Einleitung
Kein anderer Aspekt des Krieges hat in den vergangenen Monaten größere mediale Aufmerksamkeit erhalten als der alliierte Luftkrieg gegen deutsche Städte: öffentlich-rechtliche Fernsehreportagen zur besten Sendezeit, eine Flut von neuen Büchern, Stadtchroniken, Gedenkfeierlichkeiten, Zeitzeugenerinnerungen - und jüngst der politisch umkämpfte Erinnerungsmarathon in Dresden
Im Anschluss an das Buch von Jörg Friedrich
Schon frühzeitig ist dabei klar geworden, wie stark die Perzeption des Luftkrieges als "deutsches Tabu" weniger präzise Beschreibung als vielmehr selbst Teil einer der unterschiedlichen Erzählungen war, in denen nach 1945 der alliierten Kriegführung gedacht wurde. Dabei geriet schnell in Vergessenheit, dass Deutschland trotz der hohen Opferzahl keinesfalls ein "Monopol" auf die leidvolle Erfahrung von Bombennächten besaß. Das galt beispielsweise für Polen, die UdSSR und insbesondere für Großbritannien. Dort spielte die Erinnerung an die Nächte in den Londoner U-Bahnschächten schon während des Krieges eine zentrale Rolle als nationaler Referenzpunkt, als Abgrenzungsstrategie gegenüber dem Kriegsgegner und als massenwirksames Mobilisierungselement.
Welche unterschiedlichen Deutungsmuster des Luftkrieges dominierten in der Nachkriegszeit in beiden Ländern und waren dabei besonders wirkungsmächtig? Um diese Frage zu beantworten, richtet sich der Blick weniger auf die vielfältigen lokalen Erinnerungsformen an dieser Stelle.
Die deutsche Meistererzählung vom Luftkrieg
Mit Jörg Friedrich hat die Geschichte des Luftkrieges ihren zugleich sprachgewaltigsten und problematischsten Vertreter gefunden. Seine Darstellung spannt einen weiten Bogen: von der militärtechnischen Entwicklung über die strategische Entscheidung für das "moral bombing", von der Zerstörung deutscher Städte bis hin zur individuellen Verlust- und Leidensgeschichte der deutschen Bombenkriegsgeschädigten. Aus der Vielzahl lokaler Erinnerungsberichte, stadthistorischer Chroniken und Zeitzeugeninterviews komponiert Friedrich eine Geschichte des Luftkrieges, die sich nicht an der Bedeutung von Raum und Zeit, an systemstrukturellen Charakteristika der NS-Herrschaftsgeschichte, sondern an einem gleichsam naturgewaltigen und überzeitlichen "Totalen Krieg" als Daseinsform orientiert.
Friedrich inszeniert den Luftkrieg als Geschichte eines großen "Zivilisationsmassakers", als Kampf zwischen dem schutzlosen deutschen "Zivil"
Über die Fragwürdigkeit dieser Interpretation lässt sich vieles sagen.
Diese in unterschiedlichen Variationen äußerst einflussreiche Meistererzählung des Luftkrieges fand ihren frühesten, sogar staatlich sanktionierten Ausdruck in den "Dokumenten deutscher Kriegsschäden", deren erster Band 1958 erschien.
Das Ministerium stellte dem Werk zwei Bände voraus, welche die historischen Hintergründe analysieren sollten: eine Geschichte des Luftkrieges und eine Aufstellung der erlittenen kulturellen, wohnungsbaulichen und finanziellen Verluste des Deutschen Reiches. So nüchtern der darstellende Teil über weite Strecken war, unübersehbar blieb dennoch, wen man auf deutscher Seite für den ersten Schritt zur Gewalt verantwortlich machte: Großbritannien, das die "bewußte Überleitung zu Angriffen auf nicht-militärische Ziele" vollzogen habe. Und weiter hieß es: Dass Krieg und technischer Fortschritt für den Bombenkrieg verantwortlich seien, "dürfte feststehen - und daß jene ihn begannen und auf den Gipfel der Brutalität steigerten, die sich dem Gegner überlegen wähnten oder überlegen waren, ist ebenfalls nicht zu leugnen".
Damit war die Schuldfrage aus deutscher Sicht beantwortet. Die Dokumentation beließ es nicht bei dieser Feststellung. In einem eigenen Band sammelte man Berichte der ausländischen Presse, die gleichsam als "objektives" Korrektiv die hemmungslose Barbarei des Luftkrieges gegen Deutschland unterstreichen sollten. Ein weiterer Band enthielt Erfahrungsberichte von Betroffenen, Parteidienststellen und Behörden, die allesamt das Bild der solidarisch kämpfenden Schicksalsgemeinschaft bestätigten. Thematisiert wurde die persönliche Verlust- und Leidensgeschichte. Hinzu kam ein weiteres Motiv, das auch zahlreichen späteren Veröffentlichungen zur Luftkriegsgeschichte zugrunde lag: der "heldenhafte" Abwehrkampf kommunaler Funktionsträger gegen die äußere Bedrohung.
Generell spielt der Nationalsozialismus in den "Dokumenten deutscher Kriegsschäden", wie auch in anderen Veröffentlichungen der sechziger und siebziger Jahre, allenfalls am Rande eine Rolle - und wenn, dann nur als Ursache von administrativem Chaos oder als schematisches Herrschaftsmodell, von dem man sich abgrenzen wollte. Dabei standen das "deutsche Volk" auf der einen sowie Hitler und die Nationalsozialisten auf der anderen Seite.
Die Kontinuitätslinien dieser Selbstviktimisierung bis zu Jörg Friedrich und dem aktuellen Erinnerungsboom sind mit Händen zu greifen: die Ausklammerung des Luftkrieges aus der Geschichte des NS-Regimes; die Reduzierung des Verhältnisses von Kommune und Partei auf das einer reinen Konfliktgeschichte; die Dominanz der Opfer- und Verlustgeschichte und die Wahrnehmung des Luftkrieges als ein im Kern barbarischer, gescheiterter alliierter Akt der Grenzüberschreitung im Vernichtungskampf des "Totalen Krieges". Diese Interpretation prägte im Übrigen, wenn auch unter anderen Vorzeichen, ebenso die Wahrnehmung und offiziellen Deutungsmuster in der DDR. Dort gehörte der "angloamerikanische" Luftkrieg gegen deutsche Städte zu einem zentralen und staatlich sanktionierten Topos der Weltkriegsgeschichte, der kaum Unterschiede zwischen Nationalsozialisten und Westalliierten machte.
Von dieser Stoßrichtung war ein anderer großer Pfad der Luftkriegsgeschichte weitgehend frei. Die professionelle Militärgeschichte hat über viele Jahrzehnte hinweg wichtige Beiträge zur Geschichte von Strategie, Planung und Umsetzung des Luftkrieges geleistet.
Gleichzeitig war in den siebziger und achtziger Jahren das Bemühen groß, die engen deutschen Forschungsgrenzen zu überwinden und vor allem mit angelsächsischen Wissenschaftlern ins Gespräch zu kommen.
Ganz unverkennbar entstand so ein Trend, den Luftkrieg als Geschichte des "kleinen Mannes" zu erzählen, wohl auch als Folge der Debatte um die Alltagsgeschichte. So war die Frage nach der Erfahrungsgeschichte des Luftkrieges auch ein wichtiges Element desgroßen Oral-History-Projekts von Lutz Niethammer.
In den fünfziger Jahren berichtete vor allem die Erwachsenengeneration von ihren Erlebnissen. Dabei waren es nicht selten die Lokalzeitungen, die dazu aufriefen, die Erinnerungen aufzuschreiben. Heute sind es zumeist die Kinder und Jugendlichen des Luftkrieges, die sich zu Wort melden. Die Sammlungen von Einzelgeschichten über Bombenangriffe, Evakuierungen und Flakhelferschicksale sind zum Teil sehr ähnlich angelegt: Zumeist unkommentiert aneinandergereiht, bündeln sie die Erinnerungsfragmente. Von Erlebnissen in den Luftschutzkellern, von Traumatisierungen, die auch nach mehr als 60 Jahren noch zu spüren sind und die Menschen an den Rand des Zusammenbruchs führten, von Verschüttungen und familiären Verlusten, vom Krieg als jugendlichem "Abenteuer" bis hin zu genauen Beschreibungen der rassistischen Ausgrenzung und Hierarchisierung des Bunkerlebens reichen die Schilderungen.
Die historische Erinnerung in Großbritannien
Selbst ohne eine vergleichbar große Zahl an Gedenkfeierlichkeiten hat das Genre der Erinnerungssammlungen an den Luftkrieg auch in Großbritannien einen erheblichen Stellenwert im öffentlichen Gedächtnis. Denn obwohl der Grad der Gewalterfahrung im Vergleich zu Deutschland zumindest in der letzten Kriegsphase sehr viel geringer war, wurde in Großbritannien die Erinnerung an den Luftkrieg dennoch zu einem zentralen Referenzsystem nationaler Selbstvergewisserung - wenn auch unter anderen Vorzeichen. Dabei überlagerte die individuelle Erfahrung des Luftkrieges rasch die Debatte um die moralische Legitimität der Bombenangriffe gegen deutsche Städte, die angesichts der Katastrophenbilder aus Dresden zu erheblichen Zweifeln an der Strategie des "Bomber Command" in der letzten Kriegsphase geführt hatte.
An der Notwendigkeit der Bombardierung militärischer und industrieller Ziele hatten auch Kritiker wie der anglikanische Bischof von Chichester, George Bell, keinen Zweifel gelassen. Schließlich ging es darum, die Hitler-Barbarei zu besiegen. Doch gaben er und einige amerikanische Bischöfe zu bedenken, ob es angemessen war, ganze Städte dem Erdboden gleichzumachen.
Die Kriegserfahrungen der Jahre 1940/1941 bedeuteten mehr als nur einen Sieg in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.
Zahlreiche Filme knüpften in den vierziger und fünfziger Jahren an dieses Erzählmuster des "People's War" an und bedienten sich der Bilder, die bereits die Kriegspropaganda popularisiert hatte.
Diese Interpretation der Kriegs- und Luftkriegsgeschichte setzte andere Akzente als die "Sozialstaats-Triumphalisten", die in den fünfziger und sechziger Jahren die Geschichte der Sozialpolitik und der Attlee-Regierung schrieben und zu den tonangebenden Interpreten der Nachkriegszeit wurden.
Als in den späten sechziger Jahren die Kritik an der Konsenspolitik der Nachkriegsjahre lauter wurde und als angesichts sinkender Wachstumsraten und steigender Arbeitslosigkeit immer häufiger von der "englischen Krankheit" die Rede war, gerieten auch die bestehenden Deutungsmuster des Krieges in die Kritik. Historiker wie Angus Calder machten deutlich, dass der "People's War" mitnichten alle sozialen Ungleichheiten eingeebnet hatte und der mystische Schleier, der sich über das Jahr "1940" gelegt hatte, viele der ungelösten Probleme der Kriegszeit nur überdeckte.
Doch während diese Kritik auch auf die steckengebliebenen sozialstaatlichen Reformen der Labour Party zielte, ging es den Konservativen und seit Ende der siebziger Jahre vor allem Margaret Thatcher darum, die Erfahrungen des "Battle of Britain" als Legitimationsquelle ihres antietatistischen Generalangriffs auf die Konsenspolitik der Nachkriegsjahre umzudeuten, wobei "Konsens" aus ihrer Sicht nicht viel anderes meinte als den "sozialistischen Labour-Staat" Großbritanniens.
Dabei existiert schon seit Jahrzehnten ein Beispiel für eine andere Art von Erinnerungspolitik, für eine andere "Erzählung" des Krieges, die ihren Ausgangspunkt in Coventry hatte. Am 14. November 1940 flog die deutsche Luftwaffe einen schweren Angriff gegen die Industriestadt und zerstörte dabei auch die mittelalterliche Kathedrale St. Michael. Doch anders als die britische Kriegspropaganda, die ihre Angriffe gegen deutsche Städte als Vergeltung für Coventry definierte, deutete der Dompropst von St. Michael, Richard Howard, das Schicksal seiner Kirche anders: Die Angriffe seien ein böses Verbrechen gewesen, so der Probst in seiner landesweit von der BBC übertragenen Predigt am ersten Weihnachtsfeiertag 1940. Jedoch habe die Kathedrale trotz der Zerstörung ihre Schönheit und Würde behalten. Christus sei in ihren Herzen wiedergeboren. Deshalb solle die Gemeinde versuchen, so schwer es ihr falle, alle Gedanken an Vergeltung zu verbannen und die Kirche wiederaufzubauen. Sobald der Krieg zu Ende und die Tyrannei besiegt sei, müsse es darum gehen, "to try to make a kinder, simpler - a more Christ-Child like sort of world"
Was das bedeutete, zeigte sich bereits unmittelbar nach Kriegsende. In der Weihnachtspredigt 1946 wandte sich Howard an einen katholischen Pfarrer im zerstörten Hamburg. Wenn er das Jesuskind sehe, fielen ihm zwei Dinge ein, die er seinem Gegenüber sagen möchte: "The First word is 'Forgiveness' (...). The second word is this - 'New Birth'. Here in Coventry we have 20 000 new homes to build, a whole new city centre and a Cathedral to restore. Your task is even greater. But more important still, there is a new spirit to be born - new courage, new faith, new unselfishness, new pity for each other's suffering, new family love and purity."
Die Versöhnungsbotschaft, die von der neuen Kathedrale ausgehen sollte, war keineswegs unumstritten. Streit entzündete sich beispielsweise an den Plänen für die "Kapelle der Einheit" - einen Teil der Kirche, der nicht dem Domkapitel, sondern dem "Christenrat von Coventry" und damit allen Konfessionen unterstehen sollte. Für deren Bau warb die Gemeinde überall um Spenden, auch in Deutschland. Doch als Bundespräsident Theodor Heuss 1958 Geld für die Fenster der Kapelle spendete und sich auch Kanzler Konrad Adenauer am Fonds für den Wiederaufbau beteiligte, gab es vor allem in der konservativen Presse nicht wenige Stimmen, welche die deutschen Spenden als "Blutgeld" bezeichneten.
Während viele bombardierte britische Städte vor allem die lokale Erinnerung an die Bombenangriffe wach hielten, setzte die starke anglikanische Kirchengemeinde auf den umfassenden, nationale Grenzen sprengenden christlichen Versöhnungsgedanken. Bereits 1960 entstand ein International Center of Reconciliation, das von Jugendlichen der "Aktion Sühnezeichen" mit aufgebaut und vom EKD-Ratsvorsitzenden Otto Dibelius eingeweiht worden war. 1963, der Aufbau der Kathedrale war abgeschlossen, entstand im Anschluss an die stark debattierte Veröffentlichung von David Irvings Buch über die Bombardierung Dresdens
Dies war der Auftakt für zahlreiche Gedenk- und Versöhnungsinitiativen der beiden (bereits seit 1956 offiziell verbundenen) Partnerstädte, die bis zur Spende des goldenen Turmkreuzes für die wiederaufgebaute Frauenkirche durch den British Dresden Trust im Sommer 2004 reichten.
Selbst ernannte Tabubrecher
Die Erinnerung an den Luftkrieg war in beiden Ländern sich wandelnden politischen Anpassungsprozessen unterworfen. Ähnlich wie in Großbritannien, wo die innere Zerrissenheit der Kriegsgesellschaft lange Zeit von der propagandistischen Inszenierung des "Mythos von 1940" überwölbt wurde, diente der Luftkrieg in Deutschland der Konstruktion nationaler Identität, zu der neben der Täter- auch die Opferseite des Krieges gehören sollte. Wo dies dazu führte, verdrängte Traumata und die "Privatisierung der Kriegsfolgen" offen zu legen, war und ist dies ein wichtiger Prozess der Erweiterung des kollektiven Gedächtnisses.
Gleichzeitig scheint aber ein Prozess in Gang zu kommen, an dem sich vor allem selbst ernannte Tabubrecher beteiligen. Stillschweigend verschwindet dabei der nationalsozialistische Terror aus der deutschen Geschichte und geht in einem pseudo-anthropologischen Räsonieren über die Gesetze des Krieges im Allgemeinen und die deutschen Opfer im Besonderen auf. Dieser neue Berufsstand moderner Geschichtsdeuter hat derzeit Konjunktur - in Deutschland mehr als in Großbritannien.