Die deutsche Kriegsgesellschaft
Eine mobilisierte "Volksgemeinschaft"?
Dr. habil. Jörg Echternkamp
/ 11 Minuten zu lesen
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Die Gesellschaft im Nationalsozialismus kann man nicht allein unter dem Gesichtspunkt von Terror und Zwang betrachten. In der NS-Forschung werden deshalb seit einigen Jahren auch heikle Frage aufgeworfen. Sicher ist: Wie Nationalsozialismus und Krieg erlebt wurden, hing nicht zuletzt wesentlich davon ab, ob man in einer Großstadt lebte oder in der Provinz.
Der Krieg versetzte die deutsche Gesellschaft in einen neuen Zustand. Die Bedingungen, unter denen sich das "Dritte Reich" in den Friedensjahren stabilisiert hatten, änderten sich spätestens 1941/42 dramatisch.
Die militärische Mobilisierung, der Bombenkrieg, die Zerstörungen und Verluste prägten den Alltag an der "Heimatfront" – mit diesem Begriff signalisierte die NS-Propaganda, dass sich auch die Zivilbevölkerung in einer Kampfsituation befand. Diese "Kriegsgesellschaft" steckte im Korsett der nationalsozialistischen Diktatur, in der die Mobilisierung "von oben" und die Selbstmobilisierung "von unten" zusammenwirkten.
Auf der einen Seite wuchs der Anpassungsdruck: Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) – die ja keineswegs geheim war! – blieb ein machtvolles Terrorinstrument. Sie gehörte seit dem Überfall auf Polen 1939 zum neu gegründeten Reichssicherheitshauptamt (RSHA), in das die Sicherheitspolizei und der parteieigene Sicherheitsdienst (SD) integriert wurden. Das Amt IV, die wohl wichtigste Untergliederung, war für die Bespitzelung und Bekämpfung der politischen Gegner zuständig. Die Gestapo verfügte seit 1939/40 sogar über eigene Haftstätten: die "Arbeitserziehungslager". Rund 200 solcher AEL, die nicht der SS, sondern örtlichen Gestapodienststellen unterstanden, gab es bis 1945. Mit dem Krieg erweiterte sich der Aktionsradius. Zum einen war die Gestapo nun auch mit der Überwachung der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter befasst; zum anderen spielte sie bei der Verfolgung, Deportation und Ermordung der Juden eine zentrale Rolle. Doch die ältere Vorstellung von der allgegenwärtigen, allmächtigen Terrortruppe ist überholt – und gilt mittlerweile selbst als Mittel der Einschüchterung. Weil das Personal nicht ausreichte, war die Gestapo auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen: auf V-Leute und Denunzianten. Auf die setzte auch der Sicherheitsdienst (SD), der als Geheimdienst der NSDAP gegründet worden war. Im Ausland für Spionage und Gegenspionage zuständig, bespitzelte er im Inland die eigenen Volksgenossen und lieferte der Führung regelmäßig Stimmungsberichte ("Meldungen aus dem Reich").
Quellentext"Stimmungsberichte" des SD
Der Sicherheitsdienstes des Reichsführers-SS erstellte seit Kriegsbeginn regelmäßig Berichte über die Stimmung der deutschen Bevölkerung. Die geheimen Meldungen haben nichts mit moderner Meinungsforschung zu tun und sind nicht repräsentativ. Sie sollten das Regime, das keine öffentliche Kritik an seinem Kurs zuließ, in die Lage versetzen, seine Propaganda der jeweiligen innenpolitischen Lage anzupassen. Die mitgehörten Meinungsäußerungen zeigen wiederum, dass die Bevölkerung diese Propaganda kritisch zu lesen wusste.
Meldungen aus den SD-Abschnittsbereichen vom 22. Juli 1944
"Allgemeines Die allgemeine Stimmung aller Bevölkerungsschichten ist in der Berichtswoche weiterhin abgesunken. Die deutsche militärische Gesamtsituation erscheint der Bevölkerung, vor allem infolge der Verschärfung der Lage im Osten, als äußerst bedrohlich. (Mitteldeutschland) […]
Die Vorgänge an der Ostfront haben die Stimmung weitester Kreise der Bevölkerung innerhalb weniger Tage auf den Nullpunkt herabsinken lassen. Invasionsfront, Italien und Vergeltungswaffen werden erst im weiten Abstand diskutiert. Die Verbreitung der unsinnigsten Gerüchte über den unaufhaltsamen Vormarsch der Russen trägt dazu bei, die ängstlichen Gemüter in einem starken Maße zu beeinflussen. (Südwestdeutschland) […]
Osten Was die Volksgenossen an der Entwicklung im Mittelabschnitt am nachhaltigsten beeindruckt hat, ist der Umstand, daß es – wie aus zahlreichen Erzählungen von Soldaten in der Bevölkerung weit verbreitet – sich nicht um einen normalen Rückzug zwar unter feindlichem Druck aber doch nach einem gewissen Plan gehandelt habe, sondern um einen ausgesprochenen Zusammenbruch der Mittelfront und um einen feindlichen Durchbruch erheblichen Ausmaßes. Es erscheint den Volksgenossen unbegreiflich, wie diese Entwicklung so rasch eintreten konnte. […] Stärkste Unruhe, namentlich unter Frauen, die ihre Kinder in die Ostprovinzen verschickt haben, führte teilweise zu erregten Szenen auf Dienststellen, wo die Rückführung gefordert wurde. Überall flackert Sorge und Beunruhigung bei den Frauen auf, welche ihre Angehörigen in den kritischen Teilen der Ostfront haben. Aus allen Kreisen, vornehmlich aber aus denen der Intelligenz, hört man größte Vorwürfe gegen die Führung, die es dazu habe kommen lassen, daß der Feind jetzt vor der Reichsgrenze steht. (Westdeutschland) […]
Luftkrieg Der Luftkrieg, insbesondere die letzten Luftangriffe auf die Stadt München, wirken weiterhin sehr stimmungsdrückend, obwohl die Bevölkerung überzeugt ist, daß durch den feindlichen Luftterror kaum eine Kriegsentscheidung zu unseren Ungunsten herbeigeführt werde. Sehr beunruhigt haben die Meldungen über die geringen Abschußzahlen bei dem mehrtägigen Bombenangriff auf München und insbesondere die Tatsache, daß die Abschüsse nur durch Flakartillerie erzielt wurde. (Süddeutschland) […]
Neben den Ereignissen an der Ostfront findet der feindliche Luftterror stärkere Beachtung. Auch hier geht die Bevölkerung mehr ihren eigenen Gedanken nach und über die amtlichen Führungsmittel hinaus. Wenn z.B. in den letzten OKW-Berichten nur von "Flakabschüssen" und nicht von "Luftkämpfen" gesprochen wird, wenn in den Luftlagemeldungen der Abflug feindlicher Verbände schon nach einer Stunde gemeldet wird, dann schließt sehr häufig die Bevölkerung hieraus, daß die deutsche Abwehr durch Flugzeuge äußerst gering geworden ist und das die Terrorangriffe der letzten Zeit die Flugzeugproduktion stark beeinträchtigt habe. (Nordostdeutschland)"
aus: Meldungen aus dem Reich 1938 – 1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, hrsg. von Heinz Boberach, Bd. 17, Herrsching 1984, S. 6651-6657.
Ziele der Bombenabwürfe auf Deutschland 1940-1945.
QuellentextWehrmachtsberichte
"Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt" – Diese immer gleiche Formulierung läutete die Wehrmachtsberichte ein, in denen das Regime vom ersten Tag des Krieges an in den Mittagsnachrichten die militärische Lage an allen Fronten im Sinne der Propaganda zusammenfasste. Als ein Instrument der psychologischen Kriegführung wirkte es auch auf die Zivilbevölkerung an der sogenannten Heimatfront ein. Die namentliche Nennung eines Soldaten galt als Auszeichnung. Statt freier Journalisten berichteten Angehörige von Propagandakompanien (PK) über das Kriegsgeschehen. Ein Vergleich der Meldungen mit denen des Gegners war gefährlich, weil das Hören von "Feindsendern" als "Rundfunkverbrechen" streng bestraft wurde.
"Freitag, den 21. Juli 1944
Südöstlich von Caen setzte der Feind seine Angriffe mit stärkeren Infanterie- und Panzerkräften fort, ohne daß er wesentlichen Geländegewinn erzielen konnte. Auch im Raum nordwestlich von St. Lo zerschlugen unsere Truppen alle feindlichen Angriffsgruppen. Bei den Kämpfen am 18. und 19. Juli wurden in der Normandie 200 feindliche Panzer abgeschossen. Kampfflugzeuge versenkten im Seegebiet westlich Brest einen feindlichen Zerstörer und beschädigten zwei weitere schwer.
Bei Säuberungsunternehmen im französischen Raum wurden wiederum 285 Terroristen im Kampf niedergemacht.
Schweres V1-Vergeltungsfeuer liegt weiterhin auf dem Großraum von London.
In Italien fanden gestern größere Kampfhandlungen nur im adriatischen Küstenabschnitt statt, wo der Feind geringfügig an Boden gewinnen konnte. An der übrigen Front führte der Gegner an vielen Stellen örtliche Angriffe, die erfolglos blieben. Die 16. SS-Panzergrenadierdivision Reichsführer SS hat sich unter Führung des SS-Gruppenführers und Generalleutnants der Waffen-SS Simon bei den schweren Kämpfen an der ligurischen Küste durch besondere Standhaftigkeit und Tapferkeit ausgezeichnet. Torpedoboote beschädigten im Golf von Genua zwei britische Schnellboote.
Im Osten (Ostfront, Anm. d. Vlg.) dauern die Kämpfe im Raum von Lemberg und am oberen Bug mit unverminderter Heftigkeit an. Unsere Divisionen leisten den den Sowjets weiterhin zähen Widerstand und fügen ihnen hohe Verluste zu. Allein eine Panzergrenadierdivision schoß dort in den letzten Tagen 101 feindliche Panzer ab. Nördlich Brest-Litowsk warfen Truppen des Heeres und der Waffen-SS die Bolschewisten im Gegenangriff zurück. […]
Nordamerikanische Bomberverbände griffen von Süden und Westen Orte in West-, Südwest- und Mitteldeutschland an. Besonders in Friedrichshafen, Wetzlar und Leipzig entstanden Schäden und Personenverluste. Durch Luftverteidigungskräfte wurden 47 feindliche Flugzeuge, darunter 45 viermotorige Bomber, abgeschossen. In der Nacht griff ein britischer Verband Orte im rheinisch-westfälischen Gebiet an. Störflugzeuge warfen außerdem Bomben auf das Stadtgebiet von Hamburg; 39 viermotorige Bomber wurden dabei zum Absturz gebracht. […]"
aus: Die Berichte des Oberkommandos der Wehrmacht 1939-1945, Bd. 5, Köln 2004, S. 223f.
Auf der anderen Seite öffneten sich im Krieg Handlungsräume, in denen die Menschen mit den Kriegs- und Diktaturerfahrungen umzugehen suchten und sich zum Teil "selbst mobilisierten". Im Sinne des Nationalsozialismus ergriffen sie die Initiative zu Ausgrenzung und Unterdrückung und trieben von sich aus die Mobilisierung für den Krieg voran. Beispielsweise beteiligten sich rund 500 Wissenschaftler an der "Arbeitsgemeinschaft für den Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften". Mit einem völkisch verstandenen Wissenschaftsverständnis stellten sich Experten, Professoren zumeist, in den Dienst der völkischen Neuordnung Europas. Sie entwarfen eine völkische Geographie, betrieben rasseideologische West-, später auch Ostforschung oder schrieben eine völkische Wehrverfassungsgeschichte – alles, um Hitlers Krieg und sein Konzept vom Lebensraum im Osten pseudowissenschaftlich zu flankieren. Im Krieg boomte auch, neben allerlei seichter Unterhaltung, die Kriegsliteratur des Ersten Weltkriegs, wie sie nicht nur die Frontbuchhandlungen massenhaft vertrieben.
QuellentextSchüler sammeln Altmaterial - Erlaß des Reichsministers Bernhard Rust
Sammelaktionen gehörten zum Alltag der NS-Volksgemeinschaft. Gespendet wurde daher schon vor Kriegsbeginn: für das Winterhilfswerk, das Jugendherbergswerk, den Volksbund und für das Deutschtum im Ausland zum Beispiel. Nach 1939 erforderte es die "kriegswirtschaftliche Lage" jedoch, dass Altmaterial als Rohstoffquelle in den Schulen nun auch systematisch gesammelt wurde.
Erlaß des Reichsministers Bernhard Rust vom 16. Februar 1940
"[…] Im Einvernehmen mit dem Reichskommissar für Altmaterialverwertung ersuche ich, [bei der Betreuung der Schulvorsammelstellen] nach folgenden Richtlinien zu verfahren:
1. Die Schulen stellen … abgetrennte Räume, die für die Kinder leicht und ohne Gefahr erreichbar und gegen Witterungseinflüsse geschützt sind, für die Sammlung von Altmaterialien zu Verfügung, soweit solche vorhanden sind.
2. Die Kinder bringen außer Knochen (Erlaß vom 24. November 1939 – E II a 3006 E III –), deren Sammlung nunmehr überall aufzunehmen ist, folgende Alt- und Abfallstoffe aus der elterlichen und der benachbarten Haushaltung, in der ein schulpflichtiges Kind nicht vorhanden ist, in die Schule zur Ablieferung mit: a) täglich die Zeitung (auch Fachzeitung und illustrierte Zeitung), b) Stoffreste, unbrauchbare Bekleidungsstücke und sonstige Stoffabfälle, c) Eisen- und Metallteile, sofern diese gewichtsmäßig nicht zu schwer und ohne Gefährdung zu transportieren sind, d) Flaschenkapseln, Folien und Tuben, e) Korken.
Die Abrechnung mit dem Händler ist einem Lehrer (einer Lehrerin) zu übertragen. […] Die Sammlung von Altmaterialen ist Kriegsdienst. Zur ihr wird die deutsche Schuljugend aufgerufen. Ich erwarte, daß sie ihre Pflicht tut.
Berlin, den 16. Februar 1940. Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung E II a 286 E III.“
Quelle: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Amtsblatt des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der Unterrichtsverwaltungen der Länder, S. 147. zitiert nach: Nationalsozialismus und Schule. Amtliche Erlasse und Richtlinien 1933-1945, hrsg. und eingeleitet von Renate Fricke-Finkelnburg, Opladen 1989, S. 235f.
Würde man die Gesellschaft im Nationalsozialismus allein unter dem Gesichtspunkt von Terror und Zwang betrachten, entstünde daher ein Zerrbild. In der NS-Forschung wird deshalb seit einigen Jahren die heikle Frage aufgeworfen, was denn die Zeitgenossen noch im Krieg als die "guten" Seiten des NS-Regimes wahrgenommen haben? Heikel ist die Frage insofern, als die Distanz zwischen dem heutigen Betrachter und dem Nationalsozialismus hier kleiner ausfällt als dort, wo es um die "böse" Seite des Regimes geht. Zugespitzt formuliert: Verbrecherische Politik findet längst keine Zustimmung mehr, doch wie verhält es sich etwa mit dem Gemeinschaftserlebnis bei Massenveranstaltungen? Bereits im Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit hatte ein Begriff im Mittelpunkt vieler politischen Debatten gestanden: "Volksgemeinschaft". Er hatte dem Bedürfnis der Deutschen, nicht zuletzt der national denkenden Sozialdemokraten und Juden, nach gleichberechtigter Zugehörigkeit entsprochen. Während liberale und linke Parteien den Integrationsaspekt betont hatten – auch die Arbeiter gehörten zur sozialistischen Volksgemeinschaft! – hatten die nationalkonservativen Parteien auf eine rasseideologisch überhöhte, antisemitische Definition der Gemeinschaft gesetzt, die durch "völkische" Ordnungsideen zusätzlich aufgeladen worden war. Sie betonten den Ausschluss sogenannter Gemeinschaftsfremder, vor allem der Juden. Wer kein "Volksgenosse" war, gehörte nicht länger zum Kreis der Staatsbürger.
Quellentext"Danzig war deutsch, Danzig ist deutsch geblieben und Danzig wird von jetzt ab deutsch sein"
"Was auch immer dem einzelnen Deutschen nun in den nächsten Monaten oder auch Jahren an Schwerem beschieden sein mag, es wird leicht sein im Bewußtsein der unlösbaren Gemeinschaft, die unser ganzes großes Volk umschließt und umfaßt.
Wir nehmen Sie auf in diese Gemeinschaft mit dem festen Entschluß, Sie niemals mehr aus ihr ziehen zu lassen, und dieser Entschluß ist zugleich das Gebot für die ganze Bewegung und für das ganze deutsche Volk.
Danzig war deutsch, Danzig ist deutsch geblieben und Danzig wird von jetzt ab deutsch sein, solange es ein deutsches Volk gibt und ein Deutsches Reich besteht.
Generationen werden kommen, und Generationen werden wieder vergehen. Und sie alle werden zurückblicken auf die 20 Jahre der Abwesenheit dieser Stadt als auf eine traurige Zeit in unserer Geschichte. Sie werden sich aber dann nicht nur erinnern der Schande des Jahres 1918, sondern sie werden sich dann mit Stolz auch besinnen auf die Zeit der deutschen Wiedererhebung und der Wiederauferstehung des Deutschen Reiches, jenes Reiches, das nun alle deutschen Stämme zusammengefaßt hat, das sie zusammenfügte zu einer Einheit, und für das wir nun einzutreten entschlossen sind bis zum letzten Hauch. Dieses Deutschland der deutschen Volksgemeinschaft aller deutschen Stämme, das Großdeutsche Reich - Sieg Heil!"
Auszug aus einer auf Tonträger erhaltenen Rede Adolf Hitlers im Artushof in Danzig am 19. September 1939 zur Aufnahme der Danziger und Danzigerinnen in die deutsche "Volksgemeinschaft". Vorhanden im Bestand des DRA
Die Nationalsozialisten griffen diesen Schlüsselbegriff auf. Gleich nach ihrer Machtübernahme am 30. Januar 1933 setzten sie auf der einen Seite alles daran, das Programm durch eine entsprechende Gesetzgebung in die Tat umzusetzen. Die Juden, aber auch der eigene "erbkranke Nachwuchs" waren als Fremdkörper im deutschen "Volkskörper" gebrandmarkt worden, den es zu beseitigen galt. Auf der anderen Seite wurde die deutsche Mehrheitsgesellschaft im Zuge der Kriegsvorbereitung und während des Krieges als eine "wehrhafte" Volksgemeinschaft militarisiert und mobilisiert. Der Gemeinschaftsgedanke sollte die Nation zusammenschweißen und so auch die "Heimatfront" stärken. Diesem Selbstbild zufolge wäre die deutsche Kriegsgesellschaft als eine relativ gleichförmige, egalitäre Gemeinschaft zu verstehen. Die umgekehrte Vorstellung, dass die Menschen unter dem Druck der Kriegsgewalt weitgehend gleiche Erfahrungen gemacht haben, klingt noch heute etwa an, wenn von der Kriegsgeneration die Rede ist.
QuellentextWissenschaft und "Wehrhaftmachung": der Jurist Ernst Rudolf Huber als Beispiel
Ernst Rudolf Huber (1903-1990), gehörte zu den führenden Verfassungsrechtlern des "Dritten Reiches". Im Rahmen der "Wehrhaftmachung" wandte sich der Jurist, ein Schüler Carl Schmitts, der Rechtsgeschichte zu und veröffentlichte 1938 eine umfangreiche, völkisch grundierte Darstellung der Geschichte der deutschen Wehrverfassung von der Germanenzeit bis in die 1930er Jahre. Darin überhöhte er die (historisch-konkrete) Wehrverfassung zu einem für die völkische Existenz notwendigen staatsbildenden Faktor. Seine historische Darstellung sucht den historischen Nachweis zu führen, die nationalsozialistische Aufrüstung sei die historisch notwendige, längst überfällige Wiederherstellung der Identität von Volk und Wehrmacht als Voraussetzung eines künftigen Großreichs. Herr und Staat erschien 1943 in einer zweiten Auflage; das Kapitel […] wurde als separates Bändchen vertrieben. Nach 1945 wurde Huber durch seine achtbändige Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (1957-1991) bekannt.
"Der Kampf um Sein und Geltung, in dem das deutsche Volk nicht erst seit dem unmittelbaren Ausbruch des zweiten Weltkriegs, sondern seit Jahrzehnten eines sogenannten Friedens steht, hat bei uns schärfer als anderswo bewußt werden lassen, in welchem Maße die nationale Existenz von der nationalen Wehrkraft abhängig ist. […] Das Heer ist eine der staatsbildenden Kräfte – das ist die tiefe Einsicht, zu der das Nachdenken über die Beziehungen von Volk und Wehrmacht führt. Daß die Wehrhordnung ummittelbar der politischen Grundordnung eines Volkes, d.h. seiner Verfassung, zugehört, ist eine Einsicht, die mit der Erneuerung der deutschen Wehrfreiheit und Wehrhoheit wieder in das allgemeine Bewußtsein getreten ist. Das Wehrrecht ist nicht nur eine technische Regelung der Wehrorganisation und der Wehrverwaltung, sondern es ist vor allem ein unmittelbarer Ausdruck der politischen Ordnung, in der ein Volk zum Staat wird. (S. 13)
Die Wechselwirkung von Wehrordnung und politischer Gesamtverfassung […] wird durch einen Blick über die Wandlungen der Wehrverfassung in der deutschen Geschichte bestätigt. […] So wird jede historische Frage zum unmittelbar juristischen Problem, indem sie auf das Wesensgesetz gerichtet ist, das sich in der geschichtlichen Entwicklung entfaltet. (S. 19) […]
Mit dem Zusammenbruch der Wehrverfassung [1918/19] ging dem Volk jede Einheit und Ordnung verloren; es geriet außer Verfassung und versank im Chaos, im Umsturz und im Bürgerkrieg. Wenn es trotzdem gelang, den äußeren Rahmen eines an Gebiet und Menschen verstümmelten Reiches aus dieser Auflösung zu retten, so war es den Resten der alten Wehrmacht zu danken. In dem der große Marschall des Krieges [von 1914-1918, von Hindenburg] an der Spitze des Heeres verblieb, indem es gelang, das Heer von den fernen Fronten geordnet in die Heimat zurückzuführen, indem freiwillige Verbände nach außen die offenen Grenzen des Reiches verteidigten und im Inneren den spartakistischen Aufruhr bezwangen, erbrachte die alte Wehrverfassung noch im Versinken ihre stärkste geschichtliche Leistung. Sie erhielt die äußeren Grundlagen des Reiches und schuf den Ansatz für einen neuen Aufbau des Volkes und für die Wiederherstellung des Volksheeres in einem erneuerten Reich."
aus: Ernst Rudolf Huber, Heer und Staat in der deutschen Geschichte, Hamburg 1938, 2. erw. Aufl. 1943; S. 13, 19, 442
Doch stimmt das? Führte der Krieg durch die Erfahrung von Gewalt, Verlust und Komplizenschaft tatsächlich zu einer Gleichheits- und Gemeinschaftserfahrung? Die Unterschiede zwischen den sozialen Klassen, wie sie aus dem Kaiserreich ins 20. Jahrhundert überdauert hatten, waren durch den Egalisierungsdruck im Nationalsozialismus nicht verschwunden – natürlich nicht – aber doch weniger spürbar geworden. Vor allem die Jüngeren hatten das Gefühl, in eine zukunftsträchtige Gesellschaftsform aufzubrechen, in der es zumindest für die "Arier" weniger auf die soziale Herkunft als auf die eigene Leistung ankam. Die "Kameradschaft" an der Front, die allgegenwärtige Todesgefahr und auch die staatlichen Eingriffe in den Markt, der die Klassenunterschiede hervorgebracht hatte, schliffen die sozialen Unterschiede ein Stück weit ab. An die Stelle der verschiedenen "sozialmoralischen Milieus" (M. Rainer Lepsius), etwa der Katholiken und Protestanten, der Arbeiterschaft, der ostelbischen Gutsbesitzer, trat die "wehrhafte Volksgemeinschaft". Das Regime sorgte dafür, dass der Lebensstandard bis in die zweite Kriegshälfte hinein für alle relativ hoch blieb, höher jedenfalls als in den besetzten Gebieten, auf deren Kosten die nationalsozialistische Konsumgesellschaft lebte. Die Zerstörung ganzer Wohnviertel durch die
Flächenbombardements der Alliierten, die Rationierung von Lebensmitteln und die allgemeine Verknappung von Gütern, die Luxus erschwerten: all das erhöhte die egalisierende Wirkung des Krieges. Hinzu kam in den ersten Kriegsjahren das Gefühl, gemeinsam auf der Siegerseite zu stehen – eine Kriegsbegeisterung, die bis zum Winter 1941/42 anhielt. Dazu gehörte etwa ein neuer Totenkult. An die Stelle der Trauer um die Gefallenen des Ersten Weltkriegs trat ihre Verherrlichung. Am Heldengedenktag, der 1934 den Volkstrauertag abgelöst hatte, feierte die Volksgemeinschaft ihre toten Helden, inklusive jener Männer, die in der Frühphase der NS-Bewegung "gefallen" waren.
Die Kriegserfolge kräftigten auch den "Hitler-Mythos" (Ian Kershaw). Die von der Propaganda verklärten Siege der "Blitzkriege" in Polen, Frankreich und auf dem Balkan wurde dem vermeintlich genialen "Feldherren" Hitler persönlich zugeschrieben. Allzu gerne waren viele bereit zu glauben, dass ihr Idol, einst Frontsoldat des Ersten Weltkriegs, von der Vorsehung auserkoren sei, Deutschland zu einer nie dagewesenen Großmachtstellung zu führen. Diese Führergläubigkeit – man lese nur einmal die Briefe an Hitler! – befeuerte die Siegeszuversicht, stärkte die Kampfmoral und wirkte positiv auf die militärische Leistung
der Wehrmacht zurück. Auch wenn die Überzeugungskraft mit den Kriegsphasen schwankte und insgesamt geringer wurde: Der Mythos überdauerte die Wende von Stalingrad, schien doch allein Hitler in der Lage, das militärische Schicksal zu wenden und die Deutschen vor der Rache der Bolschewisten zu bewahren. Die Empörung, mit der viele auf das Attentat vom 20. Juli 1944 reagierten, belegte das ebenso eindrucksvoll wie die Willfährigkeit, mit der die Wehrmachtführung bis zuletzt Hitlers Befehle entgegennahm. Der Krieg sorgte insoweit für eine homogenere Gesellschaft.
Schaut man jedoch noch näher hin, fiel die Kriegsgesellschaft verschiedenartiger aus, als es das Volksgemeinschaftskonzept nahelegt. Denn die Erfahrungen zwischen 1939 und 1945 unterschieden sich nach vielen Merkmalen. Dazu zählten das Geschlecht, die Trennung von Front und Heimat, die regionale Zugehörigkeit, das Alter, die soziale Stellung und das kulturelle
Milieu, um nur die wichtigsten zu nennen. So wandelte sich die Geschlechterrolle der Frauen. Aufgrund der langen Abwesenheit ihrer Ehemänner nahmen sie in der Familie und dann auch in der (Rüstungs-) Industrie ihren Platz ein, als das nationalsozialistische Ideal der "Deutschen Mutter" kriegsbedingt in den Hintergrund trat. Doch die Volksgenossinnen waren nicht nur gezwungenermaßen im "Dritten Reich" aktiv. Auch aus eigenem Interesse wirkten viele zum Beispiel im "Hilfsdienst" der "NS-Frauenschaft" und
des "Deutschen Frauenwerkes" wie auch im zivilen Luftschutz mit, während rund 500.000 Frauen als Wehrmachthelferinnen Dienst an der Waffe taten, eine aufregende Zeit in Paris genossen oder, in Osteuropa, rassische Überlegenheitsgefühle auslebten.
Die Jugendlichen spielten für die NS-Propaganda eine besondere Rolle; in der Hitlerjugend, der "Kinderlandverschickung" oder im "Reichsarbeitsdienst" sollten sie im Sinne des Nationalsozialismus erzogen werden. Doch daneben gab es vor allem in den Großstädten eigene Formen jugendlicher Vergemeinschaftung: eigensinnige "Cliquen", die sich der Kontrolle des Regimes entzogen. Nicht obwohl, sondern weil die Jugendlichen durch ihre Sozialisation im NS-Regime hohe Erwartungen an das Gemeinschaftserlebnis auch im Krieg hatten, fiel die Enttäuschung umso größer aus, als sie mit der Realität des Krieges konfrontiert und von ihren Freunden und ihrer Familie getrennt wurden. Das Schicksal vieler Großstadtkinder hing davon ab, ob sie auf dem Wege der "Kinderlandverschickung" (KLV) aus den bombengefährdeten Städten aufs Land gelangen konnten.
Eine besondere Gruppe bildeten die "Ausgebombten", die ihre eigenen vier Wände verloren hatten und auf die Einquartierung bei Fremden angewiesen waren, denen dieses Schicksal erspart geblieben war. Die Zuweisung von Lebensmitteln folgte dem Prinzip der Nützlichkeitserwägung: Wer für die Gemeinschaft keine Leistung erbringen konnte, fiel aus der Normalversorgung heraus. Auch die sozialpolitischen Leistungen des Regimes wie die Ehestandsdarlehen und Familienbeihilfen folgten häufig rasseideologischen Kriterien.
Wie Nationalsozialismus und Krieg erlebt wurden, hing nicht zuletzt wesentlich davon ab, ob man in einer Großstadt lebte oder in der Provinz. Während das NS-Regime in den urbanen Zentren regelmäßig "präsent" und das Leben dort immer stärker
vom Bombenkrieg geprägt war – im zerbombten Stadtzentrum wiederum weit mehr als am Stadtrand – sah das auf dem Lande und in Kleinstädten anders aus. Den Nationalsozialisten gelang es nur in geringem Maße, die in einem ländlichen Raum wie Württemberg tief verwurzelten Strukturen und bäuerlichen Milieus neu zu prägen oder durch ihre Idealisierung der deutschen "Scholle" die Bauern über ihr Gefühl der Benachteiligung hinwegzutäuschen, das durch den Wehrdienst noch verstärkt wurde. Anders als in Industrieregionen wie dem Ruhrgebiet herrschte in vielen Kleinstädten teils bis 1945 friedensähnliche Beschaulichkeit. Regionale Unterschiede zeigten sich auch in der Frage, ob jemand während des Krieges oder bei Kriegsende seine Heimatstadt verlassen musste, ob diese in russische Hände fiel, ob sie friedlich übergeben oder am Ende zerstört wurde, weil der "Volkssturm" das Feuer auf die anrückenden Alliierten eröffnet hatte. Über Leben und Tod entschied oftmals die "Uk-Stellung": wer etwa als Fachmann für "unabkömmlich" (uk) erklärt wurde, musste erst einmal nicht an die Front, was die Überlebenschancen deutlich erhöhte. Dagegen waren die Tage derjenigen Männer gezählt, die seit dem Winter 1941/42 an die Ostfront geschickt wurden.
QuellentextEgon Bahr über den Beginn des Zweiten Weltkriegs
Egon Bahr, 93, wurde in Thüringen geboren und wuchs in Berlin auf. Der gelernte Journalist war ein enger Wegbegleiter Willy Brandts und ab 1972 Bundesminister für besondere Aufgaben.
"Ich versuchte, Mensch zu bleiben"
Herr Bahr, 1914 versammelten sich in den Großstädten begeisterte Menschen, um den Ersten Weltkrieg zu feiern. Als vor 75 Jahren, am 1. September 1939, der Zweite Weltkrieg begann, soll die Stimmung in Deutschland gedrückt gewesen sein. Stimmt das?
Ich war 17 Jahre alt und kann mich an keine Begeisterung erinnern.
Die Menschen waren in gedrückter Stimmung und wussten nicht, was vor ihnen steht. Um meine Situation zu erklären, muss ich zurückgreifen in das Jahr 1933. Da hat mein Vater gesagt: Wenn die Nazis kommen, kommt der Krieg. Und dann kam der Krieg gar nicht. Ganz im Gegenteil, als 1936 die Olympischen Spiele in Berlin stattfanden, fühlte sich mein Vater bedrückt, weil die ganze Welt kam und vor dem "Führer" und Reichskanzler Adolf Hitler einen Kotau machte. Und 1938 kam auch kein Krieg, da verhandelten die Nazis mit England und Frankreich über das Sudetenland in München und triumphierten. 1939 kam er – endlich, nach meinem damaligen Gefühl. Und ich fand ihn großartig. Denn nach zehn Tagen war Polen besiegt, dann wurden Norwegen und Dänemark blitzartig besetzt und 1940 war die Wehrmacht in der Lage, innerhalb von sechs Wochen Frankreich zu schlagen. Was das Kaiserreich nie geschafft hatte. Das empfand ich als imposant. Nicht ohne gleichzeitig gedacht zu haben, weil ich eine jüdische Großmutter hatte: Wenn wir gewinnen, ist es das Ende meiner Familie, mich eingeschlossen.
Das Wetter soll an diesem 1. September in Berlin überaus sonnig und warm gewesen sein. Eigentlich Friedensklima, oder?
Ich weiß noch genau, wie erstaunt ich war. Die Leute saßen in den Konditoreien, vor Cafés oder in Biergärten, fraßen Torten, vergnügten sich abends im Theater, in den Kinos oder Konzerten. Aber ich hatte gedacht, wenn der Krieg beginnt, kommen feindliche Flieger und es passiert Schreckliches. Von dem Abdunkeln der Fenster abgesehen, passierte überhaupt nichts Schreckliches. So hatte ich mir Krieg nicht vorgestellt. Das Leben ging einfach weiter.
Hitler sagte im Reichstag: "Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen", und im Sender Gleiwitz inszenierte die SS einen angeblichen polnischen Überfall. Haben Sie die Propagandalügen von einem deutschen Verteidigungskrieg geglaubt?
Nein, in keiner Minute. Gleiwitz habe ich für einen Trick gehalten. Dass es sich um einen deutschen Angriffskrieg handelte, war doch unbezweifelbar. Die Polen haben uns doch nicht angegriffen, um Gottes Willen. Die Polen waren militärisch schwach – das war schon damals offensichtlich – und gar nicht in der Lage, Deutschland herauszufordern. In Wirklichkeit war der deutsche Angriff der Anfang dessen, was mit dem deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrag ein paar Wochen vorher zwischen Ribbentrop und Molotow heimlich verabredet worden war: die Teilung Polens und die Eingliederung der baltischen Staaten.
Wann wurde Ihnen klar, dass es nicht bloß ein Angriffskrieg, sondern auch ein Vernichtungskrieg war?
Eine Ahnung davon habe ich bekommen, als ein Onkel von mir auf dem Anhalter Bahnhof einen halbstündigen Zwischenstopp machte. Er wollte sich verabschieden, weil er über Italien nach Schanghai emigrieren musste. Er kam aus dem KZ Oranienburg, er war kahl geschoren und ihm fehlten die Goldzähne, die ich an ihm immer so bewundert hatte. Er hat aber kein Wort gesagt von dem, was er erlebt hatte. Wir verabschiedeten uns ohne zu wissen, ob wir uns noch mal wiedersehen würden. Er hat überlebt und kam nach dem Krieg aus Schanghai zurück nach Berlin. Ein anderer Onkel hat versteckt in Berlin überlebt. Sogar die Großmutter hat überlebt, in einer Schrebergartenkolonie. Als sie einen Schlaganfall bekam, haben wir überlegt, ob wir sie im Falle des Todes im Garten verbuddeln müssten. Zum Glück besaßen wir gute Freunde im ostpreußischen Elbing, die haben uns 1944 berichtet, wann ein Evakuierungszug nach Berlin kommen würde. Da haben wir die Großmutter im Rollstuhl zum Bahnsteig auf der Friedrichstraße gebracht und sie den Schwestern der Inneren Mission übergeben, als ob sie mit dem Zug gekommen sei, der gerade eingefahren war. So gelangte sie ins Erzgebirge, sie erhielt sogar Papiere und kehrte nach der Kapitulation nach Berlin zurück. So hat unsere Familie vielfach Glück gehabt.
Wie gerieten Sie dann in den Krieg?
Als ich hörte, dass ich bald eingezogen würde, habe ich mich freiwillig zur Luftwaffe gemeldet. Schon damals wollte ich nicht gerne laufen. 1942, nach einer harten Grundausbildung habe ich auf ein Kommando gehört: Alle Abiturienten rechts raus. Wir wurden nach Rendsburg gebracht, man hat uns dort zu unserem Bedauern die Flieger-Spiegel abgetrennt und stattdessen die roten Flak-Spiegel aufgenäht. Wir marschierten durch die Stadt, um die Sehenswürdigkeiten kennenzulernen, auf der einen Seite war das die Drehbrücke, auf der anderen Seite der Puff. Damit hatte es sich. In einem Offiziersbewerberregiment in Zingst auf dem Darß wurde ich an verschiedenen Flak-Geschützen ausgebildet. Dann war ein Jahr vorbei, in München bekam ich Marschpapiere für Minsk. Doch da gefiel es dem Führer und Reichskanzler, ins unbesetzte Frankreich einzumarschieren. Zwanzig Fahnenjunker wurden gebraucht, wie bei Preußens üblich wurde die Liste der Namen von oben nach unten durchgegangen. "Ba" steht zum Glück ziemlich weit vorne. Das war meine Rettung, denn so kam ich nach Frankreich.
Aus: Tagesspiegel vom 2. September 2014, Interview mit Egon Bahr - die Fragen stellte Christian Schröder.
Deutlich wurden die Grenzen der Gemeinschaft und Gleichheit schließlich an einem zentralen Ort der Kriegsgesellschaft: im Bunker. Hier entschied sich, wie weit die Integrationskraft der Volksgemeinschaft reichte. Wer galt angesichts der Flächenbombardements der Alliierten für schutzwürdig? Und wie stand es im Keller um die Kriegsmoral? Der Luftschutz-Bunkerwart setzte die Luftschutzwarte ein, die den Zugang zum Bunker steuerten und für Ordnung sorgten. Seit 1942/43 war Männern zwischen 16 und 60 Jahren der Zutritt untersagt, sie sollten im Luftschutz kämpfen. Der Schutzraum blieb älteren Männern, Frauen und Kindern vorbehalten. Für Juden sollte es separate Räume geben; Kriegsgefangenen und "Ostarbeiter" war der Zutritt verboten – sie mussten sich ihre eigenen "Deckungsgräben" schaufeln. Zwangsarbeiter aus anderen Ländern durften mit in den Bunker, sofern noch Platz war.
So waren die Lasten des Krieges im Heimatgebiet von Anfang an unterschiedlich verteilt. Das Gleichheitsversprechen, das die Propagandaformel der "Volksgemeinschaft" gab, darf von Anfang an nicht für bare Münze genommen werden. Es verfing im Laufe des Krieges umso weniger, als der emotionale Kitt der militärischen Erfolge ausblieb. Auch die Vorstellung eines egalisierenden Sozialstaats, der durch Förderung und Umverteilung soziale Gerechtigkeit geschaffen habe, und sei es nur in der Mehrheitsgesellschaft, führt in die Irre. Spätestens seit der militärischen Niederlagen von Stalingrad im Winter 1942/43 nahmen die meisten Deutschen die nationalsozialistische Propaganda vom "Endsieg" kaum mehr ernst. Schließlich verblasste selbst der "Hitler-Mythos", der bis 1944/45 eine integrierende Wirkung entfaltet hatte. Als "Gröfaz" – als größter Feldherr aller Zeiten – wurde Hitler verspottet, der sich kaum noch in der Öffentlichkeit blicken ließ. Zwischen Apathie und Angst suchten die meisten Deutschen die letzten Kriegsmonate durchzustehen; zu massenhaftem Widerstand reichte es nicht. Auf den Fragmenten dieser "Zusammenbruchsgesellschaft" (Christoph Kleßmann) entwickelten sich nach dem Ende von Krieg und Diktatur und einer vierjährigen Besatzungsherrschaft zwei neue Staats- und Gesellschaftsordnungen. Für ihre soziale Integration und politische Legitimation waren die Bundesrepublik wie die DDR nicht zuletzt auf – unterschiedliche – Deutungen des nationalsozialistischen Krieges angewiesen.
Weiterführende Literatur
Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, Vierow bei Greifswald 1996.
Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg : Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, München 2003.
Richard Evans, Das Dritte Reich, Bd. 3: Krieg, München 2009.
Aly, Götz, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005.
Frank Bajohr und Michael Wildt (Hrsg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009.
Jörg Echternkamp, Im Kampf an der inneren und äußeren Front. Grünzüge der deutschen Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg, in: ders. (Hrsg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Ausbeutung, Deutung, Ausgrenzung, München 2005, S. 1-92 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg 9/2).
Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen, i.A. der Stiftung Deutsches Historisches Museum, Berlin, hrsg. von Hans-Ulrich Thamer und Simone Erpel, Dresden 2010.
Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, Stuttgart 1999
Rosemarie Killius, Frauen für die Front. Gespräche mit Wehrmachtshelferinnen. Mit einem Vorwort von Margarete Mitscherlich, Leipzig 2003
Wolfgang König, Volkswagen, Volksempfänger, Volksgemeinschaft. "Volksprodukte" im Dritten Reich. Vom Scheitern einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft, Paderborn 2004.
Nicole Kramer, Volksgenossinnen an der Heimatfront. Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung, Göttingen 2011.
Franka Maubach, Die Stellung halten. Kriegserfahrungen und Lebensgeschichten von Wehrmachthelferinnen, Göttingen 2009.
Jutta Mühlenberg, Das SS-Helferinnenkorps. Ausbildung, Einsatz und Entnazifizierung der weiblichen Angehörigen der Waffen-SS 1942-1949, Hamburg 2010.
Sven Oliver Müller, Nationalismus in der deutschen Kriegsgesellschaft 1939-1945, in: Jörg Echternkamp (Hrsg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Ausbeutung, Deutung, Ausgrenzung, München 2005, S. 9-92 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg 9/2).
Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront‘ und besetztes Europa, Darmstadt 2000.
Sybille Steinbacher, Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft, Göttingen 2007
Jill Stephenson, Hitler's Home Front. Württemberg under the Nazis, London 2006.
Dr. habil. Jörg Echternkamp, geboren 1963, ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Projektbereichsleiter am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), vormals Militärgeschichtliches Forschungsamt (MGFA), in Potsdam. Er hatte zahlreiche Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland; 2012/13 war er Inhaber der Alfred-Grosser-Gastprofessur am Institut d'Études Politiques (Sciences Po) in Paris. Echternkamp forscht und lehrt zur deutschen und europäischen Geschichte vom 18. zum 21. Jahrhundert; Schwerpunkte bilden derzeit die Gesellschafts- und Erinnerungsgeschichte der Weltkriege, der NS-Zeit und der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zu seinen Publikationen zählen: (Hg.) Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/1-2: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939-1945 (München 2004/2005; engl. Oxford 2008/2014), Die 101 wichtigsten Fragen: Der Zweite Weltkrieg, München 2010, Militär in Deutschland und Frankreich 1870-2010, Paderborn 2011 (hg. mit S. Martens), München 2012; Experience and Memory. The Second World War in Europe, Oxford 2010/2013 (hg. mit S. Martens); (Hg.), Wege aus dem Krieg im 19. und 20. Jahrhundert, Freiburg 2012; Die Bundesrepublik Deutschland 1945/49-1969, Paderborn 2013; Gefallenengedenken im globalen Vergleich (hg. mit M. Hettling), München 2013; Soldaten im Nachkrieg 1945-1955, München 2014.
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