Einleitung
Deine Deutschen - hörte ich nach meiner Besprechung von Jörg Friedrichs "Der Brand" - bilden sich ein, das Geschichtsgedächtnis funktioniere wie ein Fußballspiel: Die Nationalmannschaften schießen gegeneinander Tore auf dem Rasen der kollektiven Erinnerung. Dann gehen sie friedlich unter die Dusche, und später streiten sie sich beim Bier, wer gewonnen hat. Vom ganzen Zweiten Weltkrieg haben sie die Einmaligkeit der deutschen Schuld für den Holocaust verinnerlicht. Der symbolische Kirkut in der Nähe des einstigen Hitler-Bunkers ist eine Erinnerung an die jüdischen Opfer deutschen Wahns, ein in Stein gehauener Beleg für die absolute moralische Niederlage. Doch Deutsche sind verbissene Fußballer. Mit einer Walhalla der Vertriebenen wollen sie nachträglich einen moralischen Ausgleich erreichen. Danach folgt vielleicht ein Mahnmal für die Opfer der alliierten "Terrorluftangriffe". Und schließlich wird sich - gewissermaßen in der Verlängerung, 60 Jahre nach Kriegsende - erweisen, dass die Deutschen die "Weltauswahl", also die Anti-Hitler-Koalition, moralisch doch noch 2:1 geschlagen haben. Die Sportmetapher ist schnoddrig und gehässig, doch sie spiegelt unverblümt die Verärgerung über einen Geschichtsrevisionismus wider, den viele Polen im neuen deutschen Umgang mit der Vergangenheit auszumachen glauben. Danach habe im "Historikerstreit" letztendlich doch Ernst Nolte und nicht Jürgen Habermas das letzte Wort. Für Piotr Machewicz vom Institut für Nationales Gedenken lieferte bereits die "Wehrmachtsausstellung", die in Deutschland als bilderstürmerische Demontage des Mythos von der "anständigen Wehrmacht" aufgenommen und heftig diskutiert wurde, einen Beleg für die Uminterpretierung der Geschichte des Krieges. Die Ausstellung beginne erst 1941, "als hätte Deutschland in Polen den Krieg mit Samthandschuhen geführt. Bald bekommen wir folgendes Geschichtsbild: Die Polen mordeten im Zweiten Weltkrieg Juden in Jedwabne und anderen Orten, und nach dem Krieg vertrieben sie brutal und aus eigener Initiative Deutsche. Was uns selbstverständlich erschien, verwischt sich langsam im Bewusstsein der Deutschen und Europäer"
Polen ist tatsächlich ein markanter Prüfstein für die deutsche Gedächtnispolitik im 21. Jahrhundert. Es war das erste Opfer der deutschen Aggression, das sich zur Wehr setzte, und damit vom ersten Tag an Mitglied der Anti-Hitler-Koalition. Es erlitt - relativ - die größten Verluste unter den Kriegsteilnehmern. Und ohne von den Siegermächten und somit auch den Deutschen als gleichberechtigt anerkannt zu werden, war es "Nutznießer" der schmerzlichen territorialen Verluste Deutschlands. Doch mittlerweile ist Polen in der deutschen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg peripher. Abiturienten und Studenten - behauptet Hans-Ulrich Wehler - wissen um die sechs Millionen ermordeten europäischen Juden, "aber wenn wir sagen, dass im Zweiten Weltkrieg jeder fünfte Pole sein Leben verlor und dass schon am Anfang des Krieges 800 000 Polen aus den von Deutschen besetzten Gebieten vertrieben wurden, dann treffen wir auf Unwissen und Verwunderung". Das Gedenken an den Überfall am 1. September 1939 und an die Verbrechen, welche die Nationalsozialisten an Polen begingen, schwinde. Festzustellen sei ein verstärktes Interesse für die eigene Vergangenheit, was zu einem neuen Opferkult und zu einer deutschen Leidensgeschichte führe. Und Hans Lemberg fügt hinzu, erst in etwa zehn Jahren werde man wissen, ob dieser Zug zur deutschen Selbstbemitleidung in einen neuen Nationalismus umschlage.
Die Beispiele für die Ausblendung der deutsch-polnischen Geschichte sind manchmal unbedeutend, manchmal beklemmend. Natürlich gibt es aufwendige deutsche TV-Dokumentationen zur polnischen Geschichte, Polnische Wochen in vielen Städten und subventionierte Buchübersetzungen. Sobald aber ein deutscher Fernsehreporter einen Dokumentarfilm dreht, in dem es nicht um Polen geht, der aber Polen streift, kommt es immer wieder zu ärgerlichen Einseitigkeiten, wie etwa in einer SWR-Reportage über die künftige EU-Grenze.
Die polnische Jagd auf solche "Unterlassungssünden" im deutschen Umgang mit der Geschichte mag obsessiv erscheinen. Nicht weniger obsessiv ist die wiederholte Beteuerung zumal jüngerer Deutscher, sie seien endlich "normal" und hätten das Recht, die eigenen Kriegsopfer zu betrauern, schließlich könne man von den Nachgeborenen zweiter und dritter Generation nicht erwarten, dass sie sich im Büßerhemd ständig Asche aufs Haupt streuten. Letztendlich gehe es den Polen oder Tschechen nur darum, ihren Opferstatus zu perpetuieren. Doch die Opfer seien bei weitem nicht immer so edel, wie sie sich nachträglich sähen. Und die Täter seien nicht immer nur leibhaftige Teufel, sondern Menschen, die einer Verführung durch die totalitäre Ideologie oder der Rache der Sieger zum Opfer fielen.
Es war Helga Hirsch, die - da sie vorzüglich Polnisch spricht und Polen intim kennt - mit ihren Reportagen über die unterlassene Abrechnung der Solidarnosc mit dem Kommunismus und besonders mit ihrem Buch "Die Rache der Opfer"
Inzwischen ist das "Zentrum" zu einem internationalen Zankapfel geworden. Im Frühjahr 2002 diskutierte man noch, ob Berlin oder Breslau der bessere Standort sei, ob ein "nationaler" oder ein "europäischer" Ansatz dem vereinten Europa des 21. Jahrhunderts gerechter werde. Ein Jahr später war es ein Politikum, das fast wie ein spätes Echo der alten Stürme um Willy Brandts "neue Ostpolitik" erschien. Da verblüffte die polnische Öffentlichkeit eine repräsentative Umfrage, die eine erstaunliche Empathie für das deutsche Leid belegte. 57 Prozent der befragten Polen halten Deutsche "so wie Polen, Juden und Roma" für Kriegsopfer (während nur 36 Prozent der Deutschen dieser Meinung sind). Zugleich sprechen sich 58 Prozent (aber nur 38 Prozent der Deutschen) überhaupt gegen ein Zentrum der Vertriebenen aus; und wenn, dann soll es lieber ein "nationales" in Berlin (26 Prozent der Polen, 33der Deutschen), kein "europäisches" außerhalb Deutschlands sein (16 Prozent der Polen, 24 der Deutschen).
Diese Umfrage empörte nicht wenige Kommentatoren. Einer der bekanntesten polnischen Publizisten sah das Übel im "frommen Versöhnungswerk"
Nun droht Deutschen und Polen ein regelrechter "Museumskrieg". Einer der Wegbereiter der deutsch-polnischen Verständigung, Wladyslaw Bartoszewski, der Häftling unter Hitler und unter Stalin war und 1995 als Außenminister Polens in einer großen Rede im Deutschen Bundestag auch das Leid der deutschen Vertriebenen beklagte, forderte in scharfem Ton eine dezidierte Reaktion auf ein "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin. Polen solle in Posen ein Museum der deutschen Germanisierungspolitik von der ersten Teilung Polens 1772 bis zum Ende des Krieges 1945 errichten. Sind also Deutsche und Polen wieder zurück im nationalen Zeitalter, ähnlich wie 1910, als man im zwischen Preußen, Österreich und Russland geteilten Polen einen Grunwald-Kult schuf, eine Erinnerung an 1410, als polnisch-litauische Heere die Hegemonie des deutschen Ordensstaates brachen?
Noch nicht. Der Stein des Anstoßes ist in Polen weniger die Erinnerung an die geflüchteten, vertriebenen und ausgesiedelten Deutschen. Ihr tragisches Schicksal und ihr kulturelles Erbe sind in Polen seit Jahren ein Thema der Publizistik, der wissenschaftlichen Forschung und vieler literarischer Werke. Wenn das "Zentrum gegen Vertreibungen" Emotionen erweckt, dann liegt das weniger am Gedenken als vielmehr am Urheber und Träger des Zentrums, der Lobby der Vertriebenen, die - aus polnischer Sicht - ihre Position gegenüber Polen nie aufgearbeitet hat. Jahrzehntelang von der polnischen Propaganda als Schreckgespenst aufgebaut, hat der BdV nach 1989, auch unter der Präsidentschaft von Erika Steinbach, die Positionen eines nationalen Egoismus nicht verlassen. Die Funktionäre des BdV waren noch 1990 gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Dann traten sie immer wieder mit rechtlichen, materiellen und moralischen Forderungen an Tschechien und Polen auf. Sie wetterten gegen die"Benesch-" und "Bierut-", nie aber gegen die"Stalin-Dekrete". Als Gralshüter der europäischen Erinnerung an die Vertreibungen im 20.Jahrhundert sind sie wenig glaubwürdig.
Die Debatte um das "Zentrum gegen Vertreibungen" ist nicht nur ein Teil des deutsch-polnischen oder eines deutsch-tschechischen Streites darum, was die nächsten Generationen der Deutschen über die deutsche und mitteleuropäische Geschichte wissen werden, sondern vor allem ein Aspekt des neu entfachten Erinnerungsbooms. Ist es "Geschichtsrevisionismus", empören sich die Nachgeborenen, wenn man die alliierten Bomberpiloten, die Luftschutzräume in "Gaskammern" (J. Friedrich) verwandelten, oder Russen, Polen und Tschechen, die Deutsche aus ihrer "angestammten Heimat" vertrieben, als Täter bezeichnet? Die Leidenserfahrungen der deutschen Zivilbevölkerung seien lange "tabuisiert" gewesen, es sei berechtigt, sie endlich auszusprechen. Nur ist die "Tabuisierung" eine mediengerechte Ausrede, ein Mythos. Selbst in der DDR waren weder der Bombenkrieg noch das Schicksal der "Umsiedler" und zuletzt sogar das der "Russenkinder" ein Tabu. In der Bundesrepublik gab es Bildbände, Dokumentationen, Romane und Spielfilme darüber. Dass viele Linke diese Seite des Krieges ausgeblendet haben mögen, ist dabei irrelevant, stellten sie doch nie eine Mehrheit in der deutschen Gesellschaft.
Viel erheblicher für die Neuentdeckung der Einzelschicksale, die sich weit im Osten abspielten, ist die Öffnung der Grenzen nach 1989. Man kann reisen und mit den Menschen sprechen. Und die Menschen dort, besonders die Polen in den "ehemals deutschen Gebieten", beginnen sich für die Geschichte ihre Region zu interessieren. Sie stehen in Breslau Schlange vor deutschen Bildern ihrer Stadt und bringen im pommerschen Trieglaff zusammen mit einem Vertriebenen, Rudolf von Thadden, in der Kirche eine zweisprachige Gedenktafel an: "Zur Erinnerung an die vielen Generationen deutscher Trieglaffer, die hier lebten und glücklich waren, und mit guten Wünschen für das Wohlergehen derer, die hier heute ihre Heimat haben." Dieser versöhnliche Ton wurde in einem Kommentar in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", in dem es hieß, "der Versuch, ein Vertreibungszentrum ohne und gegen die Vertriebenen zu errichten, erinnert an die sozialistische Methode, die Versöhnung mit den Brudervölkern zu verfügen"
Selbstverständlich ist es legitim, an das Leid der deutschen Zivilbevölkerung im und nach dem Krieg zu erinnern. Doch wie und wer? Es ist kein Geheimnis, dass in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre Dokumentationen der Vertreibungen gegen mögliche Reparationsforderungen zusammengestellt wurden: durch dieselben Experten, die nach 1939 eine brutale Germanisierungspolitik im Osten ideologisch begründet hatten. Aufgabe der Historiker ist es, wie Ute Frevert schreibt, "die jeweilige Gruppenerinnerung in ihren geschichtlichen Zusammenhang einzuordnen". Sie bezweifelt, ob die Kausalität in dem für Berlin projektierten "Zentrum gegen Vertreibungen" berücksichtigt wird: "Derzeit sehen die Pläne eher nach einer nationalen Nabelschau aus, die ihren Gegenstand isoliert, anstatt ihn zeitlich, räumlich und sachlich zu kontextualisieren."