diesem einzigartigen Komplex namens "Israel/Deutschland", hat auch Präsident Horst Köhler. Am 27. Januar 2005, zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, hätte er nur zu gern das Wort ergriffen beim gemeinsamen Erinnern an der Gedenkstätte. Wie die Präsidenten Israels, Polens und Russlands auch. Auch das drückte einen heimlichen Normalitätswunsch aus, unbewusst vielleicht gar. Es kam nicht dazu, es konnte nicht dazu kommen. Die Begründung hat letztlich Angela Merkel in ihrer Knesset-Rede geliefert, mit der sie – in der Tradition der Rede von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des 8. Mai 1945 – auf der Unvergänglichkeit der Vergangenheit, auf der Nicht-Normalität des Verhältnisses insistierte, trotz der gemeinsamen Kabinettssitzung, wie sie auch Deutsche und Franzosen gern pflegen.

Nein, es gibt Unterschiede, die sich nicht verwischen lassen. Auschwitz, Oswiecim nahe Krakau, ist der Ort des "Einmaligen", und er ist zugleich die Chiffre geworden, die in der Erinnerung vieles umschließt: den Zivilisationsbruch, das Menschheitsverbrechen an Europas Juden, das von Deutschland ausging, das große Sterben in Europa. Wie nichts anderes steht "Auschwitz" auch für die Deutschen als Täter und damit quer zu einem Zeitgeist, in dem sie als Opfer aufscheinen, bei der Flucht wie in den Brandnächten. Weshalb aber wurde diese Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 ein solcher Eckpfeiler für das Selbstverständnis der Republik? Sie kreiste, weit grundsätzlicher als die vorsichtige, tastende, politische und sehr geradlinige Rede der Kanzlerin im März 2008 um das lange gemiedene Thema "Auschwitz". In der Luft lag damals ein Hauch von Geschichts-Revisionismus, und der Wunsch mancher Historiker, aus dem Schatten der Vergangenheit herauszutreten. Was Weizsäckers Worte so bemerkenswert machte, war nicht nur seine Einsicht in die Einmaligkeit, "beispiellos in der Geschichte", was er sozusagen stellvertretend für uns alle verbindlich machte. Erstmals hob ein Präsident hervor, diese Erbschaft sei unvergänglich und als Erinnerung in der deutschen Demokratie verankert. Das wählte er als Ausdruck der "Staatsraison". Damals wurde Auschwitz konstitutiv für das Selbstverständnis: Erinnern, hieß es lange, mache schuldbeladen, jetzt hieß es, es mache frei.

Die Unwahrhaftigkeit des DDR-Antifaschismus ist eine Sache, den Staat Israel habe die DDR bis kurz vor ihrem Ende nicht einmal anerkannt, rief Angela Merkel in Tel Aviv in Erinnerung, aber um "Wahrheit" ging es auch dem Patriarchen Adenauer nicht, als dessen "Erbe" die Kanzlerin wiederum mit dem Kibbuz-Besuch hatte anknüpfen wollen. Man erinnere sich: Schon 1955 drängte Adenauer auf "Normalisierung", was quer stand zur "Einmaligkeit". Normalität hieß: Souveränität und Freiheit und Ende der Besatzung! Gerhard Schröder, Vorgänger Merkels und siebter Kanzler bis zum Herbst 2005, benutzte das Wort seltener als der Alte, aber ja, irgendwie praktizierte er diese "Normalisierung". Das "Wir sind wieder wer!" der frühen fünfziger Jahre kehrte während seiner Amtszeit in anderer Variante wieder: Schröder sprach davon, "deutsche Interessen" wahrzunehmen wie andere auch. Aber das Lamento Ludwig Erhards, der Adenauer als Kanzler nachgefolgt war, die Deutschen dürften nicht ewig mit der "Erbsünde" leben, das hörte man von ihm nicht.

Fehlerfrei wandelte auch Schröder keineswegs über dieses verminte Feld. Der "deutsche Weg"! Was mag ihn geritten haben, als er auf die Idee kam, mit Martin Walser am 8. Mai 2002 zu disputieren? Das lud zu Missverständissen förmlich ein, als definiere er "Normalität" wie dieser - als obsessiven Traum einer geschichtsträchtigen, schicksalhaften Nation, die nur zu sich kommt, wenn ihre Schuld endlich getilgt wird. Man beschönigt nichts, wenn man sagt: Schröder war kein Geschichtslehrer. Wohl aber stand er im Schatten des Weizsäcker-Konsenses. Er wollte mit Walser reden, so wie er auch das Schloss in Berlin wieder aufbauen wollte. Aber er ließ eben auch das Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins realisieren. Dieser andere Schröder kam erleichtert um Mitternacht am 1. August 2004 in sein Warschauer Hotel. Einen langen Jahrestag der Erinnerung an den Aufstand vor 60 Jahren gegen die deutschen Besatzer hatte er hinter sich. Blass war er, abgekämpft und unendlich froh, "nichts Falsches gesagt" zu haben. Die Leute auf der Straße - freundlich. "Es hätte ja auch ganz anders kommen können, und ich hätte es auch verstanden." Und dann hat ihm auch noch einer der greisen Veteranen des Aufstands seine Ehrenmedaille geschenkt! Weshalb die Vergangenheit nicht vergeht, was einzigartig an den Beziehungen, was einmalig an dem Zivilisationsbruch ist, das hat auch er in erst im Amt mit dem verborgenen Normalitätswunsch verknüpfen müssen.

Ähnlich galt das für seinen grünen "Vize". Aus "Auschwitz" hatte Schröders Außenminister Joschka Fischer lange abgeleitet, nie wieder dürften hierzulande Massenvernichtungswaffen stationiert werden und nie wieder dürfe "Krieg von deutschem Boden" ausgehen. Fast könnte man das den deutschen Nachkriegskonsens nennen. Als Minister, der die Intervention im Kosovo mitverantwortete, deutete Fischer den historischen Auftrag vollmundig um: Auschwitz heiße, nie wieder dürften wir Deutsche stumm zusehen!

Das Kosovo war nicht Auschwitz, Fischer hat die Analogie in seinem Erinnerungs-Buch längst kassiert. Aber richtig bleibt gleichwohl, dass sich keine bequeme Handlungsanleitung mehr aus der Vergangenheit ableiten lässt. Verpflichtet die "Verantwortung" für die Vergangenheit, die Haltung der israelischen Regierung zum Iran bedingungslos zu übernehmen? Das wird auch Angela Merkel kaum so sagen wollen. Fischer seinerzeit suchte weiter, was das praktisch bedeutet, die Verantwortung für die Vergangenheit nahm er ja nicht weniger ernst. So war es zu dem kleinen falschen Zungenschlag, der Auschwitz-Analogie, überhaupt erst gekommen. Wir Deutsche, zumal die Linke, predigte er, müssten begreifen, um was wir uns mit dem Mord an den Juden selbst gebracht hätten. Wenn das verstanden sei, könne es einen unverdächtigen "Patriotismus" geben.

Kam die Sehnsucht nach Normalität damals von links? Gerade seine Generation hatte sich lange gerühmt, die Jahrzehnte des "kommunikativen Beschweigens" beendet zu haben. Was unterschied Fischers Befund von dem des ersten Protests, 1968, mit dem die junge Generation seinerzeit bei den Eltern Auskunft über ihren Anteil am Geschehenen einforderte? Vielleicht nichts, aber die Welt spiegelte den Deutschen, gerade auch ihrem Außenminister, gerade zu Zeiten der rot/grünen Koalition zurück: In vielerlei Hinsicht seid ihr eine Republik "wie jede andere" auch. Normal! Mit eurer Politik der Zurückhaltung, nie wieder!, könnt ihr euch nicht daran vorbeimogeln, dass ihr praktisch Verantwortung übernehmen müsst! Ja, im Zweifel auch mit deutschen Soldaten, die nicht mehr nur defensiv eingesetzt werden, sondern sich auch "out of area", außerhalb jeder Nato-Zone, einmischen, wenn es geboten erscheint! Suchte Fischer nun deshalb nach der "Nation"? Predigte er der "Linken" deshalb, wie sie "Patriotismus" erlernen und "normal" werden könne? Gab es ein Verhältnis zur Vergangenheit, das eint, ohne einzulullen?

Die Kriege am Balkan, das Morden in Srebrenica, dann der 11. September in New York, die Intervention in Afghanistan und im Irak – in dieser neuen Welt musste die Generation sich bewegen, die geglaubt hatte, ihr waches Verhältnis zur Vergangenheit Ende der 60er Jahre könne ihr vielleicht erlauben, ein bisschen entspannter damit umzugehen. Ein schlechtes Gewissen wegen zu viel Verdrängung musste man ja nicht haben, im Gegenteil. Auch Fischer jedenfalls musste seinerzeit seine Definition dafür finden, was sich ableite aus der Vergangenheit, was sich gebiete und was sich verbiete. Schwierig genug – denn eine Militärintervention am Kosovo war nicht gleichzusetzen mit neuem deutschem Militarismus, und das deutsche "Nein" zum Irak-Krieg war nicht ein Ausdruck von "Pazifismus". Viel schwieriger war es geworden als in den Jahren der Übersichtlichkeit bis 1989, die Vergangenheit als Maßstab zur Orientierung und Handlungsanleitung heranzuholen.

Lange genug zeigten sich in der Bundesrepublik die politischen Eliten unsicher, oft auch unanständig in Sachen Vergangenheit. Nicht nur Franz Josef Strauß (CSU) predigte, wir sollten unser Haupt nicht dauernd mit Asche bestreuen. Zum Glück löste das viel produktiven Widerspruch aus. Die Republik wurde konfliktträchtiger, aufgeweckter auch wegen der Vergangenheit. Konrad Adenauer, der "Vater" der deutsch-israelischen Wiederanknüpfung nach der Geburt des israelischen Staates, war gezwungen, Farbe zu bekennen, er musste fragen, wie "Wiedergutmachung" zumal gegenüber Israel überhaupt möglich sei. Zugleich aber sicherte er sich Mehrheiten: Schlussstrich, aber sofort! Daran hat Angela Merkel verständlicherweise nicht erinnert. Dass der Patriarch gegen Hitler stand, machte ihn unbefangener. So wurden die Volksgenossen umgewidmet in Bürger. Schon in seiner zweiten Antrittsrede, 1953, gab es keine "Ermordeten" mehr. Vom "gesunden nationalen Selbstbewusstsein" schwärmte bereits der Nachfolger Ludwig Erhard, 1963, die Zigarre qualmte, und die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt begannen. Der Kanzler vernebelte, die Richter leisteten den größten Beitrag zur Aufklärung überhaupt. Zweifel an der "Einmaligkeit" konnte es fortan nicht mehr geben.

Es kam zur Kanzlerschaft Kiesingers (1966) und dann Brandts (1969), die auf ihre Weise herausragen: Negativ die eine, positiv die andere. Mit Kiesinger kehrten die Deutschen zu einem Normalisierungsverständnis zurück, als hätte es Auschwitz nie gegeben. Als Beamter im Auswärtigen Amt hatte er Berichte über massenhafte Judenmorde "Gräuelpropaganda" genannt. Unfassbar. Kein Wort der Scham fiel. Ihn traf die Ohrfeige Beate Klarsfelds, der Deutschen aus Paris, der Vater ihres Mannes ermordet in Auschwitz.

Brandt verkörperte die andere Unmöglichkeit. Sollten die Deutschen ihren Normalitätsbegriff so weit revidiert haben, dass ein Exilant, Soldat gegen Hitler, Kanzler werden konnte? Aus israelischer Warte blieben bis zu Angela Merkel wohl alle Kanzler, auch Brandt, ambivalente Figuren, gemessen am "Lackmustest", dem Verhältnis zu Israel in kritischen Lagen. Aus deutscher Sicht freilich erschien Brandt als der Antinazi par excellence! Still hatte er sich über die Deutschen gewundert, die nach dem Krieg wortlos in die Gräber blickten, für die sie verantwortlich waren. Den "überlebenden deutschen Demokraten" fehlte die Kraft zum Neuanfang, das war ihm klar. Er wollte nicht bitter darüber werden, war es auch nicht - nur oft melancholisch. Er schuf Fakten. "Meine Regierung nimmt die Ergebnisse der Geschichte an", kommentierte er den Warschauer Vertrag. Wortlos kniete er vor dem Ghetto-Mahnmal in Warschau.

Brandts Freunde, voran Günter Grass, hielten auch nach 1989 daran fest: "Der Ort des Schreckens, als Beispiel genannt für das bleibende Trauma, schließt einen zukünftigen Einheitsstaat aus." Die Teilung als Normalität, als Strafe für Auschwitz! Noch so große Schuld einer Nation könne nicht "durch eine zeitlos verordnete Spaltung getilgt werden", erwiderte Brandt. Die Teilung wegen Auschwitz für "Normalität" zu halten galt ihm nicht als Sünde, so wenig wie ihm Pazifismus ehrenrührig erschien. Er aber blieb bei seinem "nationalen" Lebenstraum, der ihn gegen Hitler aufgebracht hatte. Für sich hatte Brandt einen unschuldigen, "linken Patriotismus" gefunden, den Joschka Fischer gerade sucht.

Brandt wollte nicht anklagen. Helmut Schmidt, Leutnant im Krieg, taugte nicht zum Ankläger. Konsequent hat er beteuert, von dem Ausmaß der Verbrechen nichts gewusst zu haben. Dennoch: Geschichtsvergessen war dieser Kanzler gewiss nicht. Auschwitz ist für ihn unvergänglich. Das werde noch in zweitausend Jahren so sein, pflegt er zu sagen. Und das ist keine Floskel, nicht bei ihm. Wie man in der Biografie Hartmut Soells lernen kann, ist eine Wunde aus dieser Erfahrung des großen Falschen in seinem Leben geblieben. Rigoros zog er politische Konsequenzen und fand seine Maßstäbe. Es bleibt aber ein unaufgelöster Rest, scheinbar eine Randfrage, die nichts von Schmidts Autorität nimmt: Die Sache mit dem jüdischen Großvater. Erst 1984 machte er das bekannt, damals war er nicht mehr Kanzler.

Sein Biograf begründet das lange Schweigen einfühlsam damit, Schmidt, mit dem Jüdischen unvertraut, sei diese Herkunft 1933 offenbart worden, also zu einer Zeit, "in der das Judesein zum Inbegriff des Negativen geworden war." Hartmut Soell fragt: "Musste er es nicht schon vor der Soldatenzeit überspielen, in die Tiefen seiner Psyche abdrängen?" Zweifel allerdings meldet der Autor an, wenn Schmidt in seinen Kindheitserinnerungen (1992) schreibt, seit dem Gespräch mit seiner Mutter über den jüdischen Großvater "war für mich entschieden, dass ich innerlich kein Nazi mehr werden konnte". "Äußerlich begeisterter Hitler-Junge, innerlich im Abseits?", fragt Soell. Schmidts ausdrücklicher Verzicht auf Geschichtspolitik, sein Vorbehalt gegenüber allem Utopischen - vermutlich ist das auch eine Antwort auf Idiosynkrasien in dem sehr deutschen Lebenslauf, der mindestens an einer Stelle nicht typisch war.

Schlichte Vergangenheitspolitik hingegen blieb dem Kanzler der Ungenauigkeit, Helmut Kohl (1982), vorbehalten. Die Debatte über das deutsche Selbstverständnis beherrschte die Köpfe in den achtziger Jahren, als wäre da vor der Einheit, die keiner vorausahnte, noch rasch etwas zu klären gewesen. Kohl ließ kaum einen Fehler aus. Ohne den Pazifismus hätte es Auschwitz nicht gegeben, funkte Heiner Geißler 1983 dazwischen. Kohl winkte das durch, wichtiger war ihm: Die Deutschen sollten bestätigt bekommen, dass sie gelernt hatten. François Mitterrand durfte es in Verdun, Ronald Reagan musste es per Handschlag über den SS-Gräbern in Bitburg attestieren. Kohl ließ den ratlosen Reagan um keinen Preis aus der Pflicht. Die zwölf Hitler-Jahre relativierten sich im diffusen Vaterlandsleuchten wie von allein. Wieder eine neue Unbefangenheit, "Wir sind wieder wer" à la Kohl. Mit keinem Wort nahm Kohl Stellung zum ideenpolitischen Skandal, den Ernst Nolte ausgelöst hatte mit seinem Versuch, die Deutschen von der Wahrheit Auschwitz zu befreien. Auch Weizsäckers Rede begriff er nicht als Chance – und als Rettung vor den Missverständnissen, denen er sich selber ausgesetzt hatte. Erst als ihm "die Geschichte" 1989 die Definitionsarbeit abnahm, gab Kohl Ruhe. Das Ende der Nachkriegszeit, das Adenauer als Ausweis der Normalisierung beschwor, nun war es da. Der Sinnstifter nahm den Hut, der Kanzler blieb und musste amerikanische Kommentatoren lesen, die "Auschwitz im Wüstensand!" schrieben, als eine deutsche Giftgasfabrik in Libyen entdeckt wurde. Die Paulskirche applaudierte Walser, Bubis nicht. Deutschland war respektiert, nichts war im Zweifel vergangen.

Könnte es sein, dass die Ära des "Beschweigens" wie auch die des "Sinnstiftens" zu Ende ist? Gelernt hat die Republik in 60 Jahren, dass Auschwitz konstitutiv bleibt, aber auf andere Weise: weil die Republik im Streit um den Zivilisationsbruch ihre eigene Geschichte gewann. Zu vermelden ist also, ohne Beschönigung, durchaus ein Erfolg. Auschwitz wird zwar "objektiv" historisiert, allein schon der Zeitläufte wegen. Im "kulturellen Gedächtnis" jedoch bleibt es gespeichert. Dafür steht nun Eisenmans Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins. Der Grundgedanke ist auch hier: Erinnern macht frei. "Historisieren" wird auch das Feld mit den Stelen, was nicht zwangsläufig relativieren heißt. Verknüpft mit dem "Ort der Erinnerung", wird Erinnern konkret. Für alle, die es wollen. Auch ein Grundmuster als Beleg könnte bleiben: Das Postnationale, weil es ein Zurück in die purgierte, vom Vergangenheitsballast befreite Nation nicht gibt.

Bleiben damit die eigenen Kinder ewig schuldbeladen im Schatten? Immer schon war diese Metapher falsch, sie wird noch falscher. Auschwitz rückt zeitlich weg, aber die Jungen können es auch näher an sich herankommen lassen, weil sie unbefangener sind. Sie können hören und lesen: Amos Oz beispielsweise, der in seinen Lebenserinnerungen schreibt, die Juden seien einmal das Herz Europas gewesen. Als "Europäer" verstanden zuallererst sie sich. Sie waren es auch. Das ist vergangen und bleibt.

Irgendwann vielleicht kann auch einmal ein deutscher Präsident zu einem Erinnerungstag x reden, wenn er unbedingt will und das für "Normalisierung" hält; und wenn die "Stunde der Bewährung", von der Angela Merkel sprach, Israel und seinen Freunden erspart bleibt. Bloß, was könnten verantwortliche Repräsentanten aus Berlin jemals anderes sagen an diesem deutschen Tatort in Polen, außer, dass Auschwitz einfach da ist. Geschehen. Einmalig, letztlich unverstehbar.

Fussnoten

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Gunter Hofmann, Jahrgang 1942, leitet das Berliner Büro der "ZEIT".