Auf der multikulturellen Palette der israelischen Gesellschaft bilden russischsprachige Juden die gegenwärtig größte Minderheit. Durch eine massive Zuwanderung aus der früheren Sowjetunion seit Ende der 1980er Jahre ist ihr Anteil auf 20 Prozent der jüdischen und auf 14 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes gestiegen. Zur Auflösung der Fußnote[1] Die Große Russische Alijah, erst ermöglicht durch den Zusammenbruch des Sowjetstaates, bescherte Israel fast eine Million Neubürger. An nahezu jeder Straßenecke des Landes wird heute neben Hebräisch auch Russisch gesprochen.
Die "russischen Juden" – ein stark vereinfachender Terminus für alle jüdischen Immigranten aus der früheren UdSSR Zur Auflösung der Fußnote[2] - sind als Gesamtgruppe keineswegs homogen zusammengesetzt. 600.000 Personen kamen aus Russland und der Ukraine, weitere 200.000 waren zuvor als bucharische Juden in Zentralasien und als georgische Juden in der Kaukasusregion beheimatet. Vor allem im europäischen Teil der Sowjetunion lebten viele Juden in Mischehen, so dass sich unter den Immigranten mindestens 20 Prozent Familienangehörige befinden, die nicht jüdisch im Sinne der jüdischen Religionsvorschriften (Halacha Zur Auflösung der Fußnote[3]) sind.
Zuwanderung von Juden aus der früheren Sowjetunion nach Israel 1989-2007
Jahr | Anzahl |
---|---|
1989 | 12.721 |
1990 | 185.230 |
1991 | 147.839 |
1992 | 65.093 |
1993 | 66.145 |
1994 | 68.079 |
1995 | 64.848 |
1996 | 59.048 |
1997 | 54.621 |
1998 | 46.032 |
1999 | 66.847 |
2000 | 50.816 |
2001 | 33.600 |
2002 | 18.525 |
2003 | 12.423 |
2004 | 10.130 |
2005 | 9.431 |
2006 | 7.470 |
2007 | 6.502 |
Total | 985.400 |
Quelle: Central Bureau of Statistics (CBS) / Jewish Agency of Israel, 2008
Die überwiegende Mehrheit der Immigranten hat in der UdSSR in städtischen Zentren gewohnt und sucht in Israel vergleichbare Wohnbedingungen. Allerdings sind die russischen Juden in Jerusalem, Tel Aviv und Haifa - den eigentlichen Metropolen des Landes - bisher unterrepräsentiert. In mittleren und kleineren Städten wie Ashdod, Carmel oder Ma´alot stellen sie dagegen mehr als 30 Prozent der Einwohnerschaft und bekleiden bereits wichtige kommunale Ämter. Zur Auflösung der Fußnote[4] In die von Israel besetzte Westbank siedelte nur eine verschwindend geringe Zahl. Zur Auflösung der Fußnote[5]
Wirkung auf Wirtschaft und Kunst
Ein besonders hervorstechendes Merkmal der russischsprachigen Juden ist ihr extrem hoher Bildungsgrad – rund 60 Prozent verfügen über einen Hochschulabschluss. Am stärksten vertreten sind die Berufsgruppen der Ingenieure (75.000) und Lehrer (40.000). Zur Auflösung der Fußnote[6] Daneben sind rund 15.000 Ärzte sowie 25.000 Krankenschwestern und -pfleger Zur Auflösung der Fußnote[7] eingewandert, weshalb Israel heute über eines der dichtesten medizinischen Versorgungssysteme weltweit verfügt. Die bisher größten Wirkungen erzielte die Einwanderung indes in der Ökonomie und in der Wissenschaft. So kam es Mitte der 1990er Jahre zu einer ersten Konjunkturwelle mit jährlichem Wirtschaftswachstum um die 6 Prozent. Gleichzeitig vervielfachte sich die Summe der angemeldeten Patente und verdoppelte sich die Zahl zitierter israelischer Forscher in internationalen Fachzeitschriften. Zur Auflösung der Fußnote[8] 13.000 russische Wissenschaftler sorgten für einen beispiellosen Innovationsschub in Forschungsdisziplinen wie Physik, Mathematik, Maschinenbau, Informatik, Biochemie und Neurophysiologie. Auch das israelische Kunst- und Kulturleben erfuhr während der 1990er Jahre enorme Bereicherungen, hierbei vor allem die Klassische Musik, aber auch Theater, Ballett und Literatur. Mit der einheimischen Kunstszene gibt es kreative Überschneidungen. Berühmtestes Beispiel hierfür ist das von Lena Kreindlin und Yevgeny Arye geleitete Theater "Gesher" ("Brücke") in Tel Aviv, welches schon jetzt als das beste des Landes gilt und sein in- und ausländisches Publikum wechselweise mit russischen und hebräischen Vorstellungen begeistert (www.gesher-theatre.co.il). Auch im israelischen Alltagsleben setzen die Neuzuwanderer prägende Akzente, sei es durch Mode, Straßenmusik oder russische Küche. Israel wird europäischer.
Integration ja, Assimilation nein
Zu Beginn der 1990er Jahre galt den russischen Juden ein herzliches Willkommen, bedeutete ihr Zuzug doch eine gewaltige demographische und strategische Stärkung für das kleine Land im Nahen Osten. Überraschung löste allerdings aus, dass die Immigranten kaum Neigung zeigten, sich in den jüdischen "Schmelztiegel der Nationen" assimilieren zu wollen. Wohl infolge negativer Erfahrungen im früheren Sowjetstaat wehrten und wehren sich die russischen Juden gegen jede Form von politischer oder religiöser Vereinnahmung. So blieben die vom israelischen Oberrabbinat organisierten Kurse zum Religionsübertritt für nichtjüdische Familienangehörige fast gänzlich wirkungslos. Viele russische Juden pflegen zudem einen Lebensstil, der auch in der Öffentlichkeit mit den Vorstellungen und Traditionen anderer Bevölkerungsgruppen – wie denen der orientalischen Juden – deutlich kollidiert. Gegenseitige Klischeebildungen ("ungläubige Russen", "ungebildete Levante") und räumliche Abgrenzungen sind die Folge, zu einem mancherorts befürchteten "Kulturkampf" ist es dagegen nicht gekommen.
Erfolge in der Politik
Bis heute befürwortet die Mehrheit der Israelis kontinuierliche Einwanderung. Mitte der 1990er Jahre wuchsen aber gegenüber den russischen Juden Konkurrenzängste, Vorurteile und Stigmatisierungstendenzen, was durch eine sensationsgierige Boulevardpresse noch angeheizt wurde. Spektakuläre Berichte über die "russische Wirtschaftsmafia", "russische Prostituierte" und "Alkoholmissbrauch" zirkulierten nun gehäuft und dürften ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, dass sich die Immigranten über eigene organisatorische Strukturen zu verteidigen begannen. So war es keine wirkliche Überraschung, dass mit "Israel ba Alijah" ("Israel in der Einwanderung") und "Israel Beitanu" ("Unser Haus Israel") gleich zwei "russische" Parteien noch während der 1990er Jahre den Sprung ins israelische Parlament – die Knesset – schafften und sich in den Folgejahren auch an verschiedenen Regierungskoalitionen beteiligten. Aus dieser Position der Stärke heraus konnte beispielsweise mehr für eine erfolgreiche Integration am Arbeitsmarkt und eine effizientere Förderung von zugewanderten Wissenschaftlern getan werden.
Die Partei "Israel ba Alijah", 1996 gegründet von dem legendären Dissidenten Natan (Anatoly) Sharansky, hatte ihren Zenit allerdings schon bei den Wahlen 2003 überschritten und spielt heute nur noch auf kommunaler Ebene eine Rolle. Deutlich erfolgreicher entwickelte sich die 1999 gegründete Partei "Israel Beitanu", die heute zum Block "Nationale Union" gehört und deren Vorsitzender Avigdor Lieberman mittlerweile auch von nicht-russischen Israelis gewählt wird.
Insgesamt gelten die russischen Juden als unideologische und pragmatische Wähler, verschiedene empirische Studien attestierten aber viel Sympathie für eine rechtskonservative Innenpolitik. So befürwortet ein Großteil der Immigranten die Liberalisierung der israelischen Wirtschaft und hegt andererseits eine tiefe Abneigung gegenüber jedweden sozialistischen und egalitären Gesellschaftskonzepten. Im israelisch-palästinensischen Dauerkonflikt vertreten die meisten russischen Juden relativ harte Positionen und sprechen sich – besonders seit der Zweiten Palästinensischen Intifada - gegen größere territoriale Kompromisse aus. Zur Auflösung der Fußnote[9] Im Kontrast hierzu engagiert sich eine Minderheit von russisch-jüdischen Intellektuellen nach wie vor in israelischen Friedensgruppen und -initiativen.
Eigene Medien und Eliten
Viele russische Juden in Israel legen Wert auf kulturellen Zusammenhalt - oft auch dann noch, wenn die individuelle Integration längst geglückt ist. Rund 500 russische Interessenverbände und Dachorganisationen wurden zu Beginn des neuen Milleniums gezählt Zur Auflösung der Fußnote[10] - darunter solche von Wissenschaftlern, Unternehmern, Künstlern, Pädagogen und Kriegsveteranen. In fast jeder israelischen Stadt finden sich heute russische Bibliotheken, Kulturklubs und Selbsthilfeorganisationen. Für die überregionale Kommunikation sorgt ein starker russischsprachiger Mediensektor mit Dutzenden von Wochen- und Monatszeitungen sowie Literaturjournalen. Die Tageszeitung "Vesty" wird von rund 65% der Immigranten gelesen Zur Auflösung der Fußnote[11] Ein eigener Radiosender ("REKA"), ein russischsprachiger Fernsehsender im Land ("Israel plus") und Kabelfernsehen aus Moskau und New York (unter anderem "rtvi") komplettierten die mediale Versorgung und garantieren zugleich Internationalität und Transnationalität.
In den russischsprachigen Medien kommen regelmäßig auch Intellektuelle und Wissenschaftler zu Wort, die schon während der Sowjetzeit als Teil der dortigen "Intelligenzija" betrachtet wurden. Ein Teil von ihnen - wie beispielsweise der Physiker und Schriftsteller Alexander Voronel – war bereits Anfang der 1970er Jahre nach Israel emigriert. Gerade in den Kreisen der "Intelligenzija" wird laut darüber nachgedacht, nicht nur russisches Kultur- und Bildungserbe in Israel weiter zu pflegen, sondern den Jüdischen Staat auch nach ganz eigenen Vorstellungen mitzugestalten und zu verändern. So plädieren bekannte russisch-jüdische Erziehungswissenschaftler für eine umfassende Reform des israelischen Bildungssystems und haben eigene Schulmodelle entwickelt, nach denen in einzelnen Fällen bereits mit staatlicher Genehmigung unterrichtet wird. Aber auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – wie etwa den Geisteswissenschaften - bestimmen russisch-jüdische Intellektuelle zunehmend den öffentlichen Diskurs mit. Die wachsende Teilhabe der russischen Juden an den gesamtgesellschaftlichen Prozessen in Israel scheint der beste Indikator dafür zu sein, dass ein großer Teil von ihnen seinen Platz in Israel gefunden hat. Dies schließt enge Rückbindungen an die frühere Heimat und eine weiterhin tiefe Verwurzelung in der russischen Sprache und Kultur offensichtlich nicht aus. Bis zum Jahre 2001 hatten nur rund 6 Prozent der eingewanderten russischen Juden Israel wieder verlassen. Zur Auflösung der Fußnote[12] Diese im internationalen Vergleich sehr niedrige Re-Migrations-Rate belegt eine beachtliche Integrationsleistung des Jüdischen Staates in kürzester Zeit, an der sich andere Einwanderungsländer durchaus orientieren können.