Arnon Goldfinger filmt in "Die Wohnung" eine familiäre Spurensuche in Israel, die ihn auch nach Deutschland zur Tochter eines NS-Funktionärs führt. Was lässt sich davon ausgehend über das deutsche Familiengedächtnis sagen? Wie erinnern sich die verschiedenen Generationen in Deutschland an den Holocaust?
Familiengedächtnis und NS-Vergangenheit in Deutschland
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Seine familiäre Spurensuche führt Arnon Goldfinger auch nach Deutschland, zu der Tochter eines NS-Funktionärs. Dieses Treffen vermittelt einen Eindruck davon, wie sich die verschiedenen Generationen in Deutschland an den Holocaust erinnern.
Familiengeschichte als Teil des kulturellen Gedächtnisses
Das Ableben der Zeitzeugen, die noch über eigene Erfahrungen und Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus verfügen, hat auch in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zu vermehrten Spurensuchen in der Kinder- und Enkelgeneration geführt. Ähnlich wie bei Goldfinger, trat dabei die Erkenntnis zutage, dass die Nachgeborenen zwar mit ihren Vorfahren gesprochen, jedoch konkrete Fragen versäumt hatten.
Das kommunikative Gedächtnis, das auf einem lebendigen Bezug, auf familiären Zusammenkünften und Alltagsgesprächen beruht, löst sich nach drei bis vier Generationen oder 80 bis 100 Jahren auf. Es sei denn, die Nachfahren nehmen sich des familiären Erbes an. Ebenso wie Arnon Goldfinger es tut, der die Hinterlassenschaften seiner Großmutter Gerda Tuchler nicht einfach in einem Müllsack verschwinden lässt, sondern sie als Filmemacher zu verstehen und zu bewahren sucht. Er macht einen Film über seine Familiengeschichte, die etwa in Kino, Fernsehen, auf DVD oder wie hier als Online-Angebot für ein breites Publikum verfügbar gemacht wird und in der Folge für institutionell gestützte Erinnerungsträger, wie den Schulunterricht, handhabbar wird. Goldfingers persönliche Spurensuche wird Teil einer kulturellen Überlieferung bzw. des sogenannten kulturellen Gedächtnisses.
Von der Konfrontation zur Abstraktion
Die Deutschen waren im Zweiten Weltkrieg für die maßstabslosen Verbrechen an Millionen Menschen verantwortlich. In Form von alliierten Aufklärungskampagnen und Prozessen wurden sie nach Kriegsende eindringlich mit diesen Verbrechen konfrontiert.
Die Fotografien, die die öffentliche Erinnerungskultur (nicht nur) in Deutschland und damit auch die Vorstellungen der Nachgeborenen vom Holocaust prägen, stützen sich zum einen auf Bilder aus diesem Reeducation-Kontext sowie zum anderen auf jene Fotografien, die die Zeitzeugen als Täter von Ghettoisierungen, Erschießungen und anderen Taten herstellten.
Erste Generation - "von allem nichts gewusst"
DVD-Cover der
DVD-Cover der
Im Familienkreis korrespondierte dies häufig mit der Nachkriegsbeteuerung der Zeitzeugen bzw. Ersten Generation "von allem nichts gewusst zu haben". Man begnügte sich damit, dass die Hauptverantwortlichen tot oder abgeurteilt worden waren. Der eigenen Verantwortung bzw. der eigenen Mittäterschaft stellte sich diese Generation kaum. Gleichwohl ist die Diagnose, dass die Erste Generation nur geschwiegen habe, differenzierungsbedürftig. Das Schweigen über die Verbrechen betraf nicht die eigenen Kriegserfahrungen; diese waren im Familienkreis ebenso wie beispielsweise in Illustriertenromanen durchaus präsent.
In den 1960er Jahren waren es in Westdeutschland eine wieder in Gang kommende juristische Aufarbeitung sowie der Generationenwechsel, die zu neuen Fragen an die NS-Vergangenheit führten. Es sollte allerdings bis Ende der 1970er-Jahre dauern, bis eine stärkere Differenzierung in Hinblick auf die Wahrnehmung von Tätern und Opfern, aber auch von Mitläufern des NS-Systems einsetzte. Die amerikanische
Zweite Generation - Die schwierige Auseinandersetzung mit der Geschichte der Eltern
In dieser Visualisierung des Genozids überkreuzte sich eine mediale mit einer generationellen Sollbruchstelle: "An die Stelle des sich bislang auf Erfahrung, Erinnerung und Vergessen gründenden Erfahrungsgedächtnisses trat ein auf Repräsentationen gestütztes mediales Gedächtnis."
Bild des Fotografen Gerhard Gronefelds von der Geiselerschießung im serbischen Pancevo (1941). (© Deutsches Historisches Museum)
Bild des Fotografen Gerhard Gronefelds von der Geiselerschießung im serbischen Pancevo (1941). (© Deutsches Historisches Museum)
Eine konkrete Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte fand daher − wenn überhaupt − häufig erst nach dem Tod der Eltern statt. Diese Schwierigkeit der Kindergeneration dokumentiert auch der Film von Goldfinger. Die Tochter, Edda von Mildenstein, zeigt Goldfinger vor allem Briefe, Bilder und Erinnerungsgegenstände, die die Freundschaft der beiden Familien dokumentieren und ist bemüht, ihren tief in das NS-System verstrickten Vater als Nicht-Nazi zu präsentieren. Die belastenden Dokumente, die Goldfinger im Bundesarchiv recherchiert und mit denen er Edda von Mildenstein konfrontiert, werden von dieser verstört und mit Abwehr zur Kenntnis genommen. Der Vater der Schriftstellerin Herrad Schenk war ebenfalls − wie der Vater von Edda von Mildenstein − Mitglied von SS und SD. Er war aktiv in die Vernichtungspolitik involviert. Schenk hat die Schwierigkeiten ihrer Generation in einer differenzierten literarischen Spurensuche festgehalten: "Familiengeschichte, freundliche Seiten im Fotoalbum, und gleich nebenan das Grauen, dokumentiert durch die historische Forschung. Es ist immer noch so schwer zu verstehen, dass es dieselben Menschen waren, die sowohl in der einen wie in der anderen Welt agierten − vor allem, wenn es sich um die eigenen Eltern handelt."
Dritte Generation - "Opa war (k)ein Nazi"
Beklagte die zweite Generation noch das "lähmende Schweigen" von Eltern und Lehrern in Hinblick auf die NS-Verbrechen,
Die Formen des Umgangs waren hier − wie in allen Generationen − divers und dem jeweiligen Lebensalter bzw. Bildungsstand (zum Zeitpunkt der Beschäftigung mit der Familiengeschichte) entsprechend vielfältig: Auf der einen Seite wird diese Herausforderung von der Enkelgeneration auch so gelöst wird, dass die eigenen Vorfahren aus dem Kontext von Ausgrenzung und Vernichtung ausgenommen werden: die eigenen Vorfahren waren "keine Nazis", sondern "immer dagegen".
Dies alles geschieht vor dem Hintergrund einer massenmedialen Globalisierung des Holocaust, die zunehmend kritisch gesehen wird. Der Historiker Gerhard Paul hat in diesem Zusammenhang die These aufgestellt, dass der Holocaust "zwar das am besten dokumentierte, zugleich aber weiterhin das noch immer am wenigsten begriffene Menschheitsverbrechen der Geschichte"
Zukunft der Erinnerung - die eigene mit der "großen Geschichte" verknüpfen
Mit Blick auf die vierte Generation wird es vor allem darauf ankommen, das Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte neu auszutarieren. Ein junger Zuschauer, der sich heute am 27. Januar (dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus) die Kinder-Nachrichtensendung "Logo" ansieht, wird höchstwahrscheinlich mit dem Auschwitz-Foto von Stanislaw Mucha und weiteren Bildikonen sowie einer Ultra-Kurzgeschichte zum Holocaust konfrontiert. Auch wenn die eigenen familienbiographischen Bezüge dieses Kindes nur noch gering sind, so zeigen erste Studien zur vierten Generation doch, dass deutsche Jugendliche ohne Migrationshintergrund - ebenso wie die Angehörigen der dritten Generation - den Berichten über Zuschauer, Täter und Mitläufer - eher mit Verständnis als mit Anklage begegnen.
In dieser beständigen Verknüpfung der eigenen Geschichte mit der "großen Geschichte" verbirgt sich ein bisher nur in Ansätzen zur Kenntnis genommenes Bildungspotential: Formen öffentlicher wie persönlich-familiärer Erinnerung selbst als historische Quellen und Lerngegenstände zu begreifen und zu erschließen.
Dr. Sabine Moller ist Diplom-Sozialwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist seit über 15 Jahren in der Erinnerungs- und Tradierungsforschung tätig, mit dem Schwerpunkt öffentliche Erinnerungskulturen und Familiengedächtnis über die NS-Zeit und die DDR. In ihrem aktuellen Projekt "Zeitgeschichte sehen" geht es um die empirische Erforschung des Zusammenhangs von Geschichtsbewusstsein und Filmwahrnehmung.
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