Einleitung
Im Laufe des Jahres 1924 mehrten sich die Anzeichen für eine Stabilisierung der Weimarer Republik. Tatsächlich war das folgende Jahrfünft durch außen- und reparationspolitische Erfolge, wirtschaftlichen Aufschwung sowie gesellschafts- und sozialpolitische Fortschritte gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund beruhigte sich die innenpolitische Lage, während Kunst und Kultur eine Blütezeit erlebten. Diese erfreuliche Gesamtentwicklung wurde jedoch immer wieder durch gegenläufige Tendenzen infrage gestellt.
Außenpolitische Erfolge
Eine erste Entspannung in der Reparationsfrage brachte der von der alliierten Reparationskommission und Deutschland angenommene "Dawes-Plan". Seine wichtigsten, von dem US-Bankier Charles Dawes entwickelten Grundsätze lauteten:
Die deutsche Wirtschaft sollte sich erholen, um die Reparationsleistungen an die Gläubiger zu gewährleisten – nur so konnten diese ihre Kriegsschulden an die USA zurückzahlen. Politisch motivierte Sanktionen wie die Ruhrbesetzung sollte es nicht mehr geben.
Die jährliche Belastung sollte 1924 eine Milliarde Reichsmark (RM) betragen und bis September 1928 auf die "Normalrate" von 2,5 Milliarden RM ansteigen. Besaß Deutschland nicht genügend Devisen für die Umwandlung der Jahresrate in die Währungen der Empfängerländer, durfte die Zahlung niedriger ausfallen ("Transferschutz"). Als Starthilfe wurde ein US-Kredit über 800 Millionen RM gewährt, sodass von der ersten Jahressumme nur 200 Millionen RM aus Eigenmitteln aufgebracht werden mussten.
Ein alliierter Reparationsagent mit Sitz in Berlin, der US-Finanzexperte Parker Gilbert, übernahm die Organisation der Reparationszahlungen.
Zeitliche Begrenzung und endgültige Höhe der Reparationen blieben weiterhin offen; dennoch waren die neuen Bedingungen wesentlich günstiger als die des Londoner Ultimatums vom Mai 1921. Am 1. September 1924 trat der Dawes-Plan in Kraft; die Ruhrbesetzung wurde bis September 1925 wieder aufgehoben.
Verträge von Locarno
Im Zuge der durch den Dawes-Plan bewirkten Verbesserung des politischen Klimas tagten vom 5. bis 16. Oktober 1925 in dem schweizerischen Kurort Locarno die Regierungschefs und Außenminister Deutschlands, Großbritanniens, Frankreichs, Belgiens, Italiens, Polens und der Tschechoslowakei, um Abkommen zur Stabilisierung des Friedens in Europa zu schließen – Voraussetzung für weitere amerikanische Kredite. In einem "Garantiepakt" erklärten Deutschland, Frankreich und Belgien sowie England und Italien (als Garantiemächte) die deutsche Westgrenze für "unverletzlich". Dafür war das Reich künftig gegen territoriale Sanktionen geschützt. Die Locarno-Verträge waren weitgehend das Werk der Außenminister Deutschlands und Frankreichs, Gustav Stresemann und Aristide Briand; sie wurden dafür am 10. Dezember 1926 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Freilich war Stresemann – wie andere europäische Staatsmänner seiner Zeit auch – stets beides: "ein kühl kalkulierender Realpolitiker und ein nationaler Machtpolitiker" (Eberhard Kolb). Zwar verpflichtete sich das Reich in Schiedsverträgen mit Polen und der Tschechoslowakei zum Verzicht auf gewaltsame Grenzveränderungen, aber eine Grenzgarantie wie im Westen lehnte Stresemann ausdrücklich ab. Ein "Ostlocarno" hätte seine Strategie gefährdet, Deutschland schrittweise wieder zur Großmacht werden zu lassen und zu gegebener Zeit Polen durch wirtschaftlichen Druck zu Grenzverhandlungen zu bewegen. Locarno brachte eine spürbare Verbesserung der deutschen Position in der internationalen Politik. Greifbarstes Ergebnis war, neben dem Abzug der britischen Besatzungstruppen aus der Kölner Zone bis Januar 1926, die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (mit ständigem Ratssitz) am 10. September 1926. Dennoch verweigerten Nationalkonservative und Rechtsradikale ebenso wie die radikale Linke ihre Zustimmung zu den Locarno-Verträgen. Wetterten DNVP und NSDAP gegen die Preisgabe deutscher Gebiete im Westen, so befürchtete die KPD die Einbeziehung Deutschlands in eine gemeinsame Front der kapitalistischen Länder gegen die Sowjetunion. Nach dem Austritt der DNVP aus der im Januar 1925 gebildeten "Bürgerblock"-Regierung Luther (Amtszeit: Januar 1925-Mai 1926) konnten die Locarno-Verträge nur mit Hilfe der oppositionellen SPD ratifiziert werden. Als Ergänzung bzw. Gegengewicht zum Locarno-Pakt schloss Deutschland mit der Sowjetunion am 24. April 1926 den "Berliner Vertrag" über gegenseitige Neutralität im Falle eines Krieges mit dritten Staaten. Demzufolge durften bei einem russisch-polnischen Krieg französische Truppen Polen nicht über deutsches Territorium zu Hilfe kommen.
QuellentextStresemanns außenpolitische Ziele
Vertraulicher Brief Stresemanns an Kronprinz Wilhelm vom 7. September 1925 (1932 bekannt geworden).
[...] Die deutsche Außenpolitik hat nach meiner Auffassung für die nächste absehbare Zeit drei große Aufgaben: Einmal die Lösung der Reparationsfrage in einem für Deutschland erträglichen Sinne und die Sicherung des Friedens, die die Voraussetzung für eine Wiedererstarkung Deutschlands ist.
Zweitens rechne ich dazu den Schutz der Auslandsdeutschen, jener 10-12 Millionen Stammesgenossen, die jetzt unter fremdem Joch in fremden Ländern leben.
Die dritte große Aufgabe ist die Korrektur der Ostgrenzen: die Wiedergewinnung von Danzig, vom polnischen Korridor und eine Korrektur der Grenze in Oberschlesien.
Im Hintergrund steht der Anschluss von Deutsch-Österreich [...]. Wollen wir diese Ziele erreichen, so müssen wir uns aber auch auf diese Aufgaben konzentrieren. Daher der Sicherheitspakt, der uns einmal den Frieden garantieren und England sowie, wenn Mussolini mitmacht, Italien als Garanten der deutschen Westgrenze festlegen soll. Der Sicherheitspakt birgt andererseits in sich den Verzicht auf [...] Rückgewinnung Elsass-Lothringens, [...] der aber insoweit nur theoretischen Charakter hat, als keine Möglichkeit eines Krieges gegen Frankreich besteht. [...] Zudem sind alle Fragen, die dem deutschen Volk auf dem Herzen brennen, [...] Angelegenheiten des Völkerbundes [...].
Die Frage des Optierens zwischen Osten und Westen erfolgt durch unseren Eintritt in den Völkerbund nicht. [...] Ich warne vor einer Utopie, mit dem Bolschewismus zu kokettieren.
[...] Das Wichtigste ist [...] das Freiwerden deutschen Landes von fremder Besatzung. Wir müssen den Würger erst vom Halse haben. [...] Deshalb wird die deutsche Politik [...] in dieser Beziehung zunächst darin bestehen müssen, zu finassieren (Tricks anzuwenden – Anm. der Red.) und den großen Entscheidungen auszuweichen.
Ich bitte E. K. H. (Eure Kaiserliche Hoheit – Anm. d. Red.), [...] diesen Brief selbst – den ich absichtlich nicht unterzeichne, damit er nicht, auch nur aus Versehen, in fremde Hände fällt – freundlichst unter dem Gesichtspunkt würdigen zu wollen, dass ich mir natürlich in allen meinen Äußerungen eine große Zurückhaltung auferlegen muss. [...]
Gustav Stresemann, Vermächtnis, Bd. II, hg. von Henry Bernhard, Ullstein, Berlin 1932, S. 553 ff.
Young-Plan
Auf der Basis des Dawes-Plans und der Locarno-Verträge kam es in den folgenden Jahren zu weiteren Verbesserungen des deutsch-französischen Verhältnisses, insbesondere der Handelsbeziehungen. Auch nahm das internationale Ansehen Deutschlands nach seinem Eintritt in den Völkerbund zu. Der "Briand-Kellogg-Pakt" – benannt nach den Außenministern Frankreichs und der USA – vom 27. August 1928 war auch Stresemanns Werk. Bis Ende 1929 traten bereits 54 Staaten diesem Abkommen zur Kriegsächtung bei. Als sich Ende 1928 abzeichnete, dass die Umstellung der jährlichen Reparationszahlungen auf die "Normalrate" von 2,5 Milliarden RM die deutsche Zahlungsfähigkeit überforderte, drängte die seit Ende Juni amtierende Regierung der Großen Koalition unter Reichskanzler Hermann Müller (SPD) auf eine endgültige Regelung der Reparationsfrage zu erträglichen Bedingungen. Nach langen und schwierigen Verhandlungen legte der US-Wirtschaftsexperte Owen D. Young einen Plan vor, der folgende Neuerungen enthielt:
Die Begrenzung der Reparationsleistungen auf 112 Milliarden RM, zahlbar innerhalb von 59 Jahren (das heißt bis 1988).
Die Herabsetzung der Jahresraten: Sie sollten in den ersten 37 Jahren allmählich von 1,7 auf 2,1 Milliarden RM ansteigen und danach den jährlichen Kriegsschulden-Rückzahlungen der Alliierten an die USA angepasst werden. Grundsätzlich waren jährlich 600 Millionen RM in Devisen zu zahlen – das heißt ohne "Transferschutz".
Die Abwicklung der Zahlungen in souveräner deutscher Verantwortung über eine "Bank für internationalen Zahlungsausgleich" in Basel. Die alliierte Reparationskommission und der Reparationsagent stellten ihre Tätigkeit ein.
Die vorzeitige Räumung des Rheinlandes durch die Alliierten bis zum 30. Juni 1930 (statt 1935) – ein außenpolitischer Triumph, den Stresemann nicht mehr erlebte.
Mochte die Aussicht auf Reparationszahlungen bis 1988 zunächst erschrecken, so konnte doch kein Zweifel daran bestehen, dass der "Young-Plan" gegenüber allen bisherigen Regelungen eine weitere deutliche Verbesserung darstellte.
Wirtschaftsentwicklung
Währungsreform, Dawes-Plan und ausländische Kredite bewirkten einen beträchtlichen Wirtschaftsaufschwung. Produktion, Konsum und Volkseinkommen nahmen zwischen 1924 und 1929 stetig zu. Schwerindustrie (Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung), Maschinenbau und Textilindustrie, vor allem aber elektrotechnische, chemische und optische Industrie sowie neue Industriezweige wie Automobil- und Flugzeugbau, Messing-, Aluminium- und Kunstseideherstellung, Film und Rundfunk konnten ihre Produktion erheblich steigern. Technische Großprojekte wie das Luftschiff "Graf Zeppelin" oder das Verkehrsflugzeug "Dornier DO X" demonstrierten die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie. Bereits 1926 übertraf der Warenexport den von 1913. Da der Aufschwung den Verteilungsspielraum erweiterte, kam er auch Arbeitern, Angestellten und Beamten zugute. Dabei half die 1923 eingeführte, arbeitnehmerfreundlich gehandhabte staatliche Zwangsschlichtung als letzte Instanz bei Tarifkonflikten. 1928/29 erreichten Industrieproduktion und Löhne insgesamt wieder das Vorkriegsniveau – bei deutlich verringerter Wochenarbeitszeit. Der Reichshaushalt war, trotz der Reparationsbelastungen, stets annähernd ausgeglichen.
QuellentextKonzentrationsbewegung
Die Ursache der bald nach dem Kriegsende in der deutschen Eisenindustrie einsetzenden Konzentrationsbewegung war Rohstoffmangel. Durch den Versailler Vertrag wurde mit einem Federstrich eine Strukturänderung geschaffen, die der deutschen eisenschaffenden Industrie mit einem Schlage ein anderes Gepräge gab: Die Verbindung der rheinisch-westfälischen Werke mit den lothringischen Betrieben, die in dem gegenseitigen Austausch von Ruhrkohle und Koks gegen lothringische Erze und Walzwerksprodukte zum Ausdruck kam, wurde aufgehoben; in Oberschlesien erstreckten sich die Zerstörungen durch die neuen Grenzziehungen sogar auf das Betriebsverhältnis der Werke, die in ihrer technischen Einheit auseinandergerissen wurden. [...]
Es mussten also neue Querverbindungen nach der Rohstoffseite wie nach der Seite der weiterverarbeitenden Industrie geschaffen werden. [...] Auch die Verarbeitungs- und Verfeinerungsindustrie, häufig sogar die Fertigungsindustrie, wurden in die Zusammenschlussbewegung einbezogen. Das größte Beispiel dieser vertikalen Konzernbildung ist die unter Führung von Hugo Stinnes erfolgte Gründung des Elektromontankonzerns, der Rhein-Elbe-Siemens-Schuckert-Union. Unter dem Druck der Rohstoffknappheit wurde der –in seinen Anfängen bis in die Vorkriegszeit zurückreichende – Typus des "gemischten Betriebes" in der Eisenindustrie vorherrschend. [...]
Während in den ersten Nachkriegsjahren Rohstoffsicherung die maßgebende Rolle bei der Konzernbildung gespielt hatte, war jetzt Rohstoff reichlich vorhanden. Der immer drückender werdende Absatzmangel forderte gebieterisch eine Verringerung der Gestehungskosten, um dem Weltmarkt gegenüber konkurrenzfähig zu werden; [...]. Die mit größter Energie aufgenommene technische Rationalisierung der einzelnen Betriebe erwies sich als nicht ausreichend [...]; aber auch der gewaltige Kapitalbedarf, der durch die technische Umstellung der Betriebe hervorgerufen wurde, zwang zu einer Verstärkung der Betriebsgrundlagen durch Zusammenfassung gleichartiger Produktionseinheiten, zu horizontalen Zusammenschlüssen im Wege der Fusion. [...]
Die Angliederung gleichartiger Produktionsstätten gab den Großkonzernen die Möglichkeit, die Erzeugung auf die günstigst gelegenen und bestgeeigneten Betriebe zusammenzulegen und dafür weniger aussichtsreiche Betriebe durch Stilllegung aus dem Produktionsprozess auszuschalten. [...]
Wirtschaftsdienst, Heft 41 vom 10. Oktober 1930, S. 1746-1752 in: Werner Abelshauser/Anselm Faust/Dietmar Petzina (Hg.), Deutsche Sozialgeschichte 1914-1945, C. H. Beck, München 1985, S. 25 ff.
Krisenanfälliger Aufschwung
Gleichwohl blieben die Wachstumsraten der Industrieproduktion und des Außenhandels hinter denen anderer Industrieländer zurück. Außerdem gab es eine Reihe bedenklicher Trends:
Das Wirtschaftswachstum war ungleichmäßig verteilt; zum Beispiel konnte die Schwerindustrie mit der Chemie- und Elektroindustrie nicht Schritt halten.
Die Wirtschaftskonzentration nahm weiter zu. Bereits 1926 entfielen auf 16 Prozent der Aktiengesellschaften 66 Prozent des Aktienkapitals. Im Bergbau und in der Stahlindustrie dominierten Konzerne. 1925 entstand der weltgrößte Chemiekonzern ("I. G. Farbenindustrie AG"), 1926 der größte europäische Montankonzern ("Vereinigte Stahlwerke"). Monopolpreise für Rohstoffe und Halbfabrikate machten der verarbeitenden Industrie zu schaffen.
Wettbewerbsbedingte Rationalisierungen wie die Einführung der Fließbandarbeit nach dem Vorbild der Ford-Werke in den USA gefährdeten immer mehr Arbeitsplätze von Arbeitern und zunehmend auch von kleinen und mittleren Angestellten. Schon vor der Weltwirtschaftskrise lag die Zahl der Arbeitslosen durchschnittlich bei 1,4 Millionen (circa 6,5 Prozent).
Die Landwirtschaft arbeitete vielfach unrentabel und war nach ihrer inflationsbedingten Entschuldung bald wieder verschuldet. Das galt sowohl für die Kleinbauern in Mittel-, Südwest- und Süddeutschland als auch besonders für die ostelbischen Großagrarier. Ab 1927 befand sich die Landwirtschaft infolge einer weltweiten Überproduktion, die mit einem anhaltenden Verfall der Erzeugerpreise (besonders für Schweine und Roggen) einherging, in einer Dauerkrise.
Die Auslandsverschuldung (vor allem bei den USA) erreichte 1929 einen Gesamtumfang von 25 Milliarden RM; die kurzfristige Verschuldung betrug 12 Milliarden RM. Ein Abzug der kurzfristigen, von den deutschen Banken aber oft langfristig weitervergebenen Auslandskredite konnte verheerende Folgen haben.
Die expansive Kreditpolitik der Großbanken und ihre oft riskanten Spekulationen mit Wertpapieren waren nicht ausreichend durch Eigenkapital und liquide Mittel abgesichert, denn private Haushalte und Unternehmen verspürten nach der Inflationserfahrung von 1923 wenig Neigung zum Sparen bzw. zur Kapitalbildung.
Die Zentralbank (Reichsbank) konnte damals nur mittels Diskontpolitik (Verteuerung bzw. Verbilligung der Kredite, die sie den Privatbanken gewährte) das Wirtschaftsgeschehen beeinflussen. Über die Mindestreservenpolitik (Erhöhung bzw. Senkung der Geldschöpfung und Kreditgewährung der Geschäftsbanken) sowie die Offenmarktpolitik (An- und Verkauf von Wertpapieren zur Beeinflussung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage) verfügte sie noch nicht.
Das Finanzgebaren der öffentlichen Hände gab Anlass zur Sorge. Von 1926 bis 1929 stiegen die jährlichen Ausgaben von Reich, Ländern und Gemeinden zusammen von 17,9 auf 24,3 Milliarden RM. Die Kommunen finanzierten bis zu zwei Drittel ihrer Infrastrukturmaßnahmen unsolide mit Hilfe der Auslandsanleihen.
Demnach fand eine fundamentale wirtschaftliche Stabilisierung in den Jahren 1924 bis 1929 nicht statt; der Wirtschaftsaufschwung wurde mit einer erheblichen "hausgemachten" Krisenanfälligkeit erkauft.
Gesellschaft im Wandel
Nach den Einschnitten durch Kriegseinwirkungen und Gebietsverluste erhöhte sich die Bevölkerungszahl im Deutschen Reich zwischen 1925 und 1933 um etwa 2,8 Millionen, sodass sie am Ende wieder den Vorkriegsstand von rund 65 Millionen erreichte. Davon waren knapp zwei Drittel Protestanten und annähernd ein Drittel Katholiken; der Anteil der Juden sank von 0,9 auf 0,8 Prozent. Im selben Zeitraum hielten die für hochindustrialisierte Gesellschaften typische Landflucht und Verstädterung weiter an. Der Bevölkerungsanteil der Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern nahm von 35,6 auf 32,9 Prozent ab, während der der Großstädte (über 100.000 Einwohner) von 26,8 auf 30,4 Prozent anstieg. Parallel dazu vollzog sich ein Rückgang der Erwerbspersonen in der Landwirtschaft von 30,5 auf 28,9 Prozent, in Industrie und Handwerk von 42,1 auf 40,4 Prozent, während der Dienstleistungsbereich von 27,4 auf 30,7 Prozent zunahm.
Die Weimarer Republik erbte vom Kaiserreich eine hochdifferenzierte, hierarchisch gegliederte Industriegesellschaft mit ausgeprägten schicht-, geschlechts- und generationsspezifischen Strukturen sozialer Ungleichheit hinsichtlich Einkommens- und Vermögensverteilung, Berufsbedingungen und familiären Lebensverhältnissen. In manchen Bereichen vollzog sich jedoch in den 1920er Jahren ein beträchtlicher Wandel.
Oberschichten
Zur alten Oberschicht gehörten adlige und bürgerliche Großagrarier, Wirtschaftsbürgertum (darunter immer mehr angestellte "Manager" von Aktiengesellschaften), Bildungsbürgertum, (überwiegend adliges) höheres Beamtentum und Offizierskorps. Sie hatte durch die Revolution von 1918/19 ihren unmittelbaren Zugang zur politischen Macht weitgehend verloren. Unter dem aus ihren Reihen stammenden Reichspräsidenten, dem Generalfeldmarschall a. D. Paul von Hindenburg, gewann sie ihn nach 1925 allmählich zurück. Mit dem großagrarischen "Reichslandbund" und dem schwerindustriell dominierten "Reichsverband der deutschen Industrie" (RDI) verfügte sie über die beiden mächtigsten Interessenverbände. Politisch wurde der protestantische Teil der alten Oberschicht hauptsächlich durch DNVP, DVP und (in geringerem Maße) DDP vertreten; der katholische Teil orientierte sich am Zentrum. Neben die traditionelle Elite schob sich eine durch die breite Einführung der parlamentarischen Demokratie erzeugte "neue politische Oberschicht" (Hagen Schulze): Regierungsmitglieder und Parlamentarier, von denen rund drei Viertel aus sozialen Aufsteigern vor allem aus den Mittel- und Unterschichten bestanden – einer der Gründe für die Verachtung, die die alte Oberschicht dem Parlamentarismus entgegenbrachte. Das bekannteste Beispiel ist Reichspräsident Friedrich Ebert, ein gelernter Sattler, der sich bis zum Staatsoberhaupt hocharbeitete. Vor allem aus den Reihen von SPD, DDP und Zentrum kam die neue politische Oberschicht.
Mittelschichten
Die Mittelschichten umfassten zum einen den "alten Mittelstand": selbstständige Handwerker und Einzelhändler, kleine und mittlere Unternehmer, freie (akademische) Berufe und Bauern, nebst ihren mithelfenden Familienangehörigen – überwiegend Kleinbetriebe mit weniger als fünf Beschäftigten. Die eigentumsorientierten, statusbewussten selbstständigen Mittelständler fühlten sich stets zwischen Kapital und Arbeit eingeklemmt, weil sie im Wettbewerb mit Großunternehmen standen und sich gleichzeitig von den Lohnforderungen der Gewerkschaften bedrängt sahen. Der Verlust ihrer Ersparnisse durch die Inflation 1923 bedeutete für sie eine kollektive traumatische Erfahrung, die mehr noch als Versailler Vertrag und Dolchstoßlegende ihr Vertrauen in den demokratischen Staat untergrub. Zum anderen hatte sich bereits im Kaiserreich ein "neuer Mittelstand" – mittlere und kleine Angestellte und Beamte – herausgebildet, der aufgrund der allgemeinen Bürokratisierungstendenz in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat zunahm. Die Berufssituation der Angestellten näherte sich im Gefolge der Rationalisierungswelle in der deutschen Industrie in den 1920er Jahren hinsichtlich der Arbeitsbedingungen (Großraumbüros) und der Arbeitsplatzsicherheit (wachsende Arbeitslosigkeit, besonders bei älteren Angestellten) derjenigen der Arbeiter immer stärker an. Umso verbissener jedoch grenzten sich die Angestellten von den Arbeitern ab, unter anderem durch eigene Versicherungen und durch Verbände, deren politisches Spektrum vom SPD-nahen AfA-Bund ("Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände") bis zum "Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband" (DNHV) reichte. Ihr eher an den Arbeitgebern als an der Arbeiterschaft orientiertes berufsständisches Sonderbewusstsein war in Deutschland ausgeprägter als in vergleichbaren Industrieländern. Charakteristisch für alte und neue Mittelschichten war das breite Spektrum der von ihnen bevorzugten Parteien. Traditionell bildeten sie den Kern des politischen Liberalismus (auch Katholizismus); man wählte aber auch die Deutschnationalen, mittelständisch orientierte Kleinparteien oder regionale Parteien. Diese politische "Heimatlosigkeit" führte zum allmählichen Niedergang der beiden liberalen Kernparteien DDP und DVP.
Unterschichten
Zu den Unterschichten zählten Industrie- und Landarbeiter, Handwerksgesellen und Lehrlinge, Knechte und Mägde, Hausangestellte, Arbeitslose, Rentner und Invaliden. Indus-triearbeiter stellten gut drei Fünftel dieses Gesellschaftssegments. Katholische Arbeiter standen der Zentrumspartei und ihren christlichen Gewerkschaften nahe. Die von der Revolution 1918/19 kaum berührten Landarbeiter blieben eher konservativ orientiert. Die übrigen Unterschichten bildeten das soziale Fundament der Sozialdemokratie und des Kommunismus. Ältere Arbeiter und Facharbeiter fühlten sich eher der SPD und dem ihr nahe stehenden "Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund" (ADGB) verbunden, Jungarbeiter, ungelernte Arbeiter und Arbeitslose eher der KPD. SPD, KPD und Zentrum vermochten ihre Anhänger in ein dicht geknüpftes Netz aus Parteigliederungen, Selbsthilfeorganisationen, Sport- und Freizeitvereinen, Gaststätten, Bildungseinrichtungen und ein eigenes Pressewesen einzubinden. Sozialwissenschaftler sprechen daher von "sozialmoralischen Milieus" (Rainer M. Lepsius) oder politischen "Solidargemeinschaften" (Peter Lösche), beim kommunistischen Milieu sogar von einem abgedichteten "selbstständigen Lager innerhalb der Gesamtgesellschaft" mit einer ausgeprägten "Lagermentalität" (Oskar Negt/Alexander Kluge).
Frauen
Schicht- bzw. milieuspezifische Unterschiede wurden teilweise von geschlechts- und generationsspezifischen überlagert. Frauen blieben trotz Artikel 109 WV (staatsbürgerliche Gleichheit) und 119 WV (eheliche Gleichberechtigung) benachteiligt, da die Gesetzgebung nicht angepasst wurde. So durften verheiratete Frauen, wie schon im Kaiserreich, nur mit Genehmigung des Ehemannes einen Beruf ausüben. Die Erwerbstätigkeit einer Frau galt allgemein als Übergangsstadium bis zur Ehe, in der ihr dann die Hausarbeit und die Kindererziehung zufielen. 1925 waren nur 35,6 Prozent der Frauen erwerbstätig (Männer 68 Prozent), davon jede Zehnte als Hausgehilfin ohne soziale Sicherung und mit überlangen Arbeitszeiten. In der Industrie erhielten Hilfs- und Facharbeiterinnen im Durchschnitt nur zwei Drittel der Männerlöhne; in Krisenzeiten wurden sie stets als erste entlassen. Über diese traditionelle Rollenvorstellung wies das von der Werbung propagierte Bild der "neuen Frau" – berufstätig, unabhängig, selbstbewusst, attraktiv, modisch gekleidet – bereits hinaus. Es bezog sich vor allem auf weibliche Angestellte, deren wachsender Anteil an der Angestelltenschaft 1925 bereits 12,6 Prozent betrug. Zwischen 1919 und 1932 stieg auch der Anteil der Studentinnen von sieben auf 16 Prozent. Leitende Positionen blieben Frauen aber in der Regel verwehrt. Weder die weiblichen Abgeordneten in den Parlamenten (durchweg weniger als zehn Prozent) noch die bürgerliche oder proletarische Frauenbewegung erreichten in den zwanziger Jahren nennenswerte Fortschritte.
QuellentextAlltag einer Arbeiterin
Unter dem Motto "Mein Arbeitstag – Mein Wochenende" schrieb 1928 das Arbeiterinnensekretariat des Deutschen Textilarbeiterinnenverbandes einen Literaturwettbewerb aus, der sich an alle Verbandsmitglieder richtete. Authentisch und überzeugend sollten die Frauen ihren gewöhnlichen Tagesablauf schildern, für die beste Arbeit standen 30 Mark als Preis bereit. Eine 48-jährige Arbeiterin:
"Durch Arbeitslosigkeit meines Mannes bin ich zu der Erwerbstätigkeit gezwungen. Um nicht in allzu große Notlage zu geraten, muss ich zum Haushalt meiner Familie, welche aus meinem Mann, drei Kindern im Alter von 3 bis 13 Jahren und mir besteht, beitragen. Mein Wohnort liegt im Kreise Zeitz, die Arbeitsstelle ist eine Wollkämmerei, in welcher ich Putzerin bin. Da ich fast eine Stunde Bahnfahrt habe, stehe ich früh um 4.30 Uhr auf. Der Zug fährt um 5.10 Uhr ab, kommt 5.55 Uhr am Arbeitsort an. Da unsere Arbeitszeit um 6 Uhr beginnt, muss ich vom Bahnhof zur Fabrik einen Dauerlauf machen, um zur rechten Zeit zur Stelle zu sein. Dort putze ich bis 14.15 Uhr Krempelmaschinen. Der Zug, mit welchem ich fahren kann, fährt erst um 17.13 Uhr. Ich muss mich solange auf dem Bahnhof aufhalten und bin um 18 Uhr zu Hause. Nun gibt es noch daheim zu schaffen. Das Essen fertig zu kochen, für den nächsten Tag vorzubereiten, bei den Kindern die Sachen nachsehen, ob sie noch ganz und sauber sind. Wenn man den ganzen Tag nicht da ist, wird noch ein bisschen mehr gebraucht, weil die kleinen Schäden nicht so beachtet werden können. Am Abend ist man auch von der langen Zeit müde und abgespannt und die Sachen, Wäsche und Strümpfe, müssen sonntags ausgebessert werden. Manchmal muss ich noch meinen Schlaf opfern, da ich Partei- und Arbeiterwohlfahrtsversammlungen besuche und letztere sogar als Vorsitzende leiten muss. Am Sonnabend bin ich um dieselbe Zeit zu Hause. Da gehe ich erst einmal in den Konsumverein einkaufen, um für die ganze Woche Lebensmittel zu haben. Alle vier Wochen habe ich große Wäsche für meine Familie allein zu waschen. Am Abend vorher mache ich dazu alles fertig, um Sonntagmorgen beizeiten anfangen zu können. Sonst beginnt der Sonntag um 7 Uhr. Da gibt es zu tun mit dem Reinemachen der Wohnung und dem Ausbessern der Kleidungsstücke. Dabei wird das Mittagessen bereitet. Um 14 Uhr beginnt dann für mich der Sonntag. Er wird mit dem Besuch einer Arbeiterveranstaltung oder mit einem Spaziergang beendet [...]."
Kristine von Soden, "Frauen und Frauenbewegung in der Weimarer Republik", in: Die wilden Zwanziger. Weimar und die Welt 1919-33, Espresso, Berlin 1986, S. 112 f.
Jugend
Seit der Jahrhundertwende gab es in der Jugend Ansätze zur Entwicklung von Zusammenschlüssen mit eigenen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen. Die naturverbundene bürgerliche "Wandervogel"-Bewegung wurde nach dem Krieg weitgehend von der gesellschaftlich orientierten "bündischen Jugend" abgelöst. In den 1920er Jahren bildeten erwerbslose Heranwachsende aus den Unterschichten in den Großstädten zuweilen "wilde Cliquen", die ihren Protest gegen Armut und Zukunftsunsicherheit "krass materialistisch und nicht selten jenseits der Legalität" (Heinrich August Winkler) auslebten. Nach dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 versuchte der Staat, durch Einrichtungen der Jugendfürsorge und Angebote der Jugendpflege die Entwicklung der Jugendlichen positiv zu beeinflussen. Doch blieb Unterschichtkindern der Zugang zu höheren Schulen – und damit der soziale Aufstieg – wegen des weiterhin erhobenen Schulgeldes in der Regel versperrt. Anfang der 1930er Jahre gehörten von neun Millionen Jugendlichen knapp vier Millionen einer Jugendorganisation an. Am beliebtesten waren Sportvereine (zwei Millionen) sowie katholische und evangelische Jugendverbände (eine Million bzw. 600.000). Dahinter schob sich in weitem Abstand die "Hitler-Jugend" (HJ) (100.000) vor die – an Mitgliederschwund leidende – SPD-nahe "Sozialistische Arbeiterjugend" (SAJ) (90.000). Es folgten die "bündischen" Jugendgruppen (70.000) und der "Kommunistische Jugendverband Deutschlands" (KJVD) (55.000). Gleichwohl verbrachten die meisten jungen Leute ihre Freizeit vorzugsweise im Freundeskreis, gingen auf Wanderfahrt und nutzten die Möglichkeiten der neuen "Massenkultur": Grammofon, Radio und Kino, Gaststätten und Tanzlokale. Die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen der Jahrgänge 1897 bis 1917 waren – je nach Geburtsjahr – durch einschneidende Erfahrungen geprägt: durch das seelisch verwüstende Kriegs- bzw. Fronterlebnis ("verlorene Generation"), das vaterlose Aufwachsen und die Entbehrungen während des Krieges, die Nachkriegskrisen (die eine hohe Jugendkriminalität erzeugten), die Stabilisierungsjahre oder schließlich den unmittelbaren Übergang von der Schule oder der Universität in die Arbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise ("überflüssige Generation"). Die soziale Unzufriedenheit vieler Jugendlicher äußerte sich nicht zuletzt in der Sehnsucht nach einem sinnerfüllten Dasein und nach Überwindung der gesellschaftlichen und politischen Gegensätze. Von der bürokratischen Politik in den Parlamenten und von den überalterten Parteien und ihren einflusslosen Jugendorganisationen fühlten sich vor allem die außerhalb des katholischen und des Arbeitermilieus stehenden Jugendlichen eher abgestoßen. Dies machte sich ab Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 die extreme Rechte mit wachsendem Erfolg zunutze: Hitler verstand es, die NSDAP als Partei der Jugend und des Aufbruchs zu einer nationalen "Volksgemeinschaft" unter seiner Führung darzustellen.
Sozialpolitik
Viele Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit wurden seit der Revolution von 1918/19 zwar nicht beseitigt, aber wesentlich stärker als früher sozialpolitisch abgemildert. Das in den 1880er Jahren von Bismarck eingeführte Sozialversicherungswesen (Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung) wurde in der Verfassung verankert (Artikel 161 WV), die Rentensätze erhöht. Außerdem sorgte eine Vielzahl von größeren und kleineren Maßnahmen für mehr soziale Gerechtigkeit. Sie reichten von der Anerkennung neuer Berufskrankheiten, die zum Bezug einer Invalidenrente berechtigten, über die Steigerung der Zahl der Ärzte und der Krankenhausbetten bis zum sozialen Wohnungsbau: Zwischen 1925 und 1929 erhöhte sich die Zahl der jährlich fertiggestellten Wohnungen (in weiträumigen Siedlungen oder mehrstöckigen Mietshäusern ohne Hinterhöfe) von 106.502 auf 317.682; davon wurde jede zweite mit staatlichen Mitteln gefördert oder vom Staat selbst gebaut.
Arbeitslosenversicherung
Viele sozialpolitische Reformen waren, neben dem anhaltenden Druck der organisierten Arbeitnehmerschaft, dem tatkräftigen Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns (Zentrum) zu verdanken. Sein bedeutendstes Werk war das Gesetz über die Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 1. Oktober 1927, von der "Bürgerblock"-Regierung (Zentrum – BVP – DVP – DNVP) unter Reichskanzler Wilhelm Marx (Zentrum) eingebracht und vom Reichstag mit großer Mehrheit verabschiedet. Künftig übernahmen eine Reichsanstalt sowie regionale und lokale Arbeitsämter die Arbeitsvermittlung. Anspruchsberechtigte Arbeitslose konnten bis zu 39 Wochen ihren Unterhalt aus einer Versicherung beziehen, die zu gleichen Teilen durch Beiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber finanziert wurde. Der Staat sollte im Notfall mit Darlehen einspringen. Somit wurde bei der sozialen Absicherung der Arbeitslosen das bisherige entwürdigende Fürsorgeprinzip durch das Versicherungsprinzip abgelöst. Weil Teile der Unternehmerschaft schon im Vorfeld heftig über die Erhöhung ihrer Soziallasten klagten, wurde die Beitragshöhe niedrig (auf drei Prozent des Grundlohns) angesetzt. Daher reichten die Finanzmittel vorläufig nur für etwa 700.000 Arbeitslose.
QuellentextDer Ausbau des Weimarer Sozialstaates
1918
Abschaffung der Gesindeordnung
Einführung des Frauenwahlrechts
Zulassung von Frauen zum Hochschullehrerberuf
Erwerbslosenfürsorge für entlassene Soldaten
1919
Grundrechte der Frauen auf staatsbürgerliche Gleichstellung und Gleichberechtigung in der Ehe
Grundrechte der Jugend auf Erziehung, Bildung, Schutz, Fürsorge und Pflege
Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie für Gewerkschaften und Unternehmerverbände
Verankerung des Sozialversicherungssystems in der Verfassung
1920
Betriebsrätegesetz
Grundschulgesetz
Versorgungsregelung für 1,5 Millionen Kriegsbeschädigte und 2,5 Millionen Hinterbliebene
1922
Jugendwohlfahrtsgesetz
Zulassung von Frauen zum Richteramt
Mietpreisbindung
Arbeitsnachweisgesetz (Ablösung der gewerblichen durch eine kommunale Arbeitsvermittlung)
Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in die Aufsichtsräte
1923
Jugendgerichte
Gesetz über Mindestlöhne für Heimarbeiter
Förderung der Einstellung von Schwerbeschädigten
Mieterschutz gegen willkürliche Kündigungen
Knappschaftsgesetz (soziale Sicherung der Bergleute)
Staatliche Zwangsschlichtung von Tarifstreitigkeiten
1924
Einheitliche staatliche Fürsorge (statt kommunaler Armenpflege)
1925
Wöchnerinnen- und Mutterschutz als Pflichtleistung der Krankenkassen
1926
Landesarbeitsgerichte, Reichsarbeitsgericht
1927
Besonderer Arbeits- und Kündigungsschutz für werdende und stillende Mütter
Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung
Mehrarbeitszuschläge für Überstunden
1928
Krankenversicherungspflicht für Seeleute
Zerwürfnis der Tarifvertragsparteien
1928 vertiefte sich die Kluft zwischen RDI und ADGB. Zunächst gingen die Gewerkschaften im September mit einem Programm für "Wirtschaftsdemokratie" in die Offensive. Ihre Forderungen lauteten:
Ausbau des Arbeitsrechts, der Sozialpolitik und der innerbetrieblichen Mitbestimmungsrechte,
Erleichterung des Bildungszugangs für Arbeiter,
Vermehrung der "gemeinwirtschaftlichen" (das heißt der staatlichen und genossenschaftlichen) Betriebe,
paritätische Besetzung der Handels-, Handwerks- und Landwirtschaftskammern,
Kontrolle der Großunternehmen durch Kartellämter und durch Arbeitnehmervertreter in den Geschäftsleitungen.
Die Arbeitgeberverbände begriffen die "Wirtschaftsdemokratie" nicht zu Unrecht als Kampfansage an die freie Unternehmerinitiative; vor allem der RDI reagierte mit heftiger Kritik. Mehr noch: Beim "Ruhreisenstreit" im Oktober 1928, dem größten Arbeitskampf in der Geschichte der Weimarer Republik, lehnte die Arbeitgeberseite den eher maßvollen Schiedsspruch des staatlichen Schlichters ab, sperrte mehr als 230.000 Metallarbeiter aus, ließ es auf ein Arbeitsgerichtsverfahren ankommen und begann eine Kampagne gegen die staatliche Zwangsschlichtung bei Tarifkonflikten. Der Druck der Unternehmer führte am Ende zu einem zweiten, für sie günstigeren Schiedsspruch. Mit seiner Offensive gegen Gewerkschaften und Zwangsschlichtung signalisierte der RDI, dass er die Flächentarifverträge durch betriebliche Einzelvereinbarungen zwischen Unternehmensleitung und Belegschaft (ohne gewerkschaftliche und staatliche Beteiligung) ersetzen wollte. So standen sich Ende 1928 Unternehmerverbände und Gewerkschaften unversöhnlich gegenüber – der Stinnes-Legien-Pakt vom November 1918, die "Sozialverfassung der Republik" (Hagen Schulze), war zerbrochen.
Innenpolitische Entspannung
Zwischen 1924 und 1929 blieb die innenpolitische Lage weitgehend stabil. Die Kommunisten konzentrierten sich wieder auf die legalen Formen der Parteiarbeit. Da sie bedingungslos der von der KPdSU vorgegebenen ideologischen und politischen Linie folgten, sprechen Historiker von einer "Stalinisierung" der KPD. Die radikale Rechte wirkte politisch gelähmt. Hitler saß bis Dezember 1924 in Festungshaft und schrieb sein Buch "Mein Kampf"; dem Zerfall der NSDAP musste er tatenlos zusehen. In Bayern führte ein erfolgreiches Volksbegehren für Landtagsneuwahlen im Februar 1924 zur Ablösung des regierenden Triumvirats Kahr – Lossow – Seißer und zur Wiederherstellung verfassungsmäßiger Verhältnisse.
Reichstagswahlen von 1924
Nach Ablauf der vierjährigen Legislaturperiode wurde der Reichstag am 4. Mai 1924 neu gewählt. Das Wahlergebnis war vom Krisenjahr 1923 und der aktuellen Diskussion über den Dawes-Plan geprägt. Mit Ausnahme von Zentrum und BVP mussten alle seit 1920 regierenden Parteien – SPD, DDP, DVP – zum Teil herbe Verluste hinnehmen. Demgegenüber verzeichneten die DNVP und die Splitterparteien beträchtliche Gewinne. Die von Reichskanzler Marx gebildete Minderheitsregierung (Zentrum – DDP – DVP) scheiterte, weil das Parlament Steuererhöhungen zum Ausgleich des Staatshaushalts ablehnte. Reichspräsident Ebert löste den Reichstag am 20. Oktober wieder auf. Die Neuwahl vom 7. Dezember 1924 stand im Zeichen der allgemeinen Stabilisierung. Klare Wahlsiegerin wurde die SPD, gefolgt von der DNVP. Die bürgerlichen Mittelparteien konnten wieder leichte Gewinne verbuchen. Eindeutige Verlierer waren die KPD, Ludendorffs "Nationalsozialistische Freiheitsbewegung" und die Splitterparteien. Dieses Gesamtbild signalisierte den Beginn einer politischen Normalisierung, zumal sich die ehemals strikt nationalliberal-monarchistische DVP unter dem Einfluss ihres angesehenen Vorsitzenden, des früheren Reichskanzlers und jetzigen Außenministers Gustav Stresemann, zu einer Partei der "Vernunftrepublikaner" entwickelte. Das heißt, sie akzeptierte die von der Revolution 1918/19 geschaffenen Realitäten.
Wechselnde Mehrheiten
Die politischen Parteien taten sich jedoch weiterhin schwer mit der parlamentarisch-demokratischen Regierungsweise, das heißt mit der Bildung stabiler Koalitionsregierungen, der Bereitschaft zum politischen Kompromiss und dem Mut zu unpopulären Entscheidungen. Unter dem Einfluss ihres linken Flügels, der Koalitionen prinzipiell ablehnte, blieb die SPD in der Opposition. Die linksliberale DDP und die monarchistische DNVP waren nicht miteinander koalitionsfähig. Auch führten Spannungen zwischen den beiden katholischen Parteien dazu, dass die BVP nicht, wie die Zentrumspartei, allen, sondern nur einigen Regierungen der Weimarer Republik angehörte. Vor diesem Hintergrund besaßen die Reichsregierungen der Jahre 1924 bis 1928 trotz mehrfacher Umbildungen keine oder nur eine unsichere Mehrheit. Denn mit Ausnahme der im Oktober 1925 gescheiterten breiten "Bürgerblock"-Regierung (von der DDP bis zur DNVP) amtierten entweder
Minderheitsregierungen der bürgerlichen Mittelparteien (DDP – Zentrum – ggs. BVP – DVP), die auf Tolerierung in innenpolitischen Fragen meist von rechts, in außenpolitischen von links angewiesen waren, oder
"Bürgerblock"-Regierungen vom Zentrum bis zur DNVP, die zwar in der Innenpolitik weitgehend übereinstimmten, nicht aber in der Außenpolitik.
Diese Regierungen arbeiteten häufig mit wechselnden Mehrheiten, weshalb zwischen Regierungsfraktionen und Kabinett ein distanziertes Verhältnis bestand. Die SPD geriet dabei in eine politische Zwitterstellung: Obwohl linke Oppositionspartei, musste sie den bürgerlichen Regierungen immer wieder zur Mehrheit verhelfen, um wichtige außenpolitische Projekte wie Dawes-Plan, Locarno-Verträge oder Völkerbundsbeitritt nicht am "Nein" der DNVP scheitern zu lassen. Der "Normalfall" einer klaren Minderheitsopposition und einer dauerhaften Mehrheitsregierung stellte sich nicht ein. Unter diesen Umständen blieb der Parlamentarismus instabil.
Reichspräsidentenwechsel
Am 28. Februar 1925 starb Reichspräsident Ebert überraschend im Alter von nur 54 Jahren. Er hatte eine nötige Operation zu lange aufgeschoben, um sich in einem langwierigen Gerichtsverfahren gegen die Verleumdung eines deutschvölkischen Journalisten zu wehren. Dieser hatte im Sinne der Dolchstoßlegende behauptet, Ebert habe im Januar 1918 als Mitorganisator mehrtägiger Streiks in Berlin und anderen Großstädten "Landesverrat" begangen. (Tatsächlich hatte sich Ebert mit anderen MSPD-Führern in die Leitung eines "wilden" – das heißt ohne Gewerkschaft begonnenen – Streiks wählen lassen, um diesen so schnell wie möglich zu beenden; Linksradikale warfen ihm daraufhin "Arbeiterverrat" vor). Friedrich Eberts früher Tod bedeutete einen herben Verlust für die Weimarer Republik. Seine Hauptverdienste bestanden in der Vermittlung des Konsenses zwischen sozialdemokratischer Arbeiterschaft, linksliberalem Bürgertum und politischem Katholizismus über die Gründung der Weimarer Republik sowie in seiner untadeligen verfassungstreuen und überparteilichen Amtsführung, die auch von seriösen politischen Gegnern anerkannt wurde. Jedoch hatte er sich durch sein unkritisches Vertrauen auf die "Fachleute" – konservative Generäle und Beamte – und durch seine Härte gegenüber Linksradikalen seiner eigenen Partei zunehmend entfremdet. Bei der ersten Volkswahl des Reichspräsidenten lag nach dem ersten Wahlgang am 29. März 1925 Reichsinnenminister Karl Jarres (DVP), den auch die DNVP unterstützte, klar vor dem preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD) und den abgeschlagenen übrigen Bewerbern; er verfehlte jedoch die erforderliche absolute Mehrheit. Vor dem zweiten Wahlgang, in dem die relative Mehrheit genügte, bildeten sich der "Reichsblock" (DVP, BVP, DNVP, Deutschvölkische) und der "Volksblock" (SPD, DDP, Zentrum), die jeweils einen Kandidaten unterstützten. Im Volksblock konnte die Zentrumspartei ihr Führungsmitglied Wilhelm Marx durchsetzen, was die SPD aus Sorge um die Weimarer Koalition in Preußen hinnahm. Der Reichsblock präsentierte überraschend den 77-jährigen Paul von Hindenburg, der das breite Spektrum der rechts stehenden Wähler hinter sich bringen sollte. Bevor er die Kandidatur annahm, holte er heimlich die Zustimmung "seines" Kaisers in Doorn ein. Politisch unerfahren, aber geschickt beraten, gab er sich im Wahlkampf ebenso vaterländisch wie verfassungstreu. Am 26. April 1925 entschied Hindenburg den zweiten Wahlgang knapp für sich. Der ehemalige OHL-Chef, prominente Monarchist und Miturheber der Dolchstoßlegende im höchsten Staatsamt der Republik – das war ein schwerer Schlag für die Demokratie. Was die begeisterte Rechte von Hindenburg erwartete, äußerte der DNVP-Fraktionsvorsitzende Kuno Graf Westarp unverblümt am 19. Mai 1925 im Reichstag: "Die 14,6 Millionen, die am 26. April unserer Parole gefolgt sind, haben damit ein Bekenntnis abgelegt, ein Bekenntnis zu dem Gedanken der Führerpersönlichkeit, ein Bekenntnis zu jener Vergangenheit, die vor 1918 lag."
QuellentextHindenburg und die Monarchie
Aus einem Interview Hindenburgs mit einem US-Journalisten vom 21. April 1925
Frage: Im Ausland hat man den Gedanken aufgeworfen, ob durch Ihre Reichspräsidentschaft [...] eine Beunruhigung Europas eintreten könnte?
Antwort: Soweit dabei an militärische Dinge gedacht ist, kann ich versichern, dass mir als altem Soldaten die militärische Ohnmacht Deutschlands viel zu genau bekannt ist, als dass ich kriegerische Abenteuer irgendwie befürworten kann. [...]
Frage: Ihre Kandidatur wird vielfach als eine monarchistische aufgefasst. Wie denken Sie darüber?
Antwort: Einen plötzlichen Wandel der verfassungsmäßigen Grundlagen des Deutschen Reiches halte ich weder für möglich, noch für erwünscht; denn die dabei unvermeidliche Fehde würde dem Programm der inneren Eintracht widersprechen. Meine Herkunft aus einer monarchistischen Welt verleugne ich ebenso wenig, wie Herr Ebert seine Herkunft aus der alten sozialdemokratischen Kampf-atmosphäre verleugnet hat. Ein Reichspräsident, der allen Ständen und Gliedern des Volkes dienen muss, darf aber nicht Vertreter des Kampfgedankens irgendwelcher Klassen sein. Es ist völlig unwahr, dass ich mich mit Doorn über die Annahme meiner Kandidatur verständigt habe. Ich habe in dieser Frage keine Fühlung mit dem Hause Hohenzollern gehabt.
Aus einem Brief Hindenburgs an Wilhelm II. vom 27. November 1927
"Euer Majestät lege ich die inständige Bitte zu Füßen, davon überzeugt sein zu wollen, dass ich wie immer, so auch in den damaligen unglücklichen Tagen lediglich bemüht gewesen bin, Schaden und Nachteil vom Haupte meines Kaisers und Königs abzuwenden. Nur aus diesem Grunde musste ich nach gewissenhafter Prüfung schweren Herzens wohlgemeinten, aber nach Lage der Dinge unausführbaren Ratschlägen Anderer widersprechen und einen, wie ich glaubte, vorübergehenden Aufenthalt in Holland als bestes Mittel für oben erwähnten Zweck empfehlen. Von Euer Majestät missverstanden zu werden, ist mir altem Soldaten der größte Schmerz. Darum bitte ich vorbeugend daran erinnern zu dürfen, dass ich mein jetziges dornenvolles Amt nach langem Sträuben erst übernommen habe, nachdem man mich bei der Ehre fasste, und ich mich der Einwilligung Eurer Majestät versichert hatte. So verbleibe ich bis in ein nicht mehr fernes Grab in Treue und Ehrgefühl als Euer Kaiserlichen und Königlichen Majestät alleruntertänigster v. Hindenburg, Generalfeldmarschall."
Walther Hubatsch (Hg.), Hindenburg und der Staat, Musterschmidt, Göttingen 1965, S. 188 und 46
Hindenburgs Amtsführung
Die von manchen gehegte Hoffnung, der neue Reichspräsident werde zur Festigung der Demokratie beitragen, denn er könne wie kein anderer die Monarchisten mit der Republik versöhnen, erfüllte sich nicht. Im Gegensatz zu Stresemann war und wurde Hindenburg kein "Vernunftrepublikaner". Vielmehr verstand er sich als Statthalter und Interessenvertreter der Hohenzollernmonarchie. Dieses Selbstverständnis – zu dem er sich freilich nur im Kreise seiner Vertrauten bekannte – erschließt sich aus vielen Verhaltensweisen und Amtshandlungen. Drei Beispiele:
Noch 1925 brachte Hindenburg einen Gesetzentwurf der SPD zur Beschränkung der Ansprüche der 1918 abgesetzten, aber nicht enteigneten Fürstenhäuser auf Rückgabe ihres Vermögens bzw. Entschädigung zu Fall, indem er das Gesetz für verfassungsändernd erklärte. Tatsächlich erlaubte Artikel 153 Abs. 2 WV auch entschädigungslose Enteignungen zum Wohle der Allgemeinheit mittels einfacher Gesetze.
Ein Volksbegehren der KPD zur entschädigungslosen Enteignung der Fürsten, dem sich SPD und Gewerkschaften anschlossen und das in der Bevölkerung auf große Resonanz stieß, nannte der Reichspräsident einen "bedenklichen Verstoß [...] gegen die Grundlagen der Moral und des Rechts" und duldete die Verwendung dieses Zitats auf den Plakaten der Gegner des Volksbegehrens (DNVP, BVP, DVP, Zentrum und Kirchen), was einem Amtsmissbrauch gleichkam. Dennoch stimmten beim Volksentscheid am 20. Juni 1926 14,5 Millionen Bürger für die Fürstenenteignung. Die erforderlichen 21 Millionen Stimmen wurden aber nicht erreicht.
Ende 1926 verhinderte Hindenburg ein Ausführungsgesetz zum Artikel 48 WV, das seine Diktaturvollmachten einschränken sollte. Gerade im Notfall, so schrieb er am 26. November an Reichskanzler Marx, sei es geboten, dem Reichspräsidenten "freie Hand zu lassen in der Wahl und in der Durchführung der [...] Abwehrmaßnahmen". Indem er vor "schweren Kämpfen im Reichstag" warnte, drohte er mit der Mobilisierung aller konservativ gesinnten Abgeordneten gegen den Gesetzentwurf.
Wenn Hindenburg es nicht für seine Aufgabe hielt, vorbehaltlos für die parlamentarisch-demokratische Republik einzutreten, so wurde er darin von seinen engsten Beratern bestärkt. Zu dieser "Kamarilla" gehörten u. a. Otto Meissner, Staatssekretär im Reichspräsidentenpalais, Elard von Oldenburg-Januschau, ein prominenter ostpreußischer Gutsbesitzer, und Hindenburgs Sohn Oskar, ein Reichswehroberst. Diese Präsidentenberater verfolgten gemeinsame politische Ziele: Überwindung des Versailler Vertrages (vor allem der Entwaffnungs- und Reparationsvorschriften), Wiederherstellung Deutschlands mindestens in den Grenzen von 1914, Beseitigung der Demokratie und des Einflusses der politischen Linken, Rückkehr zur Monarchie. Dennoch schien die politische Stabilisierung weitere Fortschritte zu machen. So bekannte sich der angesehene Braunkohlen-Industrielle und stellvertretende Vorsitzende des RDI, Paul Silverberg, am 6. September 1926 in einer Aufsehen erregenden Rede auf einer RDI-Tagung klar zur Republik und empfahl sogar eine Regierungsbeteiligung der SPD. Als aber der amtsmüde gewordene Reichswehrminister Geßler am 14. Januar 1928 zurücktrat, erlitt die Demokratie wieder einen Rückschlag: Als Nachfolger akzeptierte die amtierende Bürgerblock-Regierung Hindenburgs Wunschkandidaten, den parteilosen Generalquartiermeister a. D. Wilhelm Groener. Von jetzt an befanden sich das Reichspräsidentenamt und das Reichswehrministerium sozusagen in der Hand der letzten kaiserlichen Obersten Heeresleitung. Durch die Förderung seines alten und neuen Chefs Groener stieg der frühere Major im Hauptquartier der OHL, Oberst Kurt von Schleicher, innerhalb weniger Jahre militärisch zum Generalleutnant und Leiter des Ministeramts auf; politisch wurde er als Vertrauter Hindenburgs der strategische Kopf der "Kamarilla".
Reichstagswahl 1928
Bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 errangen die Sozialdemokraten einen klaren Wahlsieg, während die Deutschnationalen herbe Verluste erlitten. Dass die SPD als stärkste demokratische Partei in die Regierungsverantwortung zurückkehrte, während die stärkste republikfeindliche Partei, die DNVP, in die Opposition wechselte, schien die Republik zu festigen. Beunruhigend wirkten jedoch die beträchtlichen Einbußen der Mittelparteien, während die KPD und die Splitterparteien Mandate hinzugewannen. Die NSDAP, deren Parteiapparat Hitler nach seiner vorzeitigen Haftentlassung im Dezember 1924 wieder aufgebaut und reichsweit ausgedehnt hatte, erhielt nur zwölf Parlamentssitze. Nach langwierigen Verhandlungen bildete der neue Reichskanzler Hermann Müller (SPD) eine "Große Koalition" (SPD, Zentrum/BVP, DDP, DVP). Zwar verfügte sie im Reichstag über eine breite Mehrheit, aber in die Zusammenarbeit der Regierungsparteien waren quasi mehrere "Soll-Bruchstellen" eingebaut:
Die SPD-Minister hatten in ihrer eigenen Partei keinen leichten Stand. Im Kabinett beschlossen sie den von ihren Koalitionspartnern verlangten Bau des neuen Panzerkreuzers A mit; im Reichstag mussten sie am 16. November 1928 mit ihrer Fraktion sowie der KPD dagegen stimmen. (Der Bau wurde mit den Stimmen aller Mittel- und Rechtsparteien von der DDP bis zur NSDAP beschlossen.) Hinzu kamen immer heftigere Angriffe der Kommunisten: Seit 1929 versuchte die KPD, den ADGB durch eine "Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition" (RGO) zu spalten; außerdem beschimpfte sie die in Preußen und im Reich regierenden Sozialdemokraten als "Sozialfaschisten" und erklärte sie zu ihrem "Hauptfeind". So geriet die SPD unter einen Rechtfertigungs- und Erfolgszwang; sie musste klar erkennbar die Interessen der Arbeitnehmer vertreten.
Demgegenüber fühlte sich die DVP vorrangig den Interessen der Großindustrie verpflichtet – zum Leidwesen ihres Vorsitzenden Gustav Stresemann, der auf sozialen Ausgleich bedacht war. Nur mit großer Mühe hatte er die Widerstände in seiner Partei gegen eine Koalition mit der SPD überwunden. Als der überarbeitete und gesundheitlich angeschlagene Stresemann am 3. Oktober 1929 im Alter von nur 51 Jahren starb und Anfang Dezember der industrienahe Ernst Scholz an die Spitze der Partei rückte, verschärfte sich sogleich der wirtschafts- und sozialpolitische Streit im Kabinett.
Auch im Zentrum hatte in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ein Rechtstrend eingesetzt, durch den der SPD-freundliche Arbeitnehmerflügel an Einfluss verlor. Deshalb konnte sich bei der Neuwahl des Parteivorsitzenden im Dezember 1928 der erzkonservative Prälat Ludwig Kaas gegen den christlichen Gewerkschafter Adam Stegerwald durchsetzen.
Unauffälliger verlief das allmähliche Abdriften der DDP nach rechts, mit dem die Partei unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Erich Koch-Weser auf ihren schleichenden Niedergang reagierte. Das Ausmaß der Rechtsentwicklung in der DDP wurde erst 1930 voll erkennbar.
Kampagne gegen den Young-Plan
Im Herbst 1929 entfesselte die deutsche Rechte, die die außenpolitischen Erfolge der Republik beharrlich ignorierte, gegen den Young-Plan die größte politische Propagandaaktion in der Geschichte der Weimarer Republik. Erstmals arbeitete dabei die seit Ende Oktober 1928 von dem Großverleger Alfred Hugenberg geführte DNVP mit Hitlers NSDAP zusammen. Hugenberg ließ seine auflagenstarken Zeitungen fast täglich Hetzartikel gegen den Young-Plan drucken – und immer öfter wohlwollende Berichte über die Nationalsozialisten. Auch finanzierte er den von DNVP, "Stahlhelm" (Bund der Frontsoldaten) und NSDAP gegründeten "Reichsausschuss" für ein Volksbegehren gegen den Young-Plan, der einen Entwurf für ein "Gesetz gegen die Versklavung Deutschlands" vorlegte. Die erforderliche Unterschriftenzahl wurde knapp erreicht; beim Volksentscheid vom 22. Dezember 1929 stimmten dann nur 5,8 Millionen Wähler (statt der erforderlichen 21 Millionen) dafür. Die große Mehrheit der Bevölkerung sah infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs seit 1924 die Reparationsfrage mittlerweile gelassen. Am 12. März 1930 wurden die Young-Plan-Gesetze – trotz anhaltender Kritik von rechts, die im demonstrativen Rücktritt des Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht gipfelte – von der Großen Koalition (mit Ausnahme der BVP) im Reichstag beschlossen. Als Hauptnutznießerin der fehlgeschlagenen Anti-Young-Plan-Kampagne erwies sich die NSDAP. Mit Hugenbergs Hilfe hatte Hitler es verstanden, sich reichsweit ins Gespräch zu bringen und nationalistisch zu profilieren. Auch außerhalb Bayerns besaßen die NSDAP-Führer jetzt Zutritt zu den "besseren Kreisen".
Kulturelle Blütezeit
Das Kriegs- und Revolutionserlebnis, der Durchbruch der Demokratie, aber auch der technische Fortschritt und nicht zuletzt amerikanische Einflüsse (Jazz-Musik, Filmkunst) gaben der kulturellen Entwicklung kräftige Impulse. Die Weimarer Republik setzte in der kurzen Zeit ihrer Existenz in beispielloser Weise künstlerische Energie und Kreativität frei. Kunsthistoriker zählen die Jahre zwischen 1918 und 1933 zur "Klassischen Moderne", denn die Vielfalt und Modernität ihrer Kunst- und Kulturformen – zwischenzeitlich vom NS-Regime unterdrückt – wirkten nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die Gegenwart hinein inhaltlich und formal anregend oder sogar prägend. Die Weimarer Kultur blieb – bei fließenden Grenzen – stets mehrfach gespalten: in anspruchsvolle Kultur und Massenkultur, in avantgardistische und traditionalistische Strömungen, in proletarisch-revolutionäre, linksliberale, konservative und völkische bzw. nationalsozialistische Richtungen. Demzufolge wurden die politischen Auseinandersetzungen auch mit den Mitteln der Kunst ausgetragen. Anspruchsvolle Kultur ereignete sich hauptsächlich auf den Feuilletonseiten der angesehenen liberalen, überregio-nalen Tageszeitungen ("Vossische Zeitung", "Frankfurter Zeitung"), in literarisch-politischen Zeitschriften ("Die Weltbühne", "Neue Rundschau", "Die Linkskurve"), in Malerei und Architektur, Sprech- und Musiktheater, Konzert, Revue und Kabarett, Romanen und Gedichten. Expressionismus und Neue Sachlichkeit, aber auch klassische Traditionen und proletarisch-revolutionäre Kunst fanden dort ihr Publikum. Massenkultur fand vor allem im lokalen und regionalen Zeitungswesen, in Fortsetzungs- und "Groschenromanen", in den Fotoreportagen der neuartigen Illustrierten, in Schlager, Film und Rundfunk und in sportlichen Großveranstaltungen statt. Den strahlenden Mittelpunkt des kulturellen Lebens bildete die Reichs- und preußische Landeshauptstadt Berlin, wo das Preußische Ministerium für Erziehung und Wissenschaft und die Preußische Akademie der Künste mit Kompetenz und Geld die moderne Kunst förderten.
Massenmedien
Unter den sich rasant entfaltenden Massenmedien behielt die Presse ihre Spitzenstellung: 1928 erschienen 3356 Tageszeitungen, davon 147 in Berlin. Nur 26 erreichten eine Auflage von mehr als 100.000 Exemplaren, die "Berliner Illustrierte Zeitung" ("B. I. Z.") dagegen 1930 fast 1,9 Millionen. In der Herstellung und Verbreitung von Filmen aller Art wurde Deutschland in Europa führend. Zahlreiche deutsche Produktionen erlangten internationale Anerkennung. Das Kinopublikum bestand zum größten Teil aus Jugendlichen, Arbeitern und kleinen Angestellten. Bereits 1925 kauften täglich zwei Millionen Menschen eine Kinokarte. Im Zuge der Umstellung auf den Tonfilm ab 1929 gewannen die im Beiprogramm gezeigten "Wochenschauen" an Attraktivität. Wirtschaftskonzentration und steigende Kosten spiegelten sich auch in der Filmproduktion wieder: Die Zahl der Filmgesellschaften ging von 1922 bis 1929/30 von 360 auf drei (Ufa, Tobis, Terra) zurück, die der jährlich gedrehten Filme von 646 auf etwa 120. Anders als Rundfunk und Printmedien unterlag der Film einer staatlichen Zensur (Reichslichtspielgesetz vom 12. Mai 1920); viele Weimarer Politiker misstrauten den suggestiven Wirkungen dieses Mediums. Der Rundfunk brachte die Kultur sogar direkt ins Haus. Anfang 1924 gab es erst 10.000 Rundfunkteilnehmer, 1932 bereits über vier Millionen (etwa ein Viertel der Haushalte), denen die Sender der 1926 gegründeten "Reichs-Rundfunk-Gesellschaft" Musikprogramme, Vorträge, Reportagen und Dichterlesungen anboten. Hier entstand auch das Hörspiel als neue literarische Gattung, durch die zahlreiche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts erstmals bekannt wurden.
Neue Sachlichkeit
Neue Sachlichkeit war eine für die zweite Hälfte der 1920er Jahre besonders typische Kunstrichtung, die – beeinflusst von der Massenkultur und den neuen technischen Medien Film und Rundfunk – das damalige Lebensgefühl der Menschen, ihr nüchternes Streben nach Bewältigung des Alltags, auszudrücken versuchte. Der Begriff geht auf eine Ausstellung moderner Malerei in Mannheim 1925 zurück. Künstler wie Max Beckmann, George Grosz, Otto Dix und andere präsentierten dort richtungweisende neue Arbeiten: gegenständliche Malerei mit alltäglichen Themen (oft Stillleben und Porträts). Darin zeigte sich eine Abkehr vom Expressionismus mit seinen Traum- und Phantasiewelten, verzerrten Formen und realitätsfernen Farbgebungen. Da es zwischen den verschiedenen Sparten der Kunst strukturelle Entsprechungen – gemeinsame Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen – gibt, wurde Neue Sachlichkeit bald zum allgemeinen Begriff für eine konkrete, distanzierte künstlerische Auseinandersetzung mit der "greifbaren Wirklichkeit", die dem Inhalt den Vorrang vor der Form einräumte und das Schlichte gegenüber dem Ornamentalen bevorzugte.
Bauhaus
Zur führenden neusachlichen Künstlerschule wurde das 1919 in Weimar gegründete, 1925 nach Dessau umgezogene "Bauhaus". Es strebte eine Zusammenführung von Architektur, Malerei und angewandter handwerklicher Kunst an. Neben Architekten (Walter Gropius, Hannes Meyer, Ludwig Mies van der Rohe) gehörten ihm daher auch Maler (Wassily Kandinsky, Paul Klee, Lyonel Feininger) und Gebrauchsdesigner (Marcel Breuer, Marianne Brandt) an; der Komponist Paul Hindemith und andere Dozenten hielten Gastvorlesungen. Bauhaus-Architektur zeichnete sich durch schlichte, funktionale Form, Stahl und Beton, offenes Skelett und große Glasflächen aus. Beispiele sind der Bauhaustrakt in Dessau, die Weißenhofsiedlung in Stuttgart und die Hufeisensiedlung in Berlin-Britz. Bauhauskünstler entwarfen moderne, formschöne und funktionale Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände (zum Beispiel Sessel, Lampen, Küchenmöbel). Neusachliche Mode befreite die Frauen von Dutt, Korsett und fußlangen Röcken, die Männer von Stehkragen ("Vatermörder"), gestärkter Hemdbrust und Bart.
Theater und Literatur
Im Theater begann 1925 die Abkehr von expressionistischer Wirklichkeitsverzerrung und Sprachverstümmelung mit Carl Zuckmayers gefeiertem Volksstück "Der fröhliche Weinberg" (1925). Es entwickelte sich das neusachliche Zeit- oder Gesellschaftsstück, zum Beispiel Zuckmayers berühmte antimilitaristische Tragikomödie "Der Hauptmann von Köpenick" (1930). Neusachliche Romane griffen historische Themen auf (Lion Feuchtwangers "Jud Süß" 1925), verarbeiteten kritisch das Weltkriegserlebnis (Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" 1929) oder spiegelten soziale Probleme (Hans Falladas "Kleiner Mann, was nun?" 1932) wider. Auch Erich Kästners heiter-ernste Kinderbücher ("Emil und die Detektive" 1929, "Pünktchen und Anton" 1931) lassen sich hier anführen. In Alfred Döblins Großstadtroman "Berlin Alexanderplatz" vermischten sich Einflüsse des Expressionismus, der Neuen Sachlichkeit, amerikanischer Autoren (Upton Sinclair, John Dos Passos) und des Films (Schnitttechnik). Döblin nutzte beispielhaft alle Vermarktungsmöglichkeiten: 1929 erschien das Buch, 1930 das Hörspiel, 1931 der Film. Die Lyrik der Neuen Sachlichkeit war vor allem "Gebrauchslyrik" (Kurt Tucholsky): Humorvolle, satirische Verse über Liebe, Alltag und Politik von Bertolt Brecht, Kästner, Walter Mehring, Joachim Ringelnatz, Kurt Tucholsky, Mascha Kaléko und Werner Finck; als Gedichte oder Lieder, Bänkelsänge oder Balladen, insbesondere für das Kabarett, das sich großer Beliebtheit erfreute.
Musik und Film
Entsprechend handelte es sich bei neusachlicher Musik um "Gebrauchsmusik" (Hindemith): Antiromantisch, nüchtern bis verspielt, klar strukturiert, vom amerikanischen Jazz beeinflusst, meist geschrieben für Varieté, Kabarett, Kino und Revue. Besonders berühmt wurde die "Dreigroschenoper" (1928) von Bertolt Brecht (Text) und Kurt Weill (Musik). Im Bereich der musikalischen Massenkultur entstand der deutsche Schlager – zum Teil mit witzigen Nonsenstexten –, durch den besonders die seit 1928 auftretende Gesangsgruppe "Comedian Harmonists" ("Veronika, der Lenz ist da", "Wochenend´ und Sonnenschein") rasch populär wurde. Von den Kapellen und Grammofonen in Cafés, Tanzlokalen und Nachtklubs hörte man zunehmend Jazz-Musik; man tanzte Shimmy und Charleston. Auch im Film vollzog sich ein Wandel von den düsteren Visionen und schrillen Kulissen des Expressionismus (wie im "Kabinett des Dr. Caligari" von Robert Wiene 1919/20) zur Neuen Sachlichkeit. Deren wichtigster Regisseur wurde Georg Wilhelm Pabst: "Die freudlose Gasse" (1925) schilderte den moralischen Verfall von Menschen durch das Inflationselend.
Proletarisch-revolutionäre Kunst
Eine linksradikale Variante der Neuen Sachlichkeit verkörperte die proletarisch-revolutionäre Kunst. Sie entstand vor allem im 1928 gegründeten KPD-nahen "Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands", der die Literaturzeitschrift "Die Linkskurve" herausgab. Ihm gehörten Brecht, Johannes R. Becher (später DDR-Kulturminister), Anna Seghers, Friedrich Wolf, Theodor Plivier und andere Autoren an. Neben reinen Propagandawerken zur Verherrlichung des Kommunismus entstanden künstlerisch beachtliche sozialkritische Werke, wie Seghers´ Erzählung "Aufstand der Fischer von St. Barbara" (1928) oder Pliviers Roman "Der Kaiser ging, die Generäle blieben" (1932). Brechts kapitalismuskritischer Film "Kuhle Wampe" (1932) wurde 1933 von den Nationalsozialisten sogleich verboten.
Konservativer Antimodernismus
Wie Nationalkonservative und Rechtsradikale die Weimarer Demokratie als "undeutsches", von den Siegermächten aufgezwungenes politisches System hassten und bekämpften, so lehnten sie die moderne Kunst als "Amerikanismus" ab oder brandmarkten sie gar als "Kulturbolschewismus". 1928 gründete die NSDAP einen "Kampfbund für deutsche Kultur", der eine Rückbesinnung auf deutsche Klassik, Heimatkunst und Volksmusik forderte. Wo Hitlers Partei an Landesregierungen beteiligt wurde, führte sie sogleich einen Kulturkampf. In Thüringen ließ sie Ende 1930 siebzig Werke der modernen Malerei aus dem Weimarer Schloss entfernen. In Anhalt vertrieb sie im September 1932 das Bauhaus aus Dessau; nach Berlin umgesiedelt, musste es sich 1933 selbst auflösen. Konservative Intellektuelle traten mit einflussreichen antidemokratischen Schriften hervor. In Ernst Jüngers viel gelesenem Kriegstagebuch "In Stahlgewittern" (1920) wurde das Soldatentum als wahre Berufung des Mannes, der Krieg als schicksalhafte Prüfung eines Volkes hingestellt. Oswald Spenglers geschichtsphilosophisches Werk "Der Untergang des Abendlandes" (1918/1922), das in den meisten bildungsbürgerlichen Haushalten stand, deutete Kulturen als "höchste Lebewesen", zwischen denen es "immer nur um das Leben, den Triumph des Willens zur Macht" gegangen sei. Der prominente Staatsrechtler und Gegner des Parlamentarismus Carl Schmitt definierte Politik als kompromisslosen Kampf zwischen "Freund" und "Feind" ("Der Begriff des Politischen" 1927). Hans Grimms Roman "Volk ohne Raum" (1926) prägte und propagierte bereits mit seinem Titel nationalistisches und nationalsozialistisches Gedankengut. "Jungkonservative" Theoretiker entwickelten die Idee einer "konservativen Revolution": Da die Weimarer "Demoplutokratie" (Edgar Jung) die ewigen Werte des Zusammenhangs zwischen Mensch, Natur und Gott zerstört habe, müsse der Konservatismus selbst revolutionär werden, um eine bewahrenswerte Ordnung erst wiederherzustellen. Die ideologische Schnittmenge zwischen Rechtsintellektuellen, Jungkonservativen und Nationalsozialisten bestand vor allem in den gemeinsamen Zielbegriffen der ständisch gegliederten "Volksgemeinschaft", des autoritären politischen "Führers" und des nichtmarxistischen "nationalen Sozialismus". Solches Ideengut erreichte einen beträchtlichen Teil der konservativen Oberschicht in Militär, Bürokratie, Hochschulen und Wirtschaft, der unter anderem im "Deutschen Herrenklub" organisiert war. Zweifellos schlugen dem parlamentarisch-demokratischen System der Weimarer Republik und seinen Repräsentanten auch von links Abneigung und Hass entgegen. Priesen die Theoretiker und Propagandisten der KPD unermüdlich das Vorbild der Sowjetunion, so reimte man auf dem linken Flügel der SPD: "Die Republik, das ist nicht viel – der Sozialismus bleibt das Ziel!" Unabhängige Linksintellektuelle, namentlich der Kreis um die von Carl von Ossietzky herausgegebene Zeitschrift "Die Weltbühne", übten ätzende Kritik an politischen Missständen, persönlichen Unzulänglichkeiten einzelner Politiker und am demokratischen Kompromiss. Ihr Beitrag zur Destabilisierung der Republik war jedoch wesentlich geringer, da sie im Gegensatz zum Rechtsintellektualismus nicht das politische Denken derjenigen Kräfte beeinflussten, die ab 1930 die Regierungsgewalt zur Zerstörung der Demokratie missbrauchten. Massenwirksamer als das Schrifttum der politischen Rechten wurden auffällige Veränderungen in der Filmkultur seit 1930. Zwar traten manche Filme nach wie vor für humane Werte ein, etwa "M – eine Stadt sucht einen Mörder" von Fritz Lang (1930/31) oder die (von der Zensur verbotene) deutsche Fassung der amerikanischen Remarque-Verfilmung "Im Westen nichts Neues" (1932). Aber zum einen wurden zunehmend reine Unterhaltungsfilme gedreht, allen voran "Der Blaue Engel" von Josef von Sternberg (1930), der Marlene Dietrich zum Weltstar machte. Zum anderen leisteten manche populäre Filme durch bestimmte Tendenzen dem Nationalsozialismus Vorschub: "Das Flötenkonzert von Sanssouci" (1930) und "Barberina, die Tänzerin von Sanssouci" (1931) verherrlichten den Krieg und den patriarchalischen Staatslenker. "Morgenrot" (1932/33), eine dramatische U-Boot-Episode aus dem Ersten Weltkrieg, feierte den soldatischen Heldentod.
Juden in Kultur und Wissenschaft
Das kulturelle Leben der Weimarer Republik war den von antisemitischen Ressentiments erfüllten Nationalkonservativen und Nationalsozialisten schon deshalb verhasst, weil es ihnen als von Juden beherrscht erschien. Richtig ist, dass sich die herausragenden Beiträge jüdischer Deutscher aus der Weimarer Kultur nicht wegdenken lassen. Josef von Sternberg, drei der sechs "Comedian Harmonists", Arnold Schönberg und Kurt Weill, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Kurt Tucholsky und Carl Zuckmayer sind nur die prominentesten Namen. Auch in der Wissenschaft spielten sie eine große Rolle. Fünf von 15 deutschen Nobelpreisträgern waren Juden: Die Physiker Albert Einstein (1921), James Franck (1925) und Gustav Hertz (1925) sowie die Mediziner Otto Meyerhof (1922) und Otto H. Warburg (1931). Indem das NS-Regime fast alle jüdischen Künstler und Wissenschaftler – wie auch viele ihrer links stehenden nichtjüdischen Kollegen – ins Exil trieb, aus dem die meisten von ihnen nicht mehr zurückkehrten, fügte es der deutschen Kultur einen unermesslichen Verlust zu.
QuellentextRepublikferne des Bürgertums
Wir lebten im Widerspruch, ohne besondere Zuneigung zu der immer wieder gedemütigten Republik, aber voller Sehnsucht nach Würde, Größe und Lebenssinn. [...] Die Versuchung zum Selbstbetrug, zur Flucht ins Illusionäre war groß.
[...] Es war nicht leicht, sich in jenen chaotischen Jahren nach 1918 zu orientieren, einen verlässlichen Halt zu finden. Man war nicht mehr Untertan SM (Seiner Majestät – Anm. d. Red.), man war Bürger einer Republik. Der Pflichtmensch, der in unverbrüchlichem Gehorsam, in streng geregelter militärischer und ziviler Disziplin nach einem sakrosankten moralischen Kodex unter dem Doppelgestirn von Thron und Altar sein Lebenspensum absolvierte – dieser "Pflichtmensch" sah sich mit einem Mal einer Freiheit ausgesetzt, die ihm aus Willkür, Unordnung, Sittenlosigkeit zu bestehen schien.
Das bis dahin in einem übersichtlichen sozialen Raster gegliederte Volk, das im Wesentlichen aus Herrschaften und "Leuten", aus Standespersonen und Dienstpersonal, aus privilegierten Befehlshabern und abhängigem Proletariat bestand, hatte sich in eine anscheinend diffuse Masse von "Stimmberechtigten" verwandelt, die nach dem Verständnis der "besseren" Gesellschaft doch nur "Stimmvieh" waren, nach wie vor unmündig, der Führung bedürftig. Aber wo waren die zur Führung Legitimierten, die Garanten einer restaurierten gesellschaftlichen und sittlichen Ordnung? SM, soviel man auch an ihm auszusetzen hatte, war immerhin "von Gottes Gnaden" gewesen. Wer von den neuen Männern hatte die "Gnade"? [...]
Man liebäugelte aber auch mit den aus dem Kriege übrig gebliebenen Freikorps und befreundete sich schließlich mit den neuen militanten Formationen der NSDAP. Auch die Putschisten im Stile von Kapp durften auf Wohlwollen in der bürgerlichen Gesellschaft rechnen. Man war primär an der Ordnung, am formalen Recht interessiert; Gerechtigkeit rangierte an zweiter Stelle und wurde zumeist als Gleichmacherei missverstanden, als Nivellierung, als Niedergang der bürgerlichen Kultur.
Ich selbst, gespeist von der geistigen Tradition der vorrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft, ließ mich in jenen turbulenten Jahren allzu leicht bezaubern von formaler Größe, ästhetischer Ordnung, moralischer Disziplin. Von daher erklärt es sich wohl, dass ich, vorübergehend, vom Glanz des Stahlgewitters Ernst Jüngers geblendet und von seinen Mythologimena betört wurde. Ein Schulfreund hatte mich angesteckt. Wir schwafelten viel vom "Heldischen", vom "Heroischen". Der Krieg, die Niederlage wurde von uns nicht reflektiert, sondern als "nibelungischer" Untergang mythologisiert. Wir träumten vom verborgenen Reich und einem heimlichen geistigen Führer, der auf seine Stunde wartete. [...]
Mein politisches Interesse war unterentwickelt. In der Zeitung, der nationalliberalen Täglichen Rundschau, die damals zweimal am Tage erschien, interessierte mich ausschließlich der kulturelle Teil, das Feuilleton. Auch meinem Freundeskreis fehlte das politische Organ. Wir waren, unserer Herkunft nach, selbstverständlich "national", aber ohne bewusst staatsbürgerliche Gesinnung; zu fein für die banale Demokratie. Wir verkannten, um nicht zu sagen verachteten, die sich im Alltagsgeschäft beschmutzenden Demokraten. Man konnte damals wahrlich keinen Ruhm und nur wenig Ehre im Existenzkampf der von allen Seiten, von den radikalen Rechten wie von den extrem Linken, befehdeten Republik gewinnen. [...]
Heinz Flügel, "Wir träumten vom verborgenen Reich", in: Rudolf Pörtner (Hg.), Alltag in der Weimarer Republik. Erinnerungen an eine unruhige Zeit, Econ, Düsseldorf 1990, S. 175 ff.
Krieg als Bewährungsprobe?
Noch wuchtet der Schatten des Ungeheuren über uns. Der gewaltigste der Kriege ist uns noch zu nahe, als daß wir ihn ganz überblicken, geschweige denn seinen Geist sichtbar auskristallisieren können. Eins hebt sich indes immer klarer aus der Flut der Erscheinungen: Die überragende Bedeutung der Materie. Der Krieg gipfelte in der Materialschlacht; Maschinen, Eisen und Sprengstoff waren seine Faktoren. Selbst der Mensch wurde als Material gewertet. Die Verbände wurden wieder und wieder an den Brennpunkten der Front zur Schlacke zerglüht, zurückgezogen und einem schematischen Gesundungsprozeß unterworfen. "Die Division ist reif für den Großkampf."
Das Bild des Krieges war nüchtern, grau und rot seine Farben; das Schlachtfeld eine Wüste des Irrsinns, in der sich das Leben kümmerlich unter Tage fristete. Nachts wälzten sich müde Kolonnen auf zermahlenen Straßen dem brandigen Horizont entgegen. "Licht aus!" Ruinen und Kreuze säumten den Weg. Kein Lied erscholl, nur leise Kommandoworte und Flüche unterbrachen das Knirschen der Riemen, das Klappern von Gewehr und Schanzzeug. Verschwommene Schatten tauchten aus den Rändern zerstampfter Dörfer in endlose Laufgräben.
Nicht wie früher umrauschte Regimentsmusik ins Gefecht ziehende Kompagnien. Das wäre Hohn gewesen. Keine Fahnen schwammen wie einst im Pulverdampf über zerhackten Karrees, das Morgenrot leuchtete keinem fröhlichen Reitertage, nicht ritterlichem Fechten und Sterben. Selten umwand der Lorbeer die Stirn des Würdigen.
Und doch hat auch dieser Krieg seine Männer und seine Romantik gehabt! Helden, wenn das Wort nicht wohlfeil geworden wäre. Draufgänger, unbekannte, eherne Gesellen, denen es nicht vergönnt war, vor aller Augen sich an der eigenen Kühnheit zu berauschen. Einsam standen sie im Gewitter der Schlacht, wenn der Tod als roter Ritter mit Flammenhufen durch wallende Nebel galoppierte. Ihr Horizont war der Rand eines Trichters, ihre Stütze das Gefühl der Pflicht, der Ehre und des inneren Wertes. Sie waren Überwinder der Furcht; selten ward ihnen die Erlösung, dem Feinde in die Augen blicken zu können, nachdem alles Schreckliche sich zum letzten Gipfel getürmt und ihnen die Welt in blutrote Schleier gehüllt hatte. Dann ragten sie empor zu brutaler Größe, geschmeidige Tiger der Gräben, Meister des Sprengstoffs. Dann wüteten ihre Urtriebe mit kompliziertesten Mitteln der Vernichtung.
Doch auch wenn die Mühle des Krieges ruhiger lief, waren sie bewundernswert. Ihre Tage verbrachten sie in den Eingeweiden der Erde, vom Schimmel umwest, gefoltert vom ewigen Uhrwerk fallender Tropfen. Wenn die Sonne hinter gezackten Schattenrissen von Ruinen versank, entklirrten sie dem Pesthauch schwarzer Höhlen, nahmen ihre Wühlarbeit wieder auf oder standen, eiserne Pfeiler, nächtelang hinter den Wällen der Gräben und starrten in das kalte Silber zischender Leuchtkugeln. Oder sie schlichen als Jäger über klickenden Draht in die Öde des Niemandslandes. Oft zerrissen jähe Blitze das Dunkel, Schüsse knallten, und ein Schrei verwehte ins Unbekannte. So arbeiteten und kämpften sie, schlecht verpflegt und bekleidet, als geduldige, eisenbeladene Tagelöhner des Todes. [...]
In Stahlgewittern. Vorwort, Hannover 1920, in: Ernst Jünger. Politische Publizistik 1919-1933. Hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz, Klett-Cotta, Stuttgart 2001, S. 9 f.