Adolf Eichmann nannte Leopold von Mildenstein, seinen Vorgänger im so genannten Judenreferat, seinen "bedeutendsten Meister und Lehrer", dessen Anschauungen er bis zum Ende beibehalten habe. Wie schätzen Sie diese Aussagen ein?
Eichmanns Aussagen sind meiner Ansicht nach ganz klar als Verteidigungsstrategie zu sehen. Er weist von Mildenstein bewusst eine große Bedeutung zu, um seine eigene Rolle dahinter kleiner zu machen, als sie tatsächlich war. Eichmann versuchte zudem, sich in eine Kontinuität mit von Mildenstein zu stellen, der zu Beginn des NS-Regimes für eine forcierte Auswanderung der deutschen Juden plädiert hatte und noch nicht für den Massenmord.
Was war der Sicherheitsdienst der SS, in dem Mildenstein 1935/36 das "Judenreferat" leitete?
Heinrich Himmler, Reichsführer SS, beauftragte 1931 den gerade entlassenen Marineoffizier Reinhard Heydrich mit dem Aufbau des SD (Sicherheitsdienst) als Nachrichtendienst innerhalb der Schutzstaffel (SS). Zunächst sammelte der SD Informationen über oppositionelle Personen und Gruppierungen; seit der Machtübernahme 1933 gewann er aber zunehmend in Verbindung mit der Gestapo – Heydrich war sowohl Chef der Gestapo wie des SD – an Wichtigkeit und Gefährlichkeit. Das so genannte Judenreferat des Sicherheitsdienstes der SS war 1935/36, als von Mildenstein dort tätig war, erst im Aufbau; erst mit Eichmann wurde es immer wichtiger. Als im September 1939 das Reichsicherheitshauptamt (RSHA) als oberste Behörde des Terrors und der Verfolgung gegründet wurde, gehörte neben der Gestapo und der Kriminalpolizei auch der SD dazu. Nunmehr wurde das "Judenreferat", in dem Adolf Eichmann tätig war, die Organisationszentrale für die Deportation der europäischen Juden in die Vernichtungslager.
Heute verbindet man mit dem SD in erster Linie Staatsterror und mit dem Judenreferat die Massenvernichtung der Juden. Man denkt nicht an zwei, drei Männer, die in einem kleinen Amtszimmer sitzen, Informationen sammeln und Zeitungsartikel ausschneiden.
Das berührt auch ein Grunddilemma des Historikers. Einerseits wissen wir – so wie der Regisseur Goldfinger im Film – um den weiteren Fortlauf der Nationalsozialistischen Verbrechen, andererseits wollen und müssen wir die Akteure im Rahmen ihres damaligen Horizontes wahrnehmen und beurteilen. Natürlich war der SD auch Anfang der 30er-Jahre eine verbrecherischen Organisation, aber dass es nur wenige Jahre später Vernichtungslager wie Sobibor, Belzec oder Auschwitz geben würde, konnte sich niemand Anfang der 1930er-Jahre vorstellen, weder jemand aus der Familie Tuchler, noch, denke ich, jemand wie Mildenstein.