Lieder, Tänze, einende Slogans: Die Proteste in Iran wurden begleitet von einer Vielzahl an (Kunst-)Aktionen, so die deutsch-iranische Künstlerin Parastou Forouhar. Sie dienten auch dazu, eine gemeinsame Sprache zu finden – gegen das Regime.
Hinweis
Mit der interdisziplinären Ringvorlesung "Frauen, Leben, Freiheit – emanzipatorische Potentiale" bot die Universität zu Köln von April bis Juli 2023 verschiedene Veranstaltungen an. Anlass waren die Proteste nach dem Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini im September 2022 im Gewahrsam der iranischen Sittenpolizei. Bei den Vorlesungen und Diskussionsrunden ging es um die aktuelle Situation der Menschen in Iran sowie den Blick zurück in der Geschichte. Die Ringvorlesung wurde konzipiert von Katajun Amirpur, Professorin am Institut für Sprachen und Kulturen der islamisch geprägten Welt. Das Interview entstand begleitend zur Ringvorlesung.
bpb.de: Am 16. September jährt sich zum ersten Mal der gewaltsame Tod von Jina Mahsa Amini. Mit ihrem Tod begann eine Welle des Protests in Iran, wie sie das Land seit der Revolution von 1979 nicht erlebt hat. Was erwarten Sie für Mitte September in Iran?
Parastou Forouhar: Die Situation ist undurchschaubar. Ich weiß nicht, ob wir erneut mit einer großen Welle des Protests rechnen können oder ob die Leute denken: „Ich kann mich nicht weiter dieser Gewalt stellen, ich schaffe das nicht.“ Diese Gewalt, die auf der Gesellschaft lastet, ist sehr, sehr groß.
bpb.de: Wie zeigt sich diese Gewalt?
Parastou Forouhar: Das Regime hat besonders im Laufe der letzten Wochen und Monate auf eine sehr perfide und manchmal wirklich dreckige Art und Weise auf die Proteste reagiert. Viele Studierende wurden von den Universitäten ausgeschlossen; es wurden Geldstrafen verhängt. Frauen, die zum Beispiel ihren Schleier nicht tragen, wurden zu öffentlichen Diensten verurteilt – unter anderem zur Arbeit in Leichenhallen. Auf Verstöße gegen die Kleiderordnung soll es bald sogar Haftstrafen geben. Es gibt Berichte, dass Gefangene Drogen und Medikamente gegen ihren Willen bekommen.
Jetzt werden die Familienangehörigen derer verhaftet, die während der Proteste getötet wurden. Auch der Onkel von Jina Mahsa Amini wurde verhaftet. Ebenso prominente Oppositionelle sowie Menschenrechtsaktivisten. Das Regime will verhindern, dass es Mitte September zu Demonstrationen kommt.
Diese Gewalt durch das Regime und die Schikanen haben ein Ausmaß angenommen, das sich tatsächlich auf die Körperlichkeit der Gesellschaft auswirkt. Das merkt man an den Reaktionen: Die Menschen sind am Rande ihrer Kräfte. Sie sind total ratlos. Zugleich sind sie sehr, sehr wütend. Der Bruch mit dem Regime ist komplett.
bpb.de: Was hat letztlich zu diesem Bruch geführt?
Parastou Forouhar: Seit Jahren steckt Iran in einer Interner Link: Wirtschaftskrise. Die Menschen sind kontinuierlich in die Armut getrieben worden. Auch deshalb sind letztes Jahr so viele Menschen so mutig und so lebensbejahend auf die Straße gegangen. Sie waren bestärkt von der Hoffnung, eine bessere Zukunft für sich zu gestalten. Aber nicht nur hat das Regime ihre Stimme nicht gehört, viel schlimmer war die Reaktion aus Gewalt und Unterdrückung. Die Enttäuschung darüber, verbunden mit der wirtschaftlichen Last, fühlt sich wie eine Falle an. Und dieses Gefühl, in der Falle zu sitzen, ist kaum noch auszuhalten – das ist es, was ich aus Iran höre.
bpb.de: Wenn dieser Bruch zwischen Gesellschaft und Regime komplett ist, was bedeutet das für die Zukunft?
Parastou Forouhar: Irans Gesellschaft hat in der Vergangenheit dem Regime ständig Möglichkeit geboten: Die Menschen sind zur Wahl gegangen. Sie haben ihre Hoffnungen an bestimmte politische Richtungen innerhalb des Systems geknüpft, dass sich etwas ändert. Das ist alles gescheitert. Niemand hat mehr einen Schimmer der Hoffnung auf das System. Und das ist eine neue Qualität. Dieses Regime ist wie ein Untoter. Das einzige Moment, das es hält, ist Gewalt; es ist nur Gewalt.
Was nun passiert, weiß ich nicht.
bpb.de: Reden wir nochmal über die Proteste: Es war zu erwarten, dass das Regime mit Repression und Gewalt reagiert. Trotzdem gab es sie – mit dabei viele mutige Frauen, genauso Männer. Die Menschen kamen aus allen sozialen Schichten. Auch viele etablierte Künstlerinnen und Künstler beteiligten sich an den Protesten, ebenso Studierende. Sie selbst sind Künstlerin und mit den Kulturschaffenden in Iran eng vernetzt. Wie wichtig war dieser kulturelle Protest?
Parastou Forouhar: Diesmal gab es wirkliche eine große, kraftvolle Welle an kulturellen, performativen Aktionen – also Kunst-Aktionen –, die die Protestierenden gegen das Regime hervorgebracht hat. Das war unglaublich. Dabei wurden verschiedene Kunstsparten genutzt. Es gab zum Beispiel viele Lieder und Hymnen, die extra dafür geschaffen wurden. Ich war im November 2022 in Teheran und ich konnte ständig überall diese Lieder hören. Es war wie ein Geräuschteppich, der sich über die Stadt legte. Die Menschen wollten sich die Stadt quasi zurückerobern.
Die verschiedenen Aktionen wurden gefilmt und direkt über soziale Medien oder oppositionelle Sender wieder eingespeist in die Bewegung. Das lief alles Hand in Hand. So etwas hatte ich bis zu diesem Aufstand in Iran nie erlebt. Auch nicht, dass sich so viele Kulturschaffende so solidarisch zeigten. Ich denke, dass das definitiv auch mit dieser lebensbejahenden und auch feministischen Komponente des Aufstands zu tun hat. Die zentrale Parole „Frau, Leben, Freiheit“ hat eine enorme Mobilisierung durch unterschiedliche gesellschaftliche Schichten geschaffen. Die Hälfte der Bevölkerung sind Frauen. Ich denke, dass die große Mehrheit von ihnen nicht einverstanden ist mit den Methoden der Islamischen Republik, die Frauen zu bevormunden und als Menschen zweiter Klasse zu behandeln.
bpb.de: Die Proteste und die Solidarität gab es nicht allein in den Städten, sondern bis in ländliche Regionen hinein.
Parastou Forouhar: Ja, rund 200 kleinere Städte haben sich dem Protest angeschlossen; teils Ortschaften, die nur aus wenigen Straßen bestehen. Die Proteste fanden auch in ganz unterschiedlichen Regionen des Landes statt. Zum Beispiel in der Provinz Belutschistan, im Südosten des Iran. Ich wusste nicht, dass dort der traditionelle Tanz eine wichtige Rolle spielt. In Videos sieht man junge Männer, die in der Menge tanzen und ihre lebensbejahende Haltung in performativen Tanzmomenten zum Ausdruck bringen. Auch in Kurdistan, im Nordwesten, kommt es immer wieder zu Protesten. Jina Masha Amini kam aus der Provinz Kurdistan. Als sie begraben wurde, auf dem Friedhof in Saqes, gab es den ersten großen Protestmarsch. Dieser Marsch hat viele im Land inspiriert.
Die Menschen in den verschiedenen Provinzen haben sich nicht nur den Protesten angeschlossen, sondern sind selbst aktiv geworden. Es gab verschiedene Parolen, die dieses Miteinander ausgedrückt haben wie zum Beispiel: „Von Belutschistan bis Kurdistan, wir alle gemeinsam.“ Auch das war neu: diese Solidarität zwischen Stadt und Land, zwischen unterschiedlichen Ethnien sowie Gebieten. Man hat diese Verbundenheit gespürt. Daher denke ich, die Proteste hatten wirklich etwas Progressives und Neues. Was daraus wird, müssen wir sehen.
Bpb.de: Welche weiteren Kunst-Aktionen als Protest gab es?
Parastou Forouhar: Es gab viele kulturelle Elemente, die die Menschen neu für sich entdeckt und auch eingesetzt haben, um quasi eine gemeinsame Sprache zu finden.
Dazu gehört zum Beispiel diese alte Tradition, sich die Haare zu schneiden als Zeichen der Trauer und auch des Protests. Plötzlich wurde es zu einem Symbol und solidarischen Akt – bis ins Ausland. Bei vielen solcher Aktionen wurde auch ein säkularer Moment deutlich. Hunderte von Menschen, besonders junge Menschen, wurden im Zuge der Repressionswelle der Regierung getötet. Die Trauerzeremonien für sie waren anders, als man das kennt. Da wurde geklatscht und getanzt. Es gab Torten. Alles Religiöse, was mit der Regierung verbunden ist, lehnt man ab. Auch wurden häufig epische Gedichte rezitiert. Zum Beispiel wurde aus dem persischen Epos „Shahnameh“ – dem Buch der Könige – gelesen. Früher hätte man aus dem Koran gelesen.
bpb.de: Wenn die deutsche Politik und die deutschen Medien auf Iran blicken – zum Beispiel auf die Proteste –, was wird häufig über- oder auch unterschätzt?
Parastou Forouhar: Man hat bestimmte Thesen im Kopf mit langer Gültigkeit. Aber die iranische Gesellschaft ist sehr oft viel weiter, als es diese Thesen annehmen. Wenn man zum Beispiel zurückblickt auf die Rohani-Zeit, da wurde in deutschsprachigen Medien ständig von Reformen gesprochen. Dabei hat in Iran niemand mehr daran geglaubt.
Insgesamt schaut man zu wenig auf die Gesellschaft. Natürlich macht es die Islamische Republik auch sehr schwer, weil Korrespondenten kaum direkt aus Iran berichten dürfen. Es gibt keine Möglichkeit, Irans Gesellschaft direkt zu beobachten. Deswegen beschreiben Analysen oft Vergangenes, anstatt aktuell zu sein. Auch scheinen sich bestimmte Denkrichtungen, bestimmte Analysen über Jahre hinweg irgendwie etabliert zu haben, ohne sie kritisch zu hinterfragen. Was ich immer wieder vermisse ist, dass man einfach genauer hinschaut.
bpb.de: Sie sind hier in Deutschland eine wichtige Stimme für Irans Oppositionelle. Was wünschen Sie sich von der deutschen Öffentlichkeit – besonders im Hinblick auf den Jahrestag der Ermordung von Jina Mahsa Amini?
Parastou Forouhar: Die Unterstützung im letzten Jahr war erstaunlich, und es gab einen Unterschied zur Unterstützung davor. Natürlich gab es solidarische Stimmen und Aktionen auch während der Grünen Bewegung oder auch 2019, als es Proteste gab. Aber diesmal war es nicht nur Unterstützung, sondern die Zivilgesellschaften in demokratischen Ländern konnten sich mit der Bewegung in Iran identifizieren. Man hat auch nicht mehr so eine Hierarchie gespürt: die eine Seite unterstützt von außen und ist die Gönnerhafte. Dieses Mal war es ein solidarisches Miteinander. Im Ausland war man begeistert von der Bewegung in Iran; sie hat die Menschen mitgerissen. Das hat man gespürt. Ich fand großartig, wie viel Solidarität in den unterschiedlichen Städten weltweit da war.
Die Bewegung in Iran ist nun bis auf die Knochen verletzt. Die Menschen, die die Proteste vorangetrieben haben, sind in Bedrängnis. Sie sitzen im Gefängnis, sind an ihren Körpern verletzt, haben Angst. Diese Menschen sind nicht mehr so sichtbar wie letztes Jahr – und das wäre nun der Moment, sich ihnen und ihrer Ideale zu besinnen. Ihnen auch hier in Deutschland wieder eine Öffentlichkeit zu geben. Das wäre mein großer Wunsch.
Parastou Forouhar ist eine iranische Künstlerin und Aktivistin. Sie ist weltweit bekannt für ihre Installationen, Grafiken und Bilder. Seit 1991 lebt sie im Exil in Deutschland. Ihre Eltern waren die Oppositionellen Dariush und Parwaneh Forouhar, die im November 1998 in ihrem Haus vom iranischen Geheimdienst ermordet wurden. Parastou Forouhar kehrt regelmäßig im November zurück nach Iran, um ihren Eltern zu gedenken und an das Verbrechen zu erinnern.
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